Das schlechte Gewissen aller

von Shirin Sojitrawalla

Mainz, 19. September 2008. In "Reiz und Schmerz" herrscht Krieg an allen Fronten: Frauen treten gegen Männer an, Demokraten gegen Republikaner, Eltern gegen Kinderlose und Inländer gegen Ausländer. Auf zwei Zeitebenen erzählt Bruce Norris eine Geschichte, die harmlos beginnt: Es ist Thanksgiving und das Ehepaar Clay und Kelly hat die Familie zu Besuch. Die beiden haben es offensichtlich geschafft, sie sind gut situiert. Ihr Wohnzimmer haben sie so eingerichtet, wie solche Leute ihr Wohnzimmer einrichten. Der Fernseher ist groß und flach, das Mobiliar erlesen, die Familienfotos gut gelaunt, und die Sofagarnitur und der Teppichboden sind von dermaßen heller Farbe, dass Fleckenbildung nicht vorgesehen scheint.

Wer hier lebt, hat viel zu verlieren

Im Hintergrund führt eine Treppe in die oberen Etage und links eine Tür zur Terrasse. Clays Bruder, Cash (Stefan Walz), ist angereist und hat seine Freundin mitgebracht, ein klassisches Mausi osteuropäischer Prägung. Die Mutter der beiden Männer, eine ganz wunderbar vergessliche und von ihrem Selbstwert zutiefst überzeugte Frau, die viele schlaue Fernsehsendungen schaut und dennoch oder gerade deswegen nicht von A nach B denken kann, ist ebenfalls zugegen sowie ihre kleine Enkelin Kayla (Julia Bremke), die an einer merkwürdigen Entzündung untenrum leidet und sich darum immer wieder im Schritt kratzt.

Doch bevor sie sich alle versammeln, sitzt das Ehepaar allein mit einem alten Mann fremdartiger Herkunft. Es handelt sich um Mr. Hadid, der immer dann ins Spiel kommt, wenn das Stück in der Gegenwart landet. In Mainz sitzt er den ganzen Abend lang im Bühnenvordergrund und markiert das schlechte Gewissen aller. Erst nach und nach erfahren wir, was es mit ihm auf sich hat.

Worte wie Blasrohrkugeln

Matthias Fontheim, Intendant des Staatstheaters Mainz, hat ein gutes Händchen bei der Wahl dieses Stückes bewiesen, das 1995 in Chicago uraufgeführt wurde und seine europäische Erstaufführung 2007 am Royal Court Theatre in London erlebte. Und nicht nur das: Er versteht es auch, den Text auf die Bühne zu bringen, indem er das macht, was der Autor sagt und darüber hinaus, seine Schauspieler dazu bringt, das im richtigen Tempo umzusetzen.

Norris ist nämlich ein Meister der rasanten Dialogführung. Verbale Gefechte, bei dem sich die Kontrahenten ins Wort fallen und mit kurzen Sätzen um sich schießen als seien es Blasrohrkügelchen, beherrscht der Mann perfekt. Und immer genau in dem Moment, wenn sich Komödiengemütlichkeit breit zu machen droht, grätscht er mit einer gemeinen, unverschämten oder geschmacklosen Pointe mitten hinein in die Boulevardseligkeit. Das Beste daran: Seine Pointen sind nicht nur lustig, sondern treffen ins Schwarze unserer Gegenwart.

Hierarchien bilden

Zeitgenossen, die ihren Selbstwert allein aus ihrem Nachwuchs saugen, Geschwister, die sich um den ersten Platz im Wettbewerb "unglückliche Kindheit" zanken und Immigranten, die andere Immigranten ganz selbstverständlich für den allerletzten Dreck halten, bevölkern das Stück. Norris, übrigens extra zur deutschsprachigen Erstaufführung aus New York angereist, bereitet ihnen allen die Bühne und lässt ihre selbstgerechten Verlautbarungen platzen wie Heißluftballons. Das Mainzer Ensemble setzt das ebenso charmant wie präzise um: Julia Kreusch spielt die Karrieremami Kelly als resolute, zur Panik neigende Frau, die ihrem Kind erst gar nicht die Möglichkeit gibt, sich zum Tyrannen auszuwachsen.

Florian Hänsel verkörpert ihren Ehemann, der das Unheil immer von dort erwartet, wo es mit Sicherheit nicht herkommt und der mit einer Stimme von der Unschuld der Kinder spricht, als zergehe ihm dabei eine Hostie auf der Zunge. Johanna Paliatsou indes glänzt mit bravourösem Schlampenschick in der Rolle der akzentuierten Kalina, und Monika Dortschy spielt Mutter Carol mit dem genau richtigen Schwung.

Wer da noch lacht

Nicht zu vergessen Morteza Mojtahedy, der alte Mann, der sich zwei Stunden lang den Bart zupft und um Aufklärung bittet. Nur seinetwegen wird der Abend schließlich veranstaltet. Er möchte wissen, warum seine Frau sterben musste. Das Stück, dem man höchstens vorwerfen könnte, dass es alles auserzählt und sich so um jedes Geheimnis bringt, rekonstruiert den Tag, an dem das geschah und zeigt wie nebenbei, dass der Terror oder vielmehr die Angst davor längst die Eigenheimidyllen dieser Welt heimsucht.

Das Modell Familie, Marke Leichtbauweise, steht auf einem wackligen Fundament, und Ideale kann sich sowieso nur noch leisten, wer keinen Status Quo zu verteidigen hat. Norris verarbeitet das zu einer reizenden Komödie, die sich zur Tragödie weitet. Wer da noch lacht, den juckt wohl gar nichts mehr.

 

Reiz und Schmerz (The Pain and the Itch)
von Bruce Norris, Deutsch von Barbara Christ (DEA)
Regie: Matthias Fontheim, Ausstattung: Susanne Maier-Staufen. Mit: Julia Bremke, Monika Dortschy, Julia Kreusch, Johanna Paliatsou, Florian Hänsel, Morteza Mojtahedy, Stefan Walz.

www.staatstheater-mainz.de

 

Kritikenrundschau

Für Eva-Maria Magel bekommt Bruce Norris' "Reiz und Schmerz", dieses "in der Art von Yasmina Rezas Zimmerkatastrophen gebaute Stück", am Staatstheater Mainz "bei aller Komik eine beklemmende und ausgesprochen internationale Wahrhaftigkeit". Die "üble Geschichte von Seitensprung, Vertrauensbruch und einer unappetitlichen Krankheit" erinnert Magel beinahe an Ibsen und werde von Matthias Fontheim auf "detailgenauer Bühne" mit einem "bestens aufgelegten Ensemble" inszeniert. "Jede Merkwürdigkeit auf der Bühne" sei dabei ein "Lackmustest fürs Publikum". Zwar lache am Ende niemand mehr, doch seien die Zuschauer so begeistert, dass die Kritikerin der Inszenierung in der Rhein-Main-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.9.2008) das Zeug zum "Saisonliebling" zuspricht.

Auch Andreas Pecht muss in der Rhein-Zeitung (22.9.2008) feststellen: "So anders als wir sind diese Amis gar nicht". Susanne Maier-Staufens "schick-modernes" Bühnen-Domizil strahle "Gediegenheit, Ordentlichkeit, Wohlstand heutiger Art aus". Der Bewohner "aseptisches Gutmenschen-Getue" stinke bald "zum Himmel" und aus dem schönen Schein werde "eine aller Lieblichkeit entzauberte Familienhölle". Auch wenn "Tendenz und Machart des Stückes" nichts Neues seien – Pecht nennt ebenfalls Yasmina Reza – bietet Norris für ihn eine "härtere und tiefer gehende Variante dieses Genres, das im Boulevard-Gewand aufzieht, um als Zeit-Tragödie zu enden". Fontheim habe das als "stringent realistisches Charakterspiel inszeniert", dessen Darsteller allesamt "trefflich auf realistisches Situationsspiel eingestellt" seien. Einzige "Kehrseite solch intensiver 'Echtheit' auf dem Theater: Man versteht im verbalen Getümmel bisweilen kein Wort."

In der Main-Spitze (22.9.2008) schließt sich Jens Frederiksen an: Fontheims "ebenso lässige wie präzise, dabei hochamüsante Inszenierung in dem penibel nachgebauten Wohnzimmerkasten" wirke "wie aus dem Alltag einer mustergültigen deutschen Vorstadtsiedlung gepflückt". Während Stefan Walz für Frederiksen als "Was-kostet-die-Welt-Lebemann" Cash etwas zu dick aufträgt, gelingt der "aparten Johanna Paliatsou" seiner Meinung nach "ein komödiantisches Kabinettstückchen". Sie stöckele "mit so viel Eleganz und elementarer Lebensfreude" durch ihre "Flittchen-Rolle, dass selbst ihre übelsten Abschwünge noch den Charme des Naiven atmen. Köstlich." Das "Umkippen von Komödienübermut in die Brutalität des Lebens" schließlich sei in dieser "vorzüglichen Aufführung" "glänzend herausgearbeitet".

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