Sonnen der Aphorismenseligkeit

von Christian Muggenthaler

München, 20. Dezember 2019. Argan, dieser Hypochondrie-Superheld für Fortgeschrittene, wird in PeterLichts Molière-Überschreibung "Der eingebildete Kranke oder Das Klistier der reinen Vernunft" (Mitarbeit: SE Struck) zu einem tatsächlichen Superstar, der inmitten seiner Showcrew einem – wie sich zeigen wird: letzten – Auftritt entgegenfiebert, wiewohl er sich nicht recht wohl fühlt. "Mir geht es grad nich so gut", ist der Refrain des immerwährenden Kreisens eines Mannes um sich selbst, der sich und seine Befindlichkeit ins Zentrum seines Daseins und des Daseins seiner gesamten Entourgage gestellt hat. Ein Kreisen, das den gut zweistündigen Uraufführungsabend des Licht-Stücks auf der Bühne des Münchner Residenztheaters prägt.

Maladheiten eines Chefs

Das beginnt schon mal beim Bühnenbild von Andreas Auerbach: ein runder, mehrstöckiger Wohnturm, der sich in fast ununterbrochener Drehung befindet und die Darsteller dazu zwingt, in ihm die ganze Zeit herumzuhasten, um im Spiel zu bleiben, Etage rauf, Etage runter. Manchmal helfen auch ein zentrales Trampolin zur Beschleunigung oder eine Live-Kamera – die Szenerie wirkt auch ein bisschen wie ein keckes Aleksandar Denic-Zitat. 

Der eingebildete Kranke 1 560 Sandra Then uKreisen, kreisen, kreisen, immer um sich selbst: der drehende Wohnturm von Andreas Auerbach © Sandra Then

Das Kreisen übernimmt aber vor allem die Art der Rede aller Beteiligten: Ihr Sprechen umrundet wie nach einem Urknall der Sprechfähigkeit in Permanenz und Redundanz die zentralgestirnartigen Maladheiten des Chefs, mit teils gestelzten Formulierungen, sehr künstlichen, künstlerischen und köstlichen Manierismen und allerlei Anleihen an Mode-Jargon. Anlassbezogenes Sprechen ohne viel eigenen und eigentlichen Inhalt: Methode Horváth.

Kolikartige Komik

Dieser Textwust, aus dem immer wieder Sonnen der Aphorismenseligkeit oder der valentinesken Sprachjonglage auftauchen, beweist auf Kosten der Erzählung der Originalvorlage, die in all der fädenziehenden Sprachsauce rasch untergeht, mindestens dreierlei: Nämlich dass erstens Schmerz, Krankheit und Leiden sich schnell zum alleinigen Mittelpunkt alles Denkens und Sprechens machen, dass zweitens derzeit überall deutlich viel zu viel geredet wird und dass das drittens nerven kann. Lichts Text spielt mit all diesen Phänomenen, nutzt gewitzt Bla-Sprache (permanent ist "alles gut", wo nichts gut ist, alle Namen bekommen possierliche i-Diminutive, bis selbst der Notar zum "Noti" wird), lässt die Figuren selbst an dem ständigen Wiederholen ihrer ans Inhaltsleere grenzenden Suaden verzweifeln und schlägt mittendrin doch immer wieder mit einer Ernsthaftigkeit zu, die sich den Zuschauern durch Dauerschleifen besonders eindengelt.

Der eingebildete Kranke 2 560 Sandra Then uBarock? Varieté? Oder beides? Die Kostüme von Vanessa Rust. © Sandra Then

Was ist eigentlich wichtig angesichts von Krankheit und Tod? Wie schafft sich Leiden Platz im Leben? Fragen, die man sich ja mal stellen kann. Weil dies alles aber auch und vor allem eine Komödie ist, der Untertitel nicht umsonst vom "Klistier der reinen Vernunft" spricht, Peristaltikprobleme, Lebensmittelunverträglichkeiten und Flatulenzen aller Art gerade groß in Medizinmode sind und der Verdauungstrakt eh unser aller erstes Gedächtnis ist, kommt dieses Stück in München auch ein bisschen daher wie eine literarische Darmspiegelung. Die Komik ist kolikartig, indem sie Pointen immer wiederkehren lässt, der Chor kommt einmal daher wie muntere Darmknöspchen und die Handlung lebt nicht zuletzt von Argans großer Hingabe zu allem, was sich innerhalb seines Leibes abspielt. 

Engel Argan

Regisseurin Claudia Bauer ist es, die dem schwierigen Text eine wilde, schräge, schnelle Schussfahrt ermöglicht, das Kreisgehetze rhythmisch strukturiert, Nonsens auch mal einfach nur Nonsens sein lässt. Des öfteren reitet das Personal eine Pointe auch zu Tode, aber auch das nimmt die Schussfahrt der Inszenierung tapfer mit. Es werden en passant thematisch mehrere Dutzend (womöglich zu viele) Fässer aufgemacht – insgesamt viel weniger eine Bühnenerzählung als eine rundumschlagende Zustandsbeschreibung des Krankseins. Wie exaltiert und crazy das alles ist, machen auch die Kostüme von Vanessa Rust klar, die wie eine Mischung aus Barock und Varieté wirken. Licht hat dem Text Musik beigegeben, oft in 1960er-Bar-Jazz-Anmutung, die Cornelius Borgolte und Henning Nierstenhöfer filigran live interpretieren. Und der finale Abgang des Großkünstlers als eine Art gefallener David Bowie-Engel vom Bühnenhimmel ist schon sehr schön.

Der eingebildete Kranke 3 560 Sandra Then uPeristaltikprobleme, Lebensmittelunverträglichkeiten,  Flatulenzen © Sandra Then

Florian von Manteuffel ist dieser Engel Argan in krankhafter, egomanischer Selbstbespiegelung, ein überzeugender Schnösel wie ein bürgerlicher Sonnenkönig, der seine Umgebung triezt und schurigelt, aber nach hinten hinaus immer weicher wird, weil es um sein ganz spezielles Existenzielles geht. Die Darsteller nehmen die Charaktere der Molière-Grundlage auf und mit, machen daraus aber neue, besonders wunderliche, wuchtige Gestalten in Argans Crew – so beispielsweise Christoph Franken als Arzt Purgon, der den Zynismus der Medizinindustrie auf witzge Spitzen bis hin zur publikumszugewandten Tablettenwerbung treibt oder Antonia Münchow als Töchterchen Angélique (alias "Likki"), die mit ihrem durch und durch dämlichen Teenie-Sprech das Publikum von Beginn an entzückt. Der Abend ist erstrangig ein literarisches Experiment. Und erst weit dahinter eine linientreue Molière-Umsetzung.

 

Der eingebildete Kranke oder Das Klistier der reinen Vernunft
von Peter Licht nach Molière, Mitarbeit SE Struck 
Regie: Claudia Bauer, Bühne: Andreas Auerbach, Kostüme: Vanessa Rust, Musik: Peter Licht, Arrangements und Musikalische Leitung: Henning Nierstenhöfer, Musiker: Cornelius Borgolte, Henning Nierstenhöfer, Live-Kamera: Jaromir Zezula/Josef Motzet, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Constanze Kargl. 
Mit: Florian von Manteuffel, Pia Händler, Antonia Münchow, Thomas Lettow, Myriam Schröder, Max Rothbart, Christoph Franken, Ulrike Willenbacher 
Premiere am 20. Dezember 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause 

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Das ist doch mal ein passendes Stück zu Weihnachten!" ruft Rosemarie Bölts im Deutschlandfunk (21.12.2019) aus. PeterLichts Molière-Überschreibung sei "tiefschürfender als die gängige Konsumkritik in diesen frohen Feiertagen. Er offenbart darin die absolute Egomanie als DNA des kapitalistischen Systems, die zweitausend Jahre christliche Ethik wie Nächstenliebe und soziale Verantwortung obsolet erscheinen lässt. Größer kann die Kopfnuss des Autors ans Publikum in dieser besinnungslosen Zeit nicht sein. Schriller – und schräger – aber auch nicht", so Bölts, die auch die Inszenierung feiert: "Ein wildes Spiel, das die  Regisseurin Claudia Bauer auf dieser Bühne zwischen Trash und Pop treiben lässt.  Bis ins kleinste Detail  inszenatorisch durchkomponiert, rhythmisch durch den jazzigen Bar-Sound der beiden (...) Live-Musiker Cornelius Borgolte und Henning Nierstenhöfer getragen, spannungsvoll bis zum Ende."

Der Text von Peter Licht sei "gar nicht durchgängig auf forcierten Blödsinn ausgerichtet", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (23.12.2019). "Im Kern hat Argans Angst vor dem eigenen Zerfall eine große Schwermut. Es ist die Schwermut einer Gesellschaft, die denen, die nicht funktionieren, nicht mehr zuhören will." Allerdings gehe einem auch in Claudia Bauers Inszenierung bald die Lust verloren zuzuhören, "was nicht nur an Bauer liegt, sondern auch an der Redundanz der Worte und daran, dass Licht gute Ideen mit sehr viel Schaum umgibt", so Tholl, und holt dann doch vor allem gegen die Regisseurin groß aus: "Gäbe es nicht einen gnadenlos konsequenten Regisseur wie Herbert Fritsch, man könnte Bauers Licht-Dampfkochtopf als genuine Erfindung begreifen. Aber es gibt ihn. Deshalb wirkt diese Inszenierung erschreckend epigonal. Aber nicht einmal dagegen wäre etwas einzuwenden, hätte sie Kraft. Hat sie aber nicht. Selbst um sie witzig zu finden, muss man schon guten Mutes sein."

PeterLicht habe "eine vogelwilde Stücküberschreibung verfasst, die einem allein schon beim Durchlesen bald den letzten Nerv raubt", schreibt Michael Stadler in der Abendzeitung (23.12.2019). "Beim Kreiseln um Themen wie Angst, Krankheit und Schmerz ergeben sich Wortwechsel von geradezu valentinesker Anmutung." Dass dieser Klamauk "letztlich zum Vergnügen wird", liege auch daran, "dass Claudia Bauer seinen Text gemeinsam mit Dramaturgin Constanze Kargl ein wenig gesundgeschrumpft hat und das Ensemble zum vollen Ausleben der Farce anleitet", so Stadler: "Um im proktologischen Jargon zu bleiben: Die scheißen sich nichts."

"Der Non­sens ist greif­bar – die Wahr­heit al­ler­dings auch," billanziert Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.12.2019). Zwar gebe es viel Ge­schwät­zig­keit, sehr vie­le, auch sehr lee­re Wor­ten, "grell, schnell und sti­li­siert ins Ab­sur­de ge­trie­ben, von ex­al­tier­ten Ges­ten und skur­ri­len Über­sprungs­hand­lun­gen, ex­tra­ba­rock ge­türm­ten Haar­ar­chi­tek­tu­ren und ex­tra schlecht po­si­tio­nier­ten Kör­per­pols­tern." Am "er­staun­lich ernst­haf­ten End­punkt ei­nes gro­tesk über­dreh­ten Ur­auf­füh­rungs­abends"  schwebe dann  Argan, "ein glit­zern­der Su­per­star als ge­fal­le­ner En­gel tot vom Brokat­ta­pe­ten­him­mel schwebt, mit­ten auf ein Tram­po­lin, das auf den schlaf­fen Kör­per nicht mehr re­agiert."

 

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