Das Hamlet-Maschinchen

von Tomo Mirko Pavlovic

Stuttgart, 20. September 2008. Dieser Hamlet will nicht mehr. Von Anfang an enttäuscht er unsere hochgesteckten Erwartungen. Wenn er um den ermordeten Vater trauern soll, begießt er sich und seine trockenen Augen mit einem Eimer Wasser. Statt seinen Stiefvater im Schlaf zu töten, legt er sich zu ihm und kuschelt. Als ihn Ophelia mit ihrer Liebe bedrängt, zieht er ihre Sandalen an und stöckelt davon. Wo andere Königssöhne über das Schicksal ihres Staates und ihre Verantwortung vor dem Volke sinnieren, geht unser Hamlet in sein Jugendzimmer und weidet einen Teddybären aus.

Aber: von wegen tatgehemmt! Er raucht wie ein Kamin. Robbt durch den Kies. Klettert wie ein Schimpanse. Würgt seine Mutter. Spritzt sich Rotes aufs Hemd. Wühlt in feuchtdunkler Erde. Gibt den Epileptiker. Zersäbelt Puppenköpfe. Ja, er rächt am Ende sogar seinen Vater, tötet den Onkel, irgendwie. Doch sieht es jeder: Dieser Hamlet hat einfach keine Lust mehr. Weder auf die begehrte Prinzenrolle. Noch auf Shakespeare. Und am allerwenigsten aufs Theaterspielen selbst.

Rebellion gegen alle Dänenprinz-Entwürfe

"Ich weiß: Die Haut sollte totenblass, die Augen sollten tränenerfüllt, die Arme, die Beine, die Bewegungen wahnsinnig und die Stimme gebrochen sein. Schauspieler! Für nichts, für eine unwahre Geschichte, für den Schatten eines Schmerzes unterwirfst du deine Seele und deinen Körper deines Verstandes. Für nichts und wieder nichts." Gut möglich, dass sich Ernst Stötzner irgendwann, vielleicht sogar beim ersten Durchblättern von Bernard-Marie Koltès' "Hamlet. Tag der Morde" diesen Prinzen-Monolog dick unterstrichen hat.

Vielleicht aber hatte Stötzner auch schlichtweg keine Lust, sich auf den sperrigen Text einzulassen und rebelliert gleichsam wie viele moderne Hamletentwürfe selbst auf pubertäre Weise gegen den schwer lastenden Auftrag. Dass Koltès' Stück eine nachvollziehbare, wenn auch recht pathetische Reduktion der Tragödie auf die vier zentralen Figuren Hamlet, Ophelia, Gertrud und Claudius offeriert und vieles dafür spricht, den Stoff als blaublütige, elitär versaute Patchwork-Familienvorhölle auf die Bühne zu stellen, interessiert den Regisseur nämlich überhaupt nicht.

Befreiungsversuch auf der Burgkulisse

Stötzner, der preisgekrönte Schauspieler, stellt lieber den Mimen über das Wort. Und inszeniert: einen selten humorvollen, bemüht intelligenten und zumeist peinlichen Befreiungsversuch. Petra Korink bringt für die deutsche Erstaufführung ein chaotisches Filmset mit Burgkulissen und allerlei Alltagsplunder auf die Bühne, umringt von vier Scheinwerfern, die von den Darstellern ab und an auf sich selbst gerichtet werden. Ansonsten ist das Theaterleben eine große Baustelle. Ein illusionsfreier Raum. Hier noch der Sandhaufen (Strand), dort ein paar geschwenkte Wasserflaschen (Meeresrauschen) und dazwischen ein großer Farbeimer (Schminke) – und fertig ist die kaputte Hamletwelt.

Darin verirrt sich Christoph Gawendas unwilliger Dänenprinz, dem nur zwei Handlungsoptionen bleiben: stiller Autismus oder dampfende Leichtathletik. Nadja Stübigers Ophelia hat es noch schlimmer erwischt: Die potentielle Schwiegertochter des frisch getrauten Königspaares wird schon zu einem frühen Zeitpunkt auf das Stichwort "Schminke" hin von Königin Gertrud ordentlich eingestrichen und hüpft fortan als schmierig weißer Spielball zwischen den Attrappen und Intrigen umher.

Claudius (Markus Lerch) darf immerhin den Hofnarren und König mit deutlichen Führungsschwächen geben, erntet dankbare Lacher, wenn er etwa tölpelhaft den Giftkelch mit einem Klebeband markiert oder seinen äußerst eigenwilligen Schnurrbart wie Loriot die Nudel im Gesicht spazieren lässt. Bleibt nur noch Anna Windmüllers Gertrud, die ein klein wenig auf sich aufmerksam macht.

Nicht mehr als die Fußnote zu einem langen Kapitel

Koltès stellt sie ins Zentrum seiner Phantasmagorie, sieht in ihr den Katalysator für die Familientragödie, das dominante, kaum zu durchschauende Muttertier und Kraftweib. Ein Gedanke, wenigstens das. Ansonsten: Putzig altbackene Provokatiönchen. Stötzner will nun mal nicht Koltès, er will das Theater im Theater –  ein Schauspielerneurosenspiel.

Und wenn Koltès der dünne Kommentar zu Shakespeare ist, wirkt Stötzners Inszenierung im Stuttgarter Kammertheater höchstens noch wie eine zweistündige, übersehenswerte Fußnote zum Kapitel: Das deutsche Regietheater der späten 80er und frühen 90er oder Vergesst Hamlet! Die Erstaufführung ist eine Komplettabsage, eine Totalverweigerung an alle Sehnsüchte des "gemeinen", nun geläuterten Publikums, das – so die Hoffnung - noch nie etwas in der Berliner Volksbühne bewundert und erlitten hat, Jürgen Goschs Arbeiten verpasst hat, weder Sarah Kanes Verkleidungsspiel mit den Geschlechtern noch Heiner Müllers "Hamletmaschine" je kennengelernt hat. Eher unwahrscheinlich das. Der Rest ist Abhaken. Und Schweigen.

Hamlet. Der Tag der Morde (DEA)
von Bernard-Marie Koltès, aus dem Französischen von Francois Smesny
Regie: Ernst Stötzner, Bühne: Petra Korink, Kostüme: Christine Mayer. Mit: Christoph Gawenda, Nadja Stübiger, Anna Windmüller,Markus Lerch.

www.staatstheater.stuttgart.de

 

Mehr über Bernard-Marie Koltès, der auf deutschen Bühnen wieder Aufmerksamkeit erregt: erst vergangene Woche gab es in Kassel die deutschsprachige Erstaufführung seines frühen Stücks Trunkener Prozess. Ernst Stötzner trat in den vergangenen Jahren vor allem in den Inszenierungen von Jürgen Gosch als Schauspieler hervor. Nach längerer Pause inszeniert er auch wieder: vor zwei Wochen Mirandolina im Zelt des Deutschen Theater Berlin.

 

Kritikenrundschau

Auf Koltès' "Hamlet"-Bearbeitung hätte man nicht warten müssen, findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (22.9.). Der Stoff sei reduziert auf die Kleinfamilie und handle von einem hysterischen Generationenkonflikt. "Gezeigt werden soll, was passiert, wenn Macht an die Falschen fällt, die Richtigen diese aber nicht haben wollen: In der Familie werden alle wahnsinnig." Stötzner dehne die wenigen Seiten auf abendfüllende Länge, "hat eine große Freude an Verrücktheiten, die hier von den vier höchst motivierten Schauspielern in extensiver Detailfreude ausgebreitet werden." Zwischen "Sandhaufen, Styroporfelsen, großen Kieselsteinen und allerlei zusammengekramten Utensilien" spinnt jeder hier auf seine Weise. Fazit: "Die wahre Anarchie wäre hier, wenn sich jemand normal verhielte. Dabei hätte mit ein bisschen Humor und Leichtigkeit im Wahn eine Erkenntnis aufleuchten können."

"Hamlet. Der Tag der Morde" sei ein "Kondensat, von allem historischen Ballast befreit", so Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (22.9.). Es reflektiert die Stereotypen, "die so selbstverständlich in der Bühnentradition weitergereicht werden." Doch der Regisseur Ernst Stötzner führe diesen Ansatz nicht fort. "Er scheint gar nicht zu wissen, wohin er eigentlich will ... behandelt den Text wie überflüssiges Beiwerk und konzentriert sich auf von ihm erfundenes Spiel." Fazit auch von Braun: "Stötzner hat diesen "Hamlet" wahrlich in den Sand gesetzt."

"Schauspielerei für nichts, für eine unwahre Geschichte, für den Schatten eines Schmerzes" – aus diesem Koltès-Satz bauen Stötzner und das Ensemble einen Abend "voller Verweigerungshaltungen und Sandkastenspiele", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (22.9.). Das Stück schwanke im Ton "zwischen hohem Duktus und heutiger Sprache, zwischen Spiel und Theaterkommentar. Da eine Balance herzustellen – schwere Sache." So würden die Schauspieler "zwei lange Stunden wie irr vor sich hin fuhrwerken", und doch entstünde daraus keine höhere Ordnung.

 

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