Letzte Stunden

von Oliver Kranz

Gent, 5. Januar 2020. Zuletzt hat Milo Rau im süditalienischen Matera einen Jesusfilm gedreht, der das Evanglium als "Revolte der Würde" umdeutet und die Situation afrikanischer Erntehelfer zum Thema macht, die auf den umliegenden Tomatenplantagen wie Sklaven arbeiten. Die Dreharbeiten waren zum Teil als öffentliche Performances angelegt – großangelegte Spektakel mit Hunderten Darstellern. Nun folgt diese kleine, fast schon private Produktion: Zwei Erwachsene und zwei Teenager spielen den realen Selbstmord-Fall der Familie Demeester im französischen Calais nach. Für Milo Rau gehören die beiden Geschichten zusammen: Die Erntehelfer ermöglichen mit ihrer Sklavenarbeit den Wohlstand der Westeuropäer, doch dieser Wohlstand macht nicht glücklich.

Unklare Motivation

Das Motiv der Demeesters ist bis heute unklar. Die vier erhängten sich 2007 im Wintergarten ihres Hauses. Dabei hatte die Familie keine finanziellen Probleme, es drohte keine Trennung und keine schlimme Krankheit. Die üblichen Erklärungen greifen nicht. 1973, als das Stück 'Wunschkonzert' von Franz Xaver Kroetz uraufgeführt wurde, war das noch anders. Bei Kroetz' wird eine Frau aus einfachen Verhältnissen beschrieben, die einsam und entfremdet ihrem Leben ein Ende setzt – ganz klar ein Opfer des kapitalistischen Systems. Die Demeesters hingegen standen auf der Gewinnerseite. Sie hatten ein Haus, ein Auto und zwei Kinder – können also als durchschnittliche westeuropäische Mittelstandsfamilie gelten. Die Frage nach dem Warum ihres Suizids wirkt daher umso bedrohlicher: Trägt das Glücksversprechen unserer Gesellschaft noch?

familie 3064 560 c Michiel Devijver uDer Abend vor dem Ende © Michiel Devijver

Auf der Bühne steht ein Backsteinhaus, das an das der Demeesters erinnert. Durch große Fenster kann man ins Innere blicken. Gleichzeitig wird alles gefilmt und auf eine Leinwand übertragen – Gesichter in Großaufnahme. Der Vater kocht, die Mutter klebt Fotos an die Badezimmertür, die Töchter lernen Englisch im Kinderzimmer. Alles wirkt sehr harmonisch. Trotzdem spürt man eine große Melancholie – der Entschluss zum kollektiven Selbstmord ist bereits gefasst.

Spiel mit dem Authentischen

Die vier spielen die Demeesters und gleichzeitig sich selbst, direktes Spiel und erzählte Passagen sind geschickt miteinander verzahnt. Gleich zum Beginn tritt Louisa, die ältere Tochter, an den vorderen Bühnenrand, spricht aber nicht zum Publikum, sondern in eine Kamera. Sie berichtet, wie sie im Internat, als sie sich einsam und verlassen fühlte, selbst dunkle Gedanken hatte. "Wenn ich eine Pistole hätte, würde ich mir in den Kopf schießen", schrieb sie in ihr Tagebuch. Als sie von ihren Eltern gefragt wurde, ob sie und ihre Schwester nicht Lust hätten, gemeinsam mit den Eltern Theater zu spielen, schlug sie – wie sie auf der Bühne erzählt – ein Stück über den Selbstmord der Demeesters vor.

familie 3207 560 c Michiel Devijver uAn Miller, Louisa Peeters, Leonce Peeters © Michiel Devijver

Gezeigt werden die letzten Stunden vor der Tat. Die Familie isst und schaut sich Videos aus der Kindheit der Töchter an, Aufnahmen, auf denen glückliche Mädchen zu sehen sind, die auf der Couch der Großeltern Quatsch machen oder im Skiurlaub Almdudler trinken. Der Kontrast zur Atmosphäre vor dem Fernsehgerät könnte kaum größer sein. Leonce und Louisa sitzen traurig aneinander geschmiegt auf dem Sofa, ihre Eltern blicken sie liebevoll aber auch ratlos an. Ihre Gedanken sind in Toneinspielern zu hören. Der Vater glaubt, zu viel gearbeitet und sich von der Familie entfremdet zu haben, die Mutter spricht über das Gefühl der Freiheit, das sie empfand, als sie nach der Babypause wieder arbeiten konnte – sie konnte endlich wieder reisen und in brasilianischen Favelas Theater machen! Vor dem Hintergrund der heutigen Klimadebatte, fragt sie sich nun, ob diese Haltung richtig war.

Schock am Schluss

Die Verunsicherung der Eltern ist nachvollziehbar, motiviert aber noch nicht den Selbstmord – zumal die Töchter am Schluss Zweifel äußern. Als die Mutter sie zur Schlinge führen möchte, wehren sich die beiden mit Händen und Füßen – eine Szene, die unter die Haut geht. Milo Rau und seinem Ensemble gelingt eine psychologisch außerordentlich dichte Inszenierung. Nur am Ende geht der Regisseur zu weit: Er zeigt den Selbstmord auf offener Bühne. Eine endlose Minute sieht man die vier an ihren Stricken baumeln – ein Schockbild, das nicht nötig gewesen wäre. Die Geschichte ist ohnehin schon verstörend genug.

 

Familie
von Milo Rau
Mit: Louisa Peeters, Leonce Peeters, An Miller, Filip Peeters.
Regie: Milo Rau; Dramaturgie & Recherche: Carmen Hornbostel; Coach: Peter Seynaeve; Ausstattung: Anton Lukas; Kostümbild: Louisa Peeters, Anton Lukas; Lichtdesign: Dennis Diels; Komposition: Saskia Venegas Aernouts; Videodesign: Moritz von Dungern.
Premiere am 4. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

https://www.ntgent.be

 

 Kritikenrundschau

"Für Milo Rau ist das keine simple Einzeltat einer Familie, es ist ein Beispiel, in dem sich das Symptom einer kranken Gesellschaft zeigt, die sich ihre Zukunft nur als Dystopie vorstellen kann", so Eberhard Spreng im Deutschlandfunk Kultur (4.1.2019). Letztlich könnten weder Philosophie noch Psychologie Milo Raus "Familie" erklären. Am Ende bleibe mit der Frage nach dem Motiv der Tat die noch größere nach dem Sinn des Lebens. "Die ist nicht im Großen und Ganzen zu beantworten, sondern in der Freude an den kleinen Dingen, Gerüchen, Gefühlen, individuellen Vorlieben."

"Eine Form emotionaler Erpressung ohne Erkenntnisgewinn" hat Till Briegleb erlebt, wie er in der Süddeutschen Zeitung (7.1.2019) schreibt. Die Empathie des Zuschauers werde speziell "durch die Anwesenheit der beiden lieben Mädchen gequält, nur um schließlich die steile These illustriert zu bekommen, eine Tat wie die der Demeesters brauche keine Gründe". Für eine "halbwegs analytische Betrachtung von destruktiven psychosozialen Prozessen ist Milo Raus kontralogische Verlaufsbeschreibung einer suizidalen Tendenz des Alltags völlig unbrauchbar und nur auf Schauereffekt hin inszeniert". Rau trete "auf die Gefühlstube, bis sie leer ist".

Regisseur Milo Rau liebe das "ethical minefield", schreibt Laura Cappelle in The New York Times, die der Abend zunächst eine halbe Stunde lang noch kalt gelassen habe. Wie so oft sei auch hier die Verschiebung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion Raus Programm – vor allem, wenn sich die Figur der Louisa gegen Ende mit ihrer Verzweiflung über eine Welt, die "broken" und "sick" sei, direkt an das Publikum wende. Damit werde klar, dass der Schrecken hier nicht aus dem "Mysteriösen" des kollektiven Selbstmord komme, sondern hausgemacht sei.

Grete Götze von der FAZ (8.1.2020) schreibt, die Selbstmord-Szene am Schluss beweise, dass Rau seinem Ursprungsplan treu bleibe: "nämlich die westlich-saturierten Zuschauer auf ihre eigene Passivität aufmerksam zu machen". Rau lasse an diesem Abend "seziergenau spielen, so dass die Inszenierung durchaus eine poetische Kraft entfaltet". Zu ihren Gunsten verzichte er diesmal darauf, die entscheidenden Fragen der Existenz mit Moralsauce zu überziehen. "Die Motive für die Tat bleiben auch hier unklar. Der Zuschauer verlässt das Theater und steht vor den Rätseln dieser Welt."

"Ist der der­zei­ti­ge ge­sell­schaft­li­che En­nui, die gro­ße eu­ro­päi­sche Er­mü­dung, ei­ne ver­dünn­te Form der De­mee­ster­schen Wei­ge­rung, wei­ter­zu­le­ben und fort­zu­funk­tio­nie­ren? Kann es sein, so fragt Rau, dass die­se Fa­mi­lie gar nicht au­ßer­or­dent­lich un­glück­lich war – son­dern nur ex­em­pla­risch leer, mut­los und jeg­li­cher Wie­der­ho­lung über­drüs­sig?", fragt Peter Kümmel in der Zeit (9.1.2020). "Mi­lo Rau er­zeugt auf der Büh­ne ein Hand­lungs­va­ku­um, des­sen Un­ter­druck uns al­len die Sie­gerar­ro­ganz ab­sau­gen soll. Das ist so bei­läu­fig und 'klein' ge­spielt, dass man es nur als Auf­for­de­rung ver­ste­hen kann, es ins Ma­xi­ma­le zu über­set­zen: An­ge­nom­men, es gin­ge mit der Mensch­heit heu­te Nacht zu En­de – könn­te es pas­sie­ren, dass der ty­pi­sche West­eu­ro­pä­er oh­ne viel Auf­he­bens ein letz­tes Mal die Kü­che auf­räum­te und zu Bett gin­ge? Und aus ei­ner gro­ßen Ver­le­gen­heit, dem Wei­ter­ma­chen, be­freit wä­re?"