Mehr Inhalt, weniger Kunst!

von Falk Schreiber

Rendsburg, 7. Dezember 2019. Der Morgen nach der Party ist ein seltsamer Morgen. Die Wohnung ist verdreckt, die Glieder schmerzen, der Schädel brummt. Es riecht nicht gut. Man wacht auf, hat man überhaupt geschlafen? Und was sind das für Menschen? Die Hand gleitet unschlüssig über fremde Haut, man dämmert wieder weg.

Der Kater am Morgen

Anna-Elisabeth Frick hat dieses Bild des kollektiven Katers zum Ausgang ihrer "Hamlet"-Inszenierung am Landestheater Schleswig-Holstein gemacht. Am Vorabend starb der alte König, aber am Vorabend heirateten auch seine Witwe Gertrud (Beatrice Boca) und sein Bruder Claudius (Lukas Heinrich) – das bedeutet Gefühlswirrwarr, und da darf man im Anschluss derangiert sein, klar.

Nur Gertruds Sohn Hamlet (Christian Hellrigl) spielt nicht mit. Der weiß (oder glaubt zumindest zu wissen), dass Gertrud und Claudius seinen Vater umgebracht haben, und weil niemand sonst sich auf diese Theorie einlassen will, muss er den Mord selbst rächen. Da steht also ein vergrübeltes Milchgesicht einer Gruppe giggelnder Doofies mit Restalkohol gegenüber und sucht nach Gerechtigkeit.

Hamlet 3 560 NN uAm Hof Helsingör: der Bühnenentwurf stammt von Martha-Marie Pinsker © Landestheater Schleswig-Holstein

Frick inszenierte vor einem Jahr in Rendsburg Goethes "Faust" als Dekonstruktion einer Figur, die so fest im kollektiven Bewusstsein verankert ist, dass niemand von einer jungen Regisseurin erwarten würde, die Geschichte nachvollziehbar zu erzählen – es weiß ja ohnehin das gesamte bildungsbürgerliche Publikum, was passiert: Mephisto, Walpurgisnacht, Gretchen. Damals durfte sich Frick in den winzigen Kammerspielen ausprobieren, der Erfolg der (weiterhin im Repertoire laufenden) Inszenierung empfahl sie freilich für Größeres. In diesem Fall für Shakespeares "Hamlet", einen mindestens ebenso kanonisierten Stoff wie "Faust", allerdings nun im Großen Haus des Rendsburger Stadttheaters.

"Hamlet" im Häcksler

Womit sich der (mit rund zwei Stunden schlüssig gekürzte) Abend allerdings konsequent zwischen die Stühle setzt. Einerseits wiederholt Frick hier nämlich, was sie mit "Faust" schon einmal erfolgreich durchexerziert hatte: Sie zerhackt die Vorlage und setzt sie neu zusammen. Sie entindividualisiert die Protagonisten. Sie reißt die Vierte Wand ein. Im Grunde ist ausschließlich Hellrigls Titelheld eine ausgearbeitete Figur, die übrige Gesellschaft ist eine amorphe Masse, von der der Protagonist konsequent entfremdet ist – als Rosenkrantz (Nenad Subat) und Guildenstern (Timon Schleheck) die Szene betreten, wandern sie zwischen diesen Gestalten hin und her wie Besucher in einem Museum, die Statuen betrachten (und wenig mit ihnen anzufangen wissen). Das funktioniert zwar, lässt aber ein Publikum, das nicht mit der Vorlage vertraut ist, ohne Scheu im Regen stehen.

Hamlet 4 560 NN u copySie finden nimmer zueinander: Christian Hellrigl als Hamlet und Kimberly Krall als Ophelia © Landestheater Schleswig-Holstein

Was nicht schlimm wäre, würde Frick dann nicht doch noch versuchen, irgendwie den Stoff zu erzählen, irgendwie die Totengräberszene unterzubringen oder das Spiel im Spiel. Das macht sie nicht ohne Geschick, nur macht sie es unmotiviert und pflichtschuldig. "Mehr Inhalt, weniger Kunst!" fordert Bocas Gertrud einmal, aber dann bleibt die Inszenierung doch wieder stecken in einer Kampfchoreografie, in einem eigenartigen Manga-Zwischenspiel oder in einer seltsam artifiziellen Sexszene zwischen Mutter und Onkel.

Dass Dramaturg André Becker verzweifelt nach einem Aktualitätsbezug sucht und Hamlet im Programmheft als Vorgänger Greta Thunbergs skizziert, hilft da auch nicht weiter – weil diese Inszenierung gar kein Interesse an der Frage hat, was das denn politisch und gesellschaftlich bedeuten würde, wenn Thunberg eine Hamlet-Figur wäre.

Weltumfassende Entfremdung

Was nicht heißen soll, dass Frick keine hochtalentierte Theatermacherin wäre. Die Schauspielerszene, die das Spiel im Spiel als emotionsloses Ablesen von Regieanweisungen in den Zuschauerraum verlegt, während das Rendsburger Ensemble von der Bühne ins Publikum starrt (und sich augenscheinlich tödlich langweilt), ist fein gebaut. Hannes Strobls elektronischer Soundtrack unterstützt das Gefühl einer weltumfassenden Entfremdung ebenso wie Martha-Marie Pinskers Bühne, die ein reizvolles Spiel zwischen Innen und Außen ermöglicht. Und die durch die Bank hochmotivierten Schauspieler*innen lassen sich mit Haut und Haar auf diesen eigenwilligen Stoffzugriff ein, Katrin Schlomm als Horatio, Meike Schmidt als Polonius, Kimberly Krall als Ophelia, alle toll. Nur weiß die Inszenierung damit wenig anzufangen, bleibt Aneinanderreihung von Versatzstücken auf einer viel zu großen Bühne.

Hamlet 2 560 NN uHamlet im Laufschritt: Christian Hellrigl spielt den Dänenprinzen © Landestheater Schleswig-Holstein

Am Ende, nach Hamlets konsequent abstrakt vollzogener Rache, liegen die Figuren wie zu Beginn derangiert zwischen Glitter, leeren Flaschen und Pizzakartons. Sie sind tot, klar, aber vielleicht träumten sie auch nur. Vielleicht träumen sie sogar immer noch. "Sterben – schlafen – Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegts: Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, wenn wir die irdische Verstrickung lösten, das zwingt uns stillzustehn."

 

Hamlet
von William Shakespeare
Deutsch von Heiner Müller
Inszenierung: Anna-Elisabeth Frick, Ausstattung: Martha-Marie Pinsker, Musik: Hannes Strobl, Dramaturgie: André Becker.
Mit: Christian Hellrigl, Lukas Heinrich, Beatrice Boca, Katrin Schlomm, Meike Schmidt, Kimberly Krall, Nenad Subat, Timon Schleheck.
Premiere am 7. Dezember 2019
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.sh-landestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Anna-Elisabeth Frick hat den Originaltext eingedampft und aus dem Kondensat ein Drama gestaltet, das Hamlet nicht als zaudernden Melancholiker und Grübler, sondern als zornigen Rebellen zeigt", so die Kritik in den Schleswiger Nachrichten (9.12.2019). "Die Intensität der Körpersprache ist neben der Kraft der Bilder ein gewichtiges Pfund dieser aufregenden Inszenierung, in der die Figuren sich immer wieder die Seele aus dem Leib brüllen." Für Entspannungsmomente bleibe kaum Platz, "egal, wie albern die Partyhüte von Rosencrantz und Guildenstern". Fazit: Selbst das Premierenpublikum in Rendsburg schien am Ende erschöpft, dennoch langer, zustimmender Applaus.

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