Weich gebettete Identitätsprobleme

von Esther Boldt

Frankfurt am Main, 19. September 2008. Schillers Wallenstein, Winston Churchill, die Rolling Stones und Buster Keaton: Sie alle werden heranzitiert, wenn der Feldherr Amphitryon zum Fremden im eigenen Haus wird. Kleist beutelt seinen Kriegsherren nach Kräften, stellt seine Identität von den Füßen auf den Kopf und für einen Tag auch seinen Glauben an Welt, Weib und Leben. Im Schauspiel Frankfurt eröffnet Florian Fiedler das Verwirrspiel mit starken Assoziationen, die quer durch Kulturgeschichte, Politik und Popkultur führen.

Diese schrägen, bildgewaltigen Aufrisse, mit denen er Stoffe versieht, sind Fiedlers Stärke – und seine Schwäche, wo sie beliebig werden. Nach zehn Minuten Fiedler'schem Kleist steckt man über beide Ohren in einem chinesischen Schilderwald: Jede Menge Zeichen und keine Ahnung, was sie bedeuten und in welche Richtung sie weisen.

Eine Wand aus Schaumstoffmatten ragt in den Bühnenhimmel, zwei Musiker spielen Schillers "Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd", mit dem der Feldherr Wallenstein in die Schlacht zog. Prompt kommt ein Feldherr geschritten, er trägt die Maske des gemeinen Politikers – schwarzen Anzug, helles Hemd, gesetzter Gang und ebensolche Rede. Er will die Thebaner in Kriegslaune bringen und räubert hierfür aus Churchills "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede von 1940. Dann flackert das Licht und Trommelwirbel künden von Kanonfeuer und Fliegerlärm, der in "Paint it Black" von den Rolling Stones überblendet. Amphitryon kniet nieder und spielt mit seiner Knarre Russisches Roulette.

Quer durch die Kriege

Wo sind wir? Erster Weltkrieg? Zweiter? Vietnam? Kein Schuss löst sich. Amphitryon ab. Startschuss für Kleist. Und für Sebastian Schindeggers Sosias, der als anarchischer Körperkomiker à la Buster Keaton über die Bühne schleicht, bei Schritt und Tritt pingt und klackert es, denn die Musiker illustrieren seine Bewegungen, als sei er ein Stummfilmheld der 1920er Jahre.

Da sitzt man also, vergraben im Reich der Zeichen und hat noch immer nichts zum dechiffrieren an die Hand bekommen. Braucht es aber auch gar nicht mehr, denn Fiedler legt eine Vollbremsung ein und macht ganz anders weiter. Nach der Rockoper mit Stummfilmversatzstücken kommt das Kammerspiel mit Coverbandbegleitung. Schluss mit dem wildwüchsig-sprühenden Ideenfeuerwerk, dessen bunte Raketen in so viele Richtungen flogen – eine davon hätte man schon einschlagen können. Jetzt wird nicht mehr schwarzgemalt, allenfalls grau, denn die Inszenierung versandet zwei Stunden lang in Unentschiedenheit.

Ich ist ein anderer

Und dabei sind die Vorrausetzungen für einen guten Abend mehr als günstig: Stadelmanns Amphitryon und Schindeggers Sosias sind ein geradezu kongeniales Paar, das da erfolgreich und glorienumströmt aus dem Krieg heimkehrt, nur um festzustellen, dass sie schon da waren. Jupiter und Merkur haben sich ihr Aussehen und ihre Privilegien angeeignet. Und plötzlich bietet ihre Heimat keinen Platz mehr für sie.

Rimbauds "Ich ist ein Anderer" passt so Faust-auf-Auge-genau aufs Kleistsche Lustspiel, auf seine hochnotkomischen, erschütternden Identitätswirren, die heute noch oder wieder so frappierend aktuell erscheinen – doch für all dies findet Fiedler keinen Zugriff. Alles bleibt grau, und ein bisschen schmerzt es einen um dieser grandios treffenden Worte, die da vermanscht werden.

Sanftes Versinken

Sebastian Schindegger ist ein herrlich komischer, treuer und knochenehrlicher Sosias, Aljoscha Stadelmann ein massig voranstürmender, herrsch- und rachsüchtiger Amphitryon. Des einen Schicksal spiegelt sich im andern, und als Sosias dies anmerkt, schauen sie sich waidwund an und ähneln sich für einen Moment in ihrer Identitätslosigkeit.

Den Jupiter spielt Stadelmann als lasziven Gott von katzenhafter Sanftheit, der sich nach Liebe verzehrt und erst voll überzeugtem Stolz, dann mit wachsender Verzweiflung Alkmene (Sabine Waibel) abzutrotzen versucht, dass diese Nacht Amphitryon aus ihrem Herz radiert hat. Wie gesagt: Die Umstände sind gut, der Wind steht günstig, allein, die Richtung fehlt. So versinkt der Abend sanft in der überdimensionierten Schaumstoffmatratze, zu der die Mauer am Ende gewichtig umkippt und die Amphitryons Heim wohl zum Lustlager machen soll, auf dem allerdings nur noch das Stück flachgelegt wird.



Amphitryon
von Heinrich von Kleist
Regie: Florian Fiedler, Bühne: Maria-Alice Bahra, Kostüme: Irene Ip, Musik: Martin Engelbach, Frank Wulff. Mit: Aljoscha Stadelmann, Sebastian Schindegger, Christian Kuchenbuch, Sabine Waibel, Julia Penner.

www.schauspielfrankfurt.de


Mehr Nachtkritiken über Florian Fiedler lesen: Im Dezember 2007 inszenierte er am Schauspiel Frankfurt Ibsens Volksfeind, im Mai 2007 Kabale und Liebe am Berliner Maxim Gorki Theater, und im Mai 2008 brachte er in Köln Christoph Nußbaumeders Mörder-Variationen zur Uraufführung.

Kritikenrundschau

Als "immer noch jungen, aber mittlerweile zu einem Könner gereiften Regisseur" bezeichnet Peter Michalzik Florian Fiedler in der Frankfurter Rundschau (22.9.), doch auch für ihn müsse "Amphitryon" ein ungreifbares Stück bleiben. Und es brauche "schon eine Menge Mut, dieses schwebende Stück in Frankfurts Großem Haus aufzuführen, in dem auch größere Dramen schon ohne weiteres weggesuppt sind." Fiedler und seine Bühnenbildnerin Maria-Alice Bahra aber "meistern das bewundernswert". Wie man wisse, sei vor allem die Rolle der Alkmene kaum zu spielen: "Sabine Waibel gibt sich hin und behält dabei doch eine Blässe, die ihr gut zu Gesicht steht." Diese Aufführung gehöre jedoch Aljoscha Stadelmann, der sowohl Jupiter als auch Amphitryon spielt: Er entledige "sich seiner Aufgabe dabei mit jener überlegenen Lässigkeit, die manchmal wie Arroganz aussieht."

In der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen (22.9.) merkt Michael Hierholzer beifällig an, dass Florian Fiedler die Sprache Kleists "in vollen Zügen auskoste". Und "im Einklang mit ihm das so tiefernste wie urkomische Spiel von Selbstverlust und Ichfindung" entwerfe. Der "exzellent agierende Aljoscha Stadelmann" changiere "geradezu beunruhigend zwischen dem mürrischen Feldherrn und dem olympisch-heiteren Göttervater". Die Inszenierung spitze Kleist existenzialistisch zu, Fiedler setze dabei "auf ein Schauspielertheater, das in der Komödie das Tragische zu entfalten in der Lage ist, ohne auch nur den Hauch eines falschen Pathos über die Bühne wehen zu lassen."

In mancher Hinsicht reduziere Fiedler Kleist "auf eine Kammerspielvariante", schreibt Marcus Hladek in der Frankfurter Neuen Presse (22.9.). Und es könne sein, "dass die Inszenierung ob ihrer Freiheiten ab und an ein wenig schwimmt. Doch lockern diese das eng verzahnte Lust-Spiel zugleich auf." An guten Regieeinfällen habe es Fiedler noch nie gefehlt. Sabine Waibel als Alkmene spiele "wunderbar stark, zerbrechlich und bezaubernd." Wie Aljoscha Stadelmann gebe auch Sebastian Schindegger als Sosias "eine seiner tollsten Darbietungen am Schauspiel".

 

 

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