Sommerhaus for sale

von Martin Thomas Pesl

Wien, 5. Dezember 2019. Die meisten sind sicher seinetwegen gekommen: Otto Schenk! 89! Seit ein paar Jahren schon war der Wiener Lieblingsopa, Kammerschauspieler und Doyen des Theaters in der Josefstadt nicht mehr in einer neuen Rolle aufgetreten. Schenk als Diener Firs, der am Stock mit kleinen Schritten dahertrippelt und alte Geschichten so leise erzählt, dass alles um ihn herum pausieren muss, damit man ihn versteht: ein programmiertes Ereignis.

Otto Schenk hilft nicht beim Umziehen

Es funktioniert auch aufs Anrührendste, außer vielleicht, wenn der Hausherr ruft: "Firs, hilf mir beim Umziehen!" Also bitte. Otto Schenk hilft niemandem mehr beim Umziehen. Otto Schenk schaut nur zum Abbusseln verdattert drein, wenn die Gouvernante Charlotta Iwanowna ihn kess antanzt. Das einstige "Zirkuskind", das der Gutsgesellschaft Kunststückchen vorführen soll, steckt in Alexander Absengers Körper und ist ein Crossdresser. Auch diese überraschende Lesart geht auf und ans Herz, wenn Charlotta sich, meist von allen unbeachtet, in neuen Glitzergewändern präsentiert und entrückt rauchend über die guten alten schrecklichen Zeiten sinniert.

Der Kirschgarten 7 560 C Astrid Knie uIm Bühnenbild von Stefanie Seitz: Raphael von Bargen, Otto Schenk, Götz Schulte, Alma Hasun, Claudius von Stolzmann © Astrid Knie

Amélie Niermeyer, aktuell Lehrgangsleiterin am Salzburger Mozarteum, hat in Wien mehrere Opern inszeniert, Tschechows "Kirschgarten" ist ihre erste Schauspielarbeit in der Stadt. Ihr Zugriff ist modern, wenn auch nicht radikal. Die deutsche Textfassung, die sie verwendet, ist altbackener Ausdrücke entledigt, von einer Überschreibung zu sprechen wäre aber übertrieben. Das ist schon noch der gleiche alte "Kirschgarten", die traurige Komödie über Fortschrittsfeindlichkeit, Verdrängung, Alt gegen Neu und die Schwierigkeit, in ökonomisch unmöglichen Zeiten menschlich zusammenzukommen.

Alles musiziert, einer erschießt sich

Man kocht, während die Ranjewskaja (Sona MacDonald) ihr Unglück bejammert (einst ertrank ihr Kind), man musiziert ungerührt, während sich jemand erschießt. Die Drehbühne zeigt unermüdlich ein außenwandloses zweistöckiges Haus von allen Seiten, Blacks und Pausen gibt es nicht, alles ist im steten Fluss. So liegt Igor Karbus als Kontorist (wer ist das überhaupt und was will er hier?) mehrere Bühnendrehungen hindurch da, bis rauskommt, dass der Schuss nur eine Pose war, um Aufmerksamkeit zu erregen. Erfolglos.

Aktuelle Bezüge stellt Niermeyer nicht her, aber Kostüme, Küchengeräte, Haarschnitte und -farben platzieren das Geschehen in einem – freilich ohne Handys usw. funktionierenden – Heute, in dem der reiche Lopachin "Summer-Getaways" bauen will. In einer Zeit, in der Silvia Meisterle als Warja sagt, sie könne als Frau ja schlecht einen Heiratsantrag machen, und dann kurz alle innehalten und sagen: "Wieso nicht? Mach doch."

Der Kirschgarten 6 560 C Astrid Knie uChampagner im Morgenmantel: Ensemble © Astrid Knie

Da ja bei Tschechow erst mal nichts passiert und die Figuren einander auch eigentlich nichts zu sagen haben, braucht es eine ganze Weile, bis die Inszenierung in Fahrt kommt. So wirkt es zunächst, als wären die Szenen das Intermezzo für die verträumten Gesangseinlagen und nicht umgekehrt – der Singer-Songwriter Ian Fisher hat sich als "Mitbewohner Iwan" im Dachgeschoss eingenistet. Irgendwann aber stellt sich der Sog des Abends ein, und ohne besonders innovativ oder virtuos zu sein, öffnet Niermeyers Inszenierung Raum dafür, sich nach und nach in die Figuren zu verlieben.

Kirschgarten versteigert

Lopachin zum Beispiel, oft als der Kapitalschurke gezeichnet, ist in Raphael von Bargens Darstellung eher ein engagierter Start-up-Gründer, der in den verkaterten Köpfen der anderen einfach viel zu viel Energie mitbringt. Sie hören seinen Ideen nicht zu, klar, dass er da den Kirschgarten ersteigern muss. Als er es getan hat, kann er es selbst kaum fassen und spürt, welches Unglück er dadurch erzeugt. In Worte fassen kann er es aber nicht, beißt der Ranjewskaja stattdessen vor unternehmerischer Erregung in den Nacken.

Ein erfolgreicheres Liebespaar sind Jascha und Dunjascha (Claudius von Stolzmann, Alma Hasun), doch auch sie wissen auf hinreißende Art nicht, wie ihnen geschieht. Dass sie übrigens eigentlich Dienstboten in diesem Hause sind, geht völlig unter. Alle Anwesenden sind sympathisch gleichwertig und doch absolut einsam, wie ein Haufen Leute, die im selben Sommerhaus eingemietet sind: Einer hat eben seine Gitarre mitgebracht, eine andere ihren Opa namens Otto Schenk. Der bekommt am Ende natürlich den Moment, auf den alle gewartet haben: Firs bemerkt, dass er vergessen wurde, murmelt noch etwas und legt sich dann bescheiden zur Ruhe. So schön traurig ist das.

Der Kirschgarten
von Anton Tschechow
Deutsche Fassung von Elisabeth Plessen nach einer Übersetzung von Ulrike Zemme
Regie: Amélie Niermeyer, Bühnenbild: Stefanie Seitz, Kostüme: Annelies Vanlaere, Songs: Ian Fisher, Musikalische Komposition: Imre Lichtenberger Bozoki, Dramaturgie: Silke Ofner, Licht: Emmerich Steigberger.
Mit: Sona MacDonald, Gioa Osthoff, Silvia Meisterle, Götz Schulte, Raphael von Bargen, Nikolaus Barton, Robert Joseph Bartl, Alexander Absenger, Igor Karbus, Alma Hasun, Otto Schenk, Claudius von Stolzmann, Ian Fisher.
Premiere am 5. Dezember 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.josefstadt.org

 

Kritikenrundschau

So stark habe man das Josefstadt-Ensemble lange nicht mehr gesehen, bemerkt Margarete Affenzeller im Standard (6.12.2019). Amélie Niermeyer habe "die Körper und Stimmen der Schauspieler so dermaßen wachgerüttelt, dass man manche von ihnen nicht gleich wiedererkennt". Vibrierend sei ihre Inszenierung. Dem "totgespielten Zustand" – man betrachte "eine fahrige, aber in Wahrheit gelähmte Gesellschaft von Idiopathen" – gewinne sie etwas Eigenes ab. "Und zwar, indem sie das Figurenpersonal nachhaltig demokratisiert: Alle bekommen gleich viel Raum, um ihre Schicksalhaftigkeit zu zeigen." Wie bei Tschechow hätten auch hier die kleinsten Rollen "die profundeste Tiefenschärfe" – der alte Diener Firs, "den Otto Schenk als leibhaftiges Zitat einer vergangenen Epoche inthronisiert", oder auch die Gouvernante Charlotta. Die Josefstadt, so Affenzeller, habe sich mit diesem "Kirschgarten" in Wien Terrain erobert.

"Die Stimmung ist nostalgisch, aber nicht im gewohnten, von Pausen dominierten Tempo, das sich bei Tschechow oft bewährt, sondern zügig, wie im Finale einer Party unserer Tage", schreibt Norbert Mayer in der Presse (9.12.19). Die Party habe sich bereits erschöpft, werde  bald scharenweise verlassen, rasch werde noch gesoffen und gekotzt, wahllos befummeln sich die Leute oder quatschen sich sinnlos nieder. Bevor sich als große Leuchtschrift "SOLD" herabsenkt, bietet diese Inszenierung eine frische, gekonnt inszenierte Show mit eigenen Akzenten.

"Zwei Stunden lang leben sich die unterschiedlichsten Menschentypen in kabarettreifen Zuspitzungen aus. Ein buntes Ensemble ist auf Vollkörperkunst, bis hin zur Vollkörperdusche, trainiert. Josefstadt meets Werk X", berichtet Hans Haider in der Wiener Zeitung (online 6.12.2019). Und weil "der zu Weltvergessenheit eingebremste Otto Schenk" den Diener Firs "gibt, endet der urkomische Josefstädter 'Kirschgarten' doch noch sentimental und melancholisch."

"Kei­ne Fra­ge: Amélie Nier­mey­er und dem tol­len Jo­sef­stadt­en­sem­ble ge­lingt ei­ne her­vor­ra­gen­de 'Kirsch­gar­ten'-In­ter­pre­ta­ti­on, und das in knapp zwei Stun­den", jubelt Mar­tin Lhotz­ky in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.12.2019). Die Textfassung von Plessen und Zemme störe kei­nes­wegs – "die dann doch wie­der recht sanf­te Mo­der­ni­sie­rung" mache den Abend zu ei­nem bei­na­he zeit­lo­sen Er­leb­nis.

 

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