Die Hölle, das ist die Gegenwart
von Alexander Jürgs
Frankfurt, 30. November 2019. Für solch einen Haarschmuck aus Federn ist der Hölleneingang dann doch zu niedrig. Volker Hintermeier hat das finstere Reich als tunnelartiges Metallgerüst auf die Vorbühne des Frankfurter Schauspiels gestellt, Nebel drauf, alles schön düster, zwischendurch blinkendes Neonlicht. Anna Kubin als Estelle Rigault muss sich ordentlich abmühen, um die Form zu wahren und den Kopfschmuck nicht zu gefährden, während sie unter den metallenen Streben hindurch balanciert. Das ist witzig anzusehen. Wie sie sich vorbeugt, zurückbeugt und skeptisch dreinschaut beim Versuch, das Ganze halbwegs elegant über die Bühne zu bringen. "Mir ist komisch", seufzt sie.
Und sie ist tot, gestorben an einer Lungenentzündung. Davor hat sie das Kind, das sie mit ihrem Geliebten hatte, im See ertränkt, woraufhin er sich das Leben nahm. Tot sind aber auch Joseph Garcin, der Journalist und Deserteur, der mit sich hadert, weil er seine Frau so quälte, und das Fräulein Inès Serrano, die starb, weil ihre Geliebte das Gas aufgedreht hatte. In der Hölle krachen diese drei – und ein schelmischer Diener, gespielt von der wunderbaren Heidi Ecks – nun aufeinander und kommen auch nicht mehr voneinander los.
Philosophie als Theater
Im von der Wehrmacht besetzten Paris, im Hotelzimmer von Simone de Beauvoir, hat Jean Paul Sartre diese Versuchsordnung 1944 ersonnen. Noch im gleichen Jahr wurde "Huis clos" (deutscher Titel: "Geschlossene Gesellschaft") uraufgeführt – ohne Albert Camus, der eigentlich den Garcin hätte spielen sollen, sich mit dem Philosophen aber kurz zuvor überworfen hatte. "Geschlossene Gesellschaft" wird in der Regel als Theaterwerdung von Sartres existenzialistischem Denken beschrieben, auf den Spielplänen steht es nicht mehr all zu häufig. Einen Satz aus dem Stück aber kennt jeder: "Die Hölle, das sind die anderen."
Cut-up
Was macht Johanna Wehner, Jahrgang 1981, 2017 mit einem "Faust" für ihre Kasseler "Orestie" ausgezeichnet, mit diesem Stoff im Schauspiel Frankfurt? Vor allem nimmt sie ihn auseinander, zerhackstückt ihn, modelliert ihn um. Man stellt sich das ein bisschen vor wie bei William Burroughs, der seine Texte mit der Schere zerschnitt und neu zusammensetzte. So schafft die Regisseurin eine Fassung mit vielen Wiederholungen (man könnte auch sagen: Loops) und ganz eigenem Sprachrhythmus. Das hat dann oft etwas Sprechgesanghaftes, wenn die Darsteller sich gegenseitig ins Wort fallen, den Satz des anderen zu Ende sprechen oder konterkarieren. "Das Eis ist gebrochen", "Was für eine Hitze", "So ist das", "Draußen, draußen, draußen", erklingen die Textfetzen im Stakkato – ein Sound mit Sogwirkung.
Die Inszenierung hat etwas sehr Künstliches, die Bewegungen der Schauspieler erscheinen exaltiert, abgehackt, puppenhaft. Getanzt wird auch – zu kurzen, hypnotischen Klavierschnipseln, die Felix Johannes Lange geschrieben hat. Dazu tragen die Darsteller wuchtige, schön anzusehende, von Ellen Hofmann entworfene Kostüme zwischen Punk und Rokoko, zwischen Westwood und Versace: weite Kragen, Rüschen, Turmfrisuren, das ausladende Kleid der Estelle. Das sitzt alles sehr perfekt, das hat Fantasie.
Im Hamsterrad
Die Situation zwischen den drei in der Hölle Gefangenen spitzt sich zu, je bewusster ihnen wird, dass sie hier nicht mehr heil herauskommen, desto mehr. Die Stimmen werden lauter, die Blicke abschätziger, die Nerven liegen blank. Wehner dürfte damit die Gegenwart meinen: Die Hölle, das ist in diesem Fall der Dauerstress des Alltags, die permanente Angespanntheit im Neoliberalismus, der nicht unternommene Versuch, daraus auszubrechen. Sartres existenzialistisches Stück erscheint wie eine Schablone für das Hier und Jetzt, für die im Hamsterrad Gefangenen.
Mit einer Überraschung endet die Inszenierung. Die Tür, die die Toten gefangen hält, gibt es gar nicht. Der Ausgang aus der Hölle: Er ist frei. Man muss ihn bloß passieren. Das klingt hoffnungsfroh. Aber, um ehrlich zu sein, auch etwas kitschig.
Geschlossene Gesellschaft
von Jean Paul Sartre
Deutsch von Traugott König
Regie: Johanna Wehner, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Ellen Hofmann, Musik: Felix Johannes Lange, Dramaturgie: Ursula Thinnes.
Mit: Patrycia Ziolkowska, Anna Kubin, Matthias Redlhammer, Heidi Ecks.
Premiere am Schauspiel Frankfurt am 30. November 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Kritikenrundschau
"Wichtige Sachen werden so oft wiederholt, dass wirklich kein einziger Mensch auf der ganzen Welt sie verpassen und zum Beispiel versehentlich für nicht so wichtig erachten kann. Es ließe sich über ein Textloop-Moratorium fürs Sprechtheater nachdenken, einfach, um einmal zu schauen, ob Dringlichkeit sich nicht doch auch auf anderen Wegen vermitteln lässt", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (1.12.2019). "Die Fragen von Schuld, die Sartre hier (und damals im besetzten Paris von 1944) in Maßen komplex stellt, werden zügig und unverbindlich abgehandelt. Atmosphäre geht vor Schärfe."
"Nach knapp zwei Stunden wird der geradezu sprichwörtlich gewordene Kernsatz des Stücks – 'Die Hölle sind die anderen' – in einem kitschigen Schlussbild buchstäblich in sein Gegenteil verkehrt", schreibt Hubert Spiegel in der FAZ (2.12.2019). "Johanna Wehners Regie versetzt Sartres doch recht betagt wirkendes Drama mit dem Süßstoff der guten Absichten der Inklusion. Staub und Honig? Keine gute Mischung."
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