"Hassrede! Hassrede!"

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 20. Dezember 2019. Am Anfang ist die Welt ein unbeschriebenes Blatt. Weiße Hochkant-Panele bilden eine halbrunde, cleane Bühnenlandschaft. Auch der Boden ist weiß, selbst das Klavier. Den ersten Verrat an der Abstraktion begehen die recht absurden Ganzkörper-Wollwürste, in denen die sechs Spieler*innen plus Musiker als Chor die Bühne betreten.

Exemplarischer Kunstskandal

Es wird dann im Laufe von zwei Stunden noch viel bunter und viel unordentlicher als diese unregelmäßig gestrickten Kostüme andeuten in Lilja Rupprechts Uraufführungsinszenierung des Stücks "Ode" von Thomas Melle. Und das ist sehr schön. Irgendwie schaffen es die vier DT-und die beiden RambaZamba Spieler*innen zusammen mit dem Live-Musiker Philipp Rohmer, die Grundstimmung dem mäandernden Charakter des Stücktexts zum Trotz elektrisch aufzuladen. Der Abend hat Tempo und aufgekratzte Momente, aber Szenen und Übergänge sind präzise getaktet, und einzelne Passagen aus Melles Text werden mit Ruhe und Konzentration zum Leben erweckt.

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"Ode" spielt auf drei Zeitebenen. Melle stellt zunächst einen exemplarischen Kunstskandal her, in dem die arrivierte Künstlerin Anne Fratzer (gespielt von Kathrin Wichmann) ihr Werk "Ode an die Täter" vorstellt: eine Skulptur, die genau genommen keine ist, weil sie nur aus Luft besteht. Dieses Nicht-Mahnmal widmet Fratzer in ihrer Enthüllungs-Rede denjenigen Nazis, die ihren gewalttätigen Großvater ermordeten und damit davon abhielten seinerseits ihre Großmutter und Mutter totzuschlagen. Darüber wird sich ereifert, als hätte das ZPS eine neue Aktion herausgebracht, Fratzer befallen Zweifel, sie bringt sich um.

Fünf Jahre später greift ein Künstler namens Orlando (Manuel Harder) den Fall Anne Fratzer wieder auf und will ein Stück über sie inszenieren, um wider den Stachel der (im Kulturbetrieb) tonangebenden Identitätspolitik zu löcken. Immer tiefer verstricken Orlando und seine Gegenredner*innen sich in Diskussionen, während draußen die "Wehr" die Macht übernimmt. Juliana Götze, Jonas Sippel und Alexander Khuon schauen den Künstlern im groß an die Wand geworfenen Videobild "von draußen" dabei zu, wie sie einander zerfleischen. Sie applaudieren freundlich: Ihr erledigt ja alles schon von selber.

Zeitgeist-Diagnose

Melles Stück hat Schlagseite. Er gibt der "Wehr" mit ihren Wolf-im-Schafspelz-Strategien ("Wir wollen ja nur verstehen, was das hier ist – ist das international?“) sehr viel Platz und isoliert auf der anderen Seite die identitätspolitischen Argumente von links komplett von ihrem emanzipatorischen Kontext, um sie genüsslich durch den Kakao zu ziehen. Endgültig schief hängt das Zeitgeist-Diagnose-Bild, wenn Orlando im zweiten Teil länglich die Abschaffung des Repräsentations-Theaters beklagt, und zwar auf einem Diskurs-Stand ante Pollesch.

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Die Stärke von "Ode" liegt nicht in der Analyse und auch nicht in der sperrigen lehrstückartigen Konstruktion. Die Stärke des Texts liegt in seiner Freiheit, Anlauf zu nehmen zu battlerap-artigen Passagen, in denen aller Konflikt im Sound geballt ist. In denen in alle Richtungen ausgeteilt wird, an die "transnationalen Gauleiternazis", die "youtubeverblödeten Neoneunazis", an die "selbstgerechten Dümmlichkeitstwitterer", die "durchfinanzierten Arztsohnsektrinker", die "laberverblödeten Kulturvollzeitstädter", und Melle disst sich en passant auch selbst, wenn er die metafiktiven Krankheitsvermarkter in die Liste aufnimmt.

(K)ein Lehrstück?

Diese Szenen, die – sozusagen in vorauseilender Selbstzensur – stets mit einem strengen chorischen "Hassrede! Hassrede gemeldet" beschlossen werden, sind die Höhepunkte des Abends, weil sie auch Anlass gegeben haben zu wunderbaren Regie-Einfällen. Einmal bleibt Juliana Götze abseits von den anderen stehen und fängt parallel zu Hassrede an, mit fließenden Bewegungen auf der Stelle zu tanzen, wie eine Alge. Die anderen schließen sich ihr an, zusammen setzen sie sich in Bewegung, und der Tanz wirkt auf einmal wie von Zombies. Ein anderes Mal teilt Götze reife Tomaten an die anderen aus, die sie sich – "Mimimi" – vor den Augen zu blutigen Tränen zerquetschen.

Im dritten Teil kommt der Künstler/die Künstlerin als (auf Natali Seelig und Alexander Khuon aufgeteilte) Figur "Präzisa" mit vorgehaltener Pistole zu sich selbst und begehrt auf gegen die "Wehr" und ihre Regeln. "Nehmt mich fest, ja! Vorher aber stehle ich mir drei Ewigkeiten. Vorher flute ich die Bühne. Vorher reiße ich mir die Fratze vom Gesicht (…) Vorher knallt die Kunst ins All." Melle lässt offen, ob es zu spät ist. Er will natürlich kein Lehrstück geschrieben haben. Und Lilja Rupprechts offene und genaue Inszenierung sorgt dafür, dass es auch wirklich keines ist.

 

Ode
von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Lilja Rupprecht, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Christina Schmitt, Musik: Philipp Rohmer, Video: Moritz Grewenig, Choreografie: Jana Rath, Licht: Kristina Jedelsky, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Katrin Wichmann,  Manuel Harder, Alexander Khuon, Natali Seelig, Juliana Götze, Jonas Sippel, Ensemble, Philipp Rohmer (Live-Musik).
Premiere am 20. Dezember 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist paradox: Thomas Melle schwört auf die Zweckfreiheit der Kunst, auf das Rollenspiel. Doch sein Stück gerät stellenweise selbst mehr zur politischen Meta-Analyse, zum Leitartikel statt zum Theatertext. Das macht den Abend selbst, trotz seiner wichtigen, weit verästelten Analyse, zu verkopft und zu abstrakt", sagt Barbara Behrendt im Deutschlandfunk Kultur "Fazit" (20.12.2019). "Rupprecht fährt einiges an ästhetischen Mitteln auf: (…) Das ist nicht immer schlüssig, doch die Intention wird deutlich: aus dem abstrakten Diskurs Theater entstehen zu lassen." Die Inszenierung gewinne stets dann an Fahrt, "sobald die Regisseurin die Dialogpassagen spielen lässt", so Behrendt: "Doch diese Szenen sind rar – oft wird an der Rampe viel Kluges ins Publikum gesprochen, appelliert, gepredigt." Vor allem im dritten Teil gerate das "allzu schwülstig".

"Melles Text und Rupprechts Inszenierung geben keine simplen Ratschläge und schon gar keine schlichten Antworten. Vielmehr stellen sie, angemessen komplex, die richtigen Fragen", jubelt Christine Wahl im Tagesspiegel (22.12.2019).

"Melle hat geradezu ein Thesenstück wider die Identitätspolitik in der Kunst verfasst, das sich blind macht für alle Kontexte gegenwärtiger Kritik und aus dieser Unschärfe selbst seine Provokation bezieht", schreibt Christian Rakow in der Berliner Zeitung (22.12.2019). "Szenisch steckt wenig drin, dafür umso mehr kunstgeschichtliche Anspielungen und hämmernde aktivistische Kritik, alles grell gezeichnet und in bissige Tiraden gegossen." Aus dem "agilen, gut choreographierten Chor der Fünf" träten die Einzelsprecher heraus: "Wichmann als schwer mürbe zu kriegende Fratzer. Ein großes Solo gönnt sich Manuel Harder als Orlando, wenn er an den 'restriktiven Arschlöchern überall' leidet, mit Tomaten beworfen wird, sich mit den Tomaten blendet, über die Bühne taumelt, wütet, ätzt. Da kommt die Wucht des Textes durch." Später erstarre der Abend.

"Es geht um viel im neu­en Stück von Tho­mas Mel­le", schreibt Simon Strauss in der FAZ (23.12.2019). Es bleibe bis zum Schluss­mo­no­log "ein ge­dan­ken­rei­ches, aber poe­sie­lo­ses Stück Kunst­ak­ti­vis­mus, dem man durch­aus mit in­ne­rer Be­we­gung folgt": "Und dann tritt Alex­an­der Khuon an die Ram­pe, um im ly­ri­schen Ton noch ein­mal kraft­voll zu­sam­men­zu­fas­sen, wor­um es geht: (…) 'Es le­be die Kunst': Die­se letz­ten Wor­te vor dem Dun­kel, zig­fach ge­hört, zig­fach ver­ges­sen – hier hal­len sie nach, hier stif­ten sie an."

"Das Gute an Melles Stück über die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst im Zeitalter von Identitäts-, Geschlechter- und neuer rechter Politik ist, dass es nicht nur kluge Fragen zur richtigen Zeit stellt. Sondern dass es dabei auch das eigene Metier mit seinen (neuen Spiel- und Denkverboten) infrage stellt," schreibt Christiane Dössel in der Süddeutschen Zeitung (24.12.2019). Doch so sprachmächtig, sophisticated und auf Diskurshöhe der Zeit dieser Text auch sei, sinnliches, lebendiges Theater oder gar große Kunst wird aus Sicht der Kritikerin nicht daraus. "Lilja Rupprechts Regie ist der Wille zum grellen Entertainment und die Ergebenheit in den Text anzumerken. Sie setzt dabei auf abgedroschene Mittel."

Bernd Noack schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 23.12.2019, 17.32 Uhr): Die Regie von Lilja Rupprecht spiele "leicht und phantasiereich mit dem Theorie-Übergewicht des Textes". Und sie biete "stimmige Bilder einer Kulturgesellschaft am Rand des Abgangs in die Bedeutungslosigkeit". Rupprecht nehme dem Autor, der einen "recht theaterfernen Text mit tiefen dialektischen Fallgruben" als Auftragsarbeit abgeliefert habe, viel versäumte Arbeit ab, weil es ihr gelinge, mit "tollen Schauspielern" die "vorgegebenen Metaebenen frei und ausgelassen zu be- und überspringen".

Barbara Behrendt schreibt in der taz (online 26.12.2019): In Melles "Ode" werde die Kunstfreiheit von allen Seiten bekämpft. "Von rechts gibt es die Forderung nach Nationalkultur, Brauchtum, Verständlichkeit. Von der linken Seite die Frage nach Repräsentation: Wer darf für wen auf der Bühne sprechen? Was darf gezeigt werden – wenn nur noch politisch korrekte Wunschrealität zugelassen ist?" Es sei ein "halsbrecherisches Unternehmen", aus diesen Debatten ein Theaterstück zu machen. Die Inszenierung gewinne "stets an Fahrt, sobald es ans wahre Spiel geht". Weniger gut gelinge es, Melles abstrakte Monologe "mit Leben zu füllen". Melle schwöre auf die "Zweckfreiheit der Kunst", doch sein Stück gerate "stellenweise selbst mehr zur politischen Meta-Analyse", statt zum Theatertext. "Trotzdem: ein wichtiger, kluger Abend".

 

 

Kommentare  
Ode, Berlin: zwei Stunden Phrasen
Ein Abend, der mich gelangweilt und zunehmend genervt hat: den Text kannte ich nicht, und wusste nicht, worum es hier geht. Eine Handlung oder Charaktere hat das Stück nicht, dann muss mich es anders packen. Aber zwei Stunden lang nur Fragen oder philosophisch anmutende „Phrasen“ zuzuhören und da es nun mal keine Geschichte gibt, einer beliebigen Bebilderung mit Video, Livemusik, Mikroports usw., was so als Füllmaterial nutzbar ist aus dem Baukasten, um dem Vorwurf, es hätte an Fantasie gefehlt bei der “Umsetzung “, zu entgehen, zuzuschauen, ist leider vertane Lebenszeit. Ohne Ironie, Kalauer, ja gut, aber auch ohne Furor das Ganze, vielmehr in die eigene intellektuelle Formulierungs“kunst“ verliebt. Die Regisseurin hätte dem eine sichtbare Struktur geben müssen. Aber so war es dann, dass um mich herum einige Zuschauer ab und zu auf ihre Uhren schauten ...
Ode, Berlin: Tick Tock
Die Bühne ist aber auch eine Uhr, und die tickt, werte Himmlische Marotten. Es ist also egal, wohin Ihre Sitznachbarinnen und Sie so hingeschaut haben. Und? Klingelt's? Der Wecker womöglich? Oder immerhin der Groschen? Ach, es gibt nur noch Cent? Was Sie nicht sagen - aber Sie hatten es, glaube ich, kurz vergessen, nicht wahr? Ciao und beste Grüße, Ihr

Orlando
Ode, Berlin: problematisch, aber lohnend
Der sprunghafte, atemlose, sich oft verzettelnde, mit Anspielungen auf Martin Kippenberger, Andreas Gabalier oder die legendäre „Arturo Ui“-Inszenierung von Heiner Müller, die immer noch im Repertoire des Berliner Ensembles ist, gespickte Text macht es der Regisseurin Lilja Rupprecht schwer, ihn in den Griff zu bekommen.

Die Assoziationen fransen öfter all zu kryptisch aus, dann behilft sich die Inszenierung mit allerlei Videoschnipseln, Tomatenwürfen und Farb-Klecksen, um diese Schwächen zu überdecken. Der zweistündige Abend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters ist aber trotz einiger Sackgassen und Längen sehenswert, da es sich bei der „Ode“ um einen der interessantesten aktuellen Texte für und über das Theater handelt. Die „Ode“ will provozieren und Debatten anstoßen, wenn es sein muss, auch mit schnell hingerotzten, stakkatoartigen Publikums-Beschimpfungen gegen die „youtubeverblödeten Neuneonazis“, die „berufsjugendlichen Selbstironisten“ und die „durchfinanzierten Arztsohnsekttrinker“. In diesem extrem verdichteten Rap-Rundumschlag bekommt das spielfreudige Ensemble aus vier Spieler*innen des DT (Manuel Harder, Alexander Khuon, Natali Seelig, Katrin Wichmann), zwei Gästen vom inklusiven Theater RambaZamba (Juliana Götze, Jonas Sippel) und dem Musiker Philipp Rohmer das nötige szenische Futter, das der sprunghaften Textfläche an vielen anderen Stellen fehlt.

Die „Ode“ ist ein Abend, der es seinem Publikum oft nicht einfach macht. Vor allem in den ersten Szenen, in denen Katrin Wichmann eine Künstlerin spielt, die in „Ode an die Täter“ mit ihrem brutalen Großvater abrechnet, der von den Nazis im KZ ermordet wurde, haben Zuschauer*innen, die sich nicht in die Thematik eingelesen haben, Mühe, in die Inszenierung hineinzufinden. Dementsprechend wanderten einige auch genervt von einem Gewimmel aus Dialogfetzen, satirischen Überzeichnungen und flackernden Videosequenzen recht schnell ab.

Andererseits ist der Abend oft auch überdeutlich: Wen Melle mit der „Wehr“ meint, die anfangs als lustige Trolle in Kettenhemden auftritt und dann zur schlagkräftigen Kampffront mutiert, die die Macht übernimmt, bebildert Rupprecht sehr plakativ. Sie lässt die Truppe vor den längst nicht mehr weißen, sondern mit Tomaten und aufgepinselten Parolen übersäten Wänden aufmarschieren, mit den Postern von Thilo Sarrazin, Alice Weidel und Beatrix von Storch im Rücken. Ihnen hält Alexander Khuon seinen langen Schluss-Monolog entgegen, der im programmatischen Ausruf „Es lebe die Kunst“ gipfelt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2020/01/22/ode-deutsches-theater-berlin-kritik/
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