Zuschauer ist kein Ausbildungsberuf

von Michael Wolf

3. Dezember 2019. "Kritiker sollten sich nicht zu sehr für Theater interessieren. Es schadet mehr, als dass es nützt." Ein erfolgreicher Kollege hat das einmal zu mir gesagt. Je länger ich als Kritiker arbeite, umso klüger finde ich diesen Rat. Natürlich muss ein Rezensent "Bescheid wissen", er braucht "Seherfahrung", er muss kontextualisieren und argumentieren können. Und doch ist er am Ende des Tages nur ein informierter Zuschauer, der Ihnen von seinem Erlebnis eines Theaterabends berichtet. Es ist nicht förderlich, wenn Kritiker zu stark die Perspektive der Produzenten einnehmen. Sie sollten nicht auf Premierenpartys über das Buffet herfallen. Und sie sollten auch nicht zu sehr vom Kunstwerk her denken, davon, was da oben ist oder sein könnte, sondern was unten im Saal ankommt. Mehr als dem Kunstwerk ist der Kritiker den Lesern, dem Publikum verpflichtet.

Was hat die Postdramatik noch zu erzählen?

Über derlei habe ich während der Premiere von She She Pops Kanon im Berliner HAU nachgedacht. Einziges Thema dieses Abends war das Theater selbst. Die Performer schildern jeweils eine Sternstunde ihrer Zuschauerkarriere. In den meisten Fällen prägte das Erlebnis die jeweilige Künstlerbiographie. Die Größe des Ereignisses bemaß sich am Einfluss auf die eigenen ästhetischen Vorstellungen. Auf die ewige Frage "Was hat das Theaterstück gemacht?" würde die Antwort lauten: "Das Theaterstück hat gemacht, dass ich anders über Theaterstücke nachdenke." Typisch Postdramatisches Theater! Dessen Anhängern geht es um Live-Reflektion ihrer Kunst während deren Produktion. Es ist Meta-Theater für Eingeweihte, für Nerds. In einer anderen She She Pop-Aufführung fragte ein Performer, wie viele Zuschauer Angewandte Theaterwissenschaft studiert hätten. Der halbe Saal hob die Hand.

kolumne wolf"Kanon" war ein netter, aber unterspannter Abend. Das konservative Vorhaben, einen postdramatischen Kanon zu erstellen, vertrug sich nicht gut mit dem einstmals revolutionären Gestus ihrer Akteure. Es war, als träfen sich ein paar Veteranen, um einander zu erzählen, wie das alles damals so war. Unbestritten haben Postdramatiker wichtige Impulse gesetzt, inzwischen aber wirken ihre Verfahren ebenso kraftlos wie verbissen. Neue Avantgarden laufen ihnen den Rang ab, lösen ihr altes Versprechen auf ein anderes Theater mit institutionellen Reformen und offensiver Identitätspolitik ein. Was hat die Postdramatik heute noch zu erzählen?, fragt man sich, und sieht ein, wie unsinnig die Frage ist. Denn sie wollte ja ohnehin nie etwas erzählen. Ihr Thema war zunächst immer das Theater selbst.

Angemessen unbescheiden

Erfolgreich wurden nur solche ihrer Verfechter, die über Umwege den Kontakt zum Parkett hielten. Rimini Protokoll holten sich mit ihren Experten des Alltags etwas Leben auf die Bühne. René Pollesch lockt das Publikum mit Witz und Stars, Falk Richter mit expliziten politischen Haltungen. Ein großer Teil dessen, was sonst noch als Postdramatik firmiert, bleibt unter dem Radar. Das Brot dieser Künstler ist kein Applaus, sondern der Förderantrag.

Gleichwohl ist zumindest der Begriff und Ethos weiterhin sehr einflussreich, zum Ärgernis des Intendanten der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier. Im Interview mit dem Freitag sprach er sich kürzlich in expliziter Gegnerschaft zum "postdramatischen Mainstream" für ein narratives Schauspiel aus. "Durch ein Theater, das Figuren ernst nimmt und rele­vante Geschichten erzählt, kann man vielleicht Menschen, für die Theater immer ein unbedeutendes­ Experiment von privilegierten Intellektuellen war, wieder für ein komplexeres Nachdenken über die Welt begeistern." Während die Postdramatik, wie schon im Namen anklingt, in erster Linie auf die Überwindung einer vorherrschenden Ästhetik abhob, will Ostermeier – angemessen unbescheiden – auf eine Veränderung der Wahrnehmung der (ganzen) Welt hinaus. Unabhängig davon, wie gut ihm das zuletzt gelang, ist die Kampfansage erfrischend. Seine Agenda endet nicht an den Wänden der Probebühne.

Denken, Fühlen, Erleben

Wenn schon ein Theater mit "post"-Präfix, dann bitte ein posttheatrales Theater. Denn niemand sollte sich für Bühnenkunst an sich interessieren müssen, um eine Aufführung mit Gewinn zu verfolgen. Das Publikum besteht nicht aus Theaterwissenschaftlern, es sind Arbeitnehmer und Arbeitslose, Wähler, Steuersünder, Verliebte, Falschparker und Melancholiker. Das sind nicht mal Zuschauer da im Parkett, das sind Menschen. Eben noch waren sie Kaffee trinken, haben Flaschen in Pfandautomaten gesteckt oder das Kind von der Schule abgeholt, jetzt sitzen sie zufällig vor einer Bühne. Man muss sie nicht von dort abholen, aber man sollte sie unbedingt ernst nehmen und nicht selbstgerecht vor den Karren der eigenen Theoriebildung spannen. Auf der Bühne kann was auch immer verhandelt werden, sofern Theater in Kontakt zum Denken, Fühlen, Erleben und Leben derjenigen steht, die zuschauen. Denn Kunst ist keine, wenn sie nicht ankommt. Mit anderen Worten: Theatermacher sollten sich nicht zu sehr für Theater interessieren. Es schadet mehr, als dass es nützt.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein. 

 

In seiner letzten Kolumne warb Michael Wolf für die berufliche Neuerfindung eines alten Schreibprofis.

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Kommentare  
Kolumne Wolf: anderes Thema
Er, der Kritiker, könnte aber beides (oder dreifach) sein.
Dem Kunstwerk, den Lesern und dem Publikum verpflichtet.
Die Postdramatik liegt, meiner Meinung nach, schon in den letzten Zügen.
Sie hat sich schon längst selber ausgespielt: (immer das Gleiche, immer
das gleiche Theater!) Ja, das Thema des Postdramatischen Theaters war, ist immer das Theater selbst. - Immer das gleiche Thema! - Es muss einmal, und zweimal, wieder ein anderes Thema her, zum Theaterdonner noch einmal! und der große Bühnenerschütterer Shakespeare, glaube ich, würde mir zustimmen.
Kolumne Wolf: offensive Identitätspolitik
Lieber Michael Wolf,
alles gewohnt schön und gut, was Sie da schreiben, aber spätestens wenn Sie über das allgemeine Publikum schreiben und dabei konsequent nicht gendern, wünsche ich mir sehr, dass die von Ihnen belobigte "offensive Identitätspolitik" in Zunkunft deutlich meht Nachhall in Ihrem Schreiben finden wird.
Kolumne Wolf: Sirenengesänge
Liebe(r) Prinzessin: Ich möchte bitte als Teil des Publikums nicht gegendert werden!!! Werde ich weiblich gegendert, muss ich wenn es nach den Debattenspielen geht, das dümmere und ärmere Opfer meiner Unterdrückungsgeschichte sein. Werde ich männlich gegendert, muss ich alt und weiß und in jedem Fall allein dadurch rassistisch und sexistisch sein. Werde ich gar nicht gegendert, sondern darf von der (Sprach)Sache her in DAS Publikum als Sache Mensch aufgehen, darf ich das auch nicht, sondern muss mich zumindest als queer zwangsouten...
Lieber Herr Wolf - stopfen Sie sich bitte Wachs in die Ohren vor den Sirenengesängen von offensichtlich identitätssüchtigen, weiblichen, männlichen oder diversenennnenen Prinzessinnen! Ich finde Ihr Schreiben auch ohne Nachhall nachhaltiger geistvoll als das so manch anderer KulturjournalistInnen!
Kolumne Wolf: Kontext – bitte gerne, danke
Wieder so ein Kommentar von Herrn Wolf, wo es am Ende so schön aufgeht mit den Ratschlägen und Sprichwörtern. Ist auch nicht verboten, das eigene Tun etwas kritischer zu betrachten. So ist's halt ein bisschen eitel - und lustigerweise selbstreferenziell - ausgerechnet bei diesem Text, wo die halbe Argumentation darüber läuft, dass die Postdramatik keine Themen hätte ausser das Theater selbst. Verstehe ich ehrlich gesagt nicht. Genau die Beispiele, die Sie anführen - Rimini, Pollesch, Richter, She She Pop - denke z.B.an Black Tie, Stadt als Beute, Fear, Testament - muss man nicht mögen, aber da geht es einfach deutlich nicht um Theater, Und schon gar nicht "nur". Wenn dann geht es vllt unterschwellig auch noch darum, wer wen angemessen repräsentieren kann und ob Repräsentation überhaupt noch das Mittel der Wahl ist. Das kann man diskutieren, ist aber politisch und nicht selbstbezüglich. Ausserdem: "Kanon" kam anäßlich des Symposiums raus, das sich dem 20jährigen Wirken von Lehmanns Buch "Postdramatisches Theater" widmete. Irgendwie schon klar, dass es dann in der Reflektion - auch der künstlerischen - halt auch genau darum geht. Diesen Kontext zu klären, wäre doch auch des Kritikers Aufgabe. Zum Wohle des Publikums versteht sich, das ja schon gerne auch mal selber einordnen möchte und dazu eben Parameter braucht.
Kolumne Wolf: nur das Theater
Lieber Michael Wolf! Die Orestie spielen, Schiller und Goethe, das interessiert sich nur fürs Theater. Und Ostermeier. Das ist der übliche Fehler. Sie selbst interessieren sich nur fürs Theater. Und gehen eindeutig zu oft dorthin.
Kolumne Wolf: diskussionswürdige Mittel
#4: "Repräsentation" ist das diskussionswürdige Mittel der Wahl für was jetze nochmal?
Ach, und: "Kanon" war Anlass-Theater? Cool, Buchwirkungen gewidmete Symposien als Anlass für Theaterpremieren... Warum kommen eigentlich die Stadttheater nicht auf sowas?
Kolumne Wolf: Reaktionär
Eigentlich ist dieser Kommentar gefährlich reaktionär. "Kunst ist keine, wenn sie nicht ankommt"? So so. Van Gogh? Jelinek? Pollesch? Vinge? So eine Argumentation ist gegen Avantgarde, gegen Erneuerung, gegen Experiment, das anfangs kein Publikum hat. Wo dreht sich "Postdramatik nur um das Theater", wie Wolf behauptet? Wilson, Marthaler, Schleef, Castorf? Alles nur Theater um das Theater? Evtl sollte Herr Wolf einmal recherchieren, wie postdramatisches Theater definiert ist. Dieser geforderte Populismus ist näher an dem Theater- und Kunstverständnis der AFD, als wir uns alle wünschen.
Kolumne Wolf: Begriffsverwirrung
Ich glaube, bei all diesen Diskussionen darum, ob das postdramatische Theater noch eine Zukunft hat oder nicht, wäre es vorteilhaft, stärker darauf zu achten, was mit dem Begriff eigentlich gemeint sein soll. Sicherlich sind She She Pop und Rimini Protokoll postdramatisch im Wortsinn, dass sie keine dramatische Form mehr bedienen, und gleichzeitig sind sie meilenweit entfernt vom Theater der 70er und 80er, das Lehmann in seinem Buch beschreibt. Und Falk Richters Theater würde ich gar nicht als postdramatisch bezeichnen (auch wenn er das anders sieht), da gibt es zwar nur noch Handlungsfragmente, aber sehr wohl Figurendarstellung und Dialogrede, das hat mehr mit epischem Theater und offenen Dramenformen zu tun als mit Jan Fabre oder Robert Wilsons Frühwerk (Hauptbeispiele bei Lehmann).
Tatsächlich scheint mir "Postdramatik" gerade allzuoft einfach als Synonym für "Avantgarde" verwendet zu werden. Die hat sich schon immer für die Möglichkeiten des eigenen Materials, der eigenen Form interessiert, nicht aus Narzissmus, sondern um Neues zu entdecken. Auch aktuell gibt es viele neue Formen, die zwar nicht dramatisch sind, denen aber vielleicht nicht allzuviel damit gedient ist, sie immer noch unter "postdramatisch" zusammenzufassen.
Ich kann auch Ostermeiers Rede eines "postdramatischen Mainstreams" überhaupt nicht nachvollziehen, schließlich ist die Schaubühne doch notorisch ausverkauft. das HAU seltener, wenn es nicht gerade eine She She Pop-Premiere ist. An den anderen großen Häusern in Berlin sehe ich auch vor allem narratives, dramatisches Theater mit höchstens ein paar postdramatischen Einsprengseln. Daher meine Bitte: Lassen Sie doch allen, die sich für die Selbstbefragung des Theaters interessieren, die wenigen Freiräume, die es dafür gibt.
Kolumne Wolf: Wie lange noch?
Wie lang hält denn der Zuschauerandrang an der "notorisch" ausverkauften Schaubühne an? Wieviele Vorstellungen?

An einer derart realistischen "Selbstbefragung" muss ein Theater interessiert sein, will es überleben, das gilt auch für Stilrichtungen, will man das postdramatische Theater als solche auffassen.
Kolumne Wolf: Realismus der Schaubühne
@ #9: Ich bin mir nicht sicher, wie ich Ihre Bemerkung zu verstehen habe. Die Schaubühne ist doch ein Theater, an dem vornehmlich ein realistisches, dramatisches Verständnis gepflegt wird (es gibt natürlich auch Ausnahmen). Das hat Thomas Ostermeier auch explizit so formuliert. Und ich weiß nun nicht, wie viele Vorstellungen von dessen "Hamlet"-Inszenierung mittlerweile gespielt wurden, aber es dürften seit 2008 einige sein (und bevor hier Einwände kommen: Postdramatik und Regietheater sind nicht dasselbe).
Kolumne Wolf: Zuversicht
# Glitzerfragment,
an meiner Bemerkung ist nichts großartig zu verstehen. Sie kam rein affektuell zustande, war nicht durchdacht und obendrein schlecht formuliert.

In erster Linie hab ich mich über den Text von Michael Wolf gefreut, der offenbar eine Zäsur in der Theaterentwicklung für angebracht hält. Weg von einer rein intellektualistisch fundierten Intention, die das postdramatische Theater verfolgte; wieder hin zum „herkömmlichen“ Anliegen des Theaters (und also des Publikums!). Weg vom artifiziellen Meta-Theater („für Eingeweihte, für Nerds“, M.W.); wieder hin zu ursprünglicher Konfrontation von Text/Autor, (Theater-) Künstlern und Publikum.

Wenn Thomas Ostermeier tatsächlich einen Zugang zu Kosten- und Erfolgswahrheit gefunden haben sollte - die ausverkauften Vorstellungen sprechen für sich -, großartig!

Aus der postdramatischen Ära kennt man allerdings noch andere Erscheinungen am Theater, nämlich z. B. das Durchdrücken von Stücken/Autoren und Autorinnen(!) auf Biegen und Brechen, gähnend leere Sitzreihen, sich endgültig abwendende, wütende Zuschauer etc. Dieser Aspekt ist mir allseits zu wenig beleuchtet.

Die Phase der Postdramatik ereignete sich m. E. nicht als fruchtbringende warme Brise, sondern als theatrokratisch verhängte Attitüde. Sie hatte ihre Freunde, ja, aber langfristig kann sich Theater die Durchsetzung eines solchen Nischengeschmacks nicht leisten. Jeder Sondergeschmack, der es auf entsprechende Auslastungszahlen bringt, ist zu akzeptieren, das sehe ich ganz pragmatisch, ob mir das jetzt gefällt oder nicht. Aber meistens ist es doch so, dass ohne staatl. Stütze Theater heute kaum mehr stattfinden kann, nicht? (Da läuft etwas falsch!)

„… Kunst ist keine, wenn sie nicht ankommt. M.W.“ Dieser Satz hat nicht allen hier gefallen. Ich glaube, er meint u. a., Theater ist größer als die Theatermacher.

Insofern darf Zuversicht herrschen, dass die Postdramatik, die so unmissverständlich darauf abzielte die traditionelle Ästhetik zu überwinden, selbst überwunden werden wird, vielleicht schon überwunden ist.
Kolumne Wolf: Bessere Zukunft
Avas Zugang erinnert doch sehr daran, dass dort Xenophobie am größten ist, wo nur ein Fremder im Dorf ist. Eine zeitgemäße Attitüde. An 90 Prozent der Theater findet er doch das, was sein Herz begehrt. Ein Promille "Genderwahn" ist ihm auch schon zu viel etc. Trotzdem gefällt mir an seinem (sic!) Beitrag am meisten das Gefühl des Bedrohtseins. Das lässt auf eine bessere Zukunft hoffen, besser als ihm die Vergangenheit vorschwebt.
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