Nicht jeder Satz also eine Tragödie

von Otto Paul Burkhardt

Stuttgart, 20. September 2008. Die Welt ist ein öder Ort – die Autorin beschreibt ihn als "trostlose Gegend am Kanal". Im Depot, der Experimentierfiliale des Stuttgarter Staatsschauspiels, ist es jetzt eine triste, versiffte Bretterfront. Ein verkommenes Ufer sozusagen, doch den Kanal und das Wasser dazu muss man sich schon selber denken.

Karg, trocken, unpathetisch: So inszeniert Annette Pullen, zuletzt am Hamburger Thalia engagiert, Dea Lohers vielgespieltes Stück "Fremdes Haus" von 1995. Die Geschichte vom mazedonischen Auswanderer Jane, der in dieser trostlosen Gegend (Loher-Experten raunen, es sei der Berliner Teltow-Kanal) seinen verehrten Legenden-Helden Risto aufsucht, kommt im Depot vor allem sehr beiläufig daher.

Verwitterter Campingstuhl-Buddha

Die geradezu antike Wucht, die dumpfe Bühnenschwere, mit der diese Studie über Politik, Familie und Deformation oft inszeniert wird, fehlt in Stuttgart fast völlig. Stattdessen steigt Pullen in locker erzählendem Tonfall ein, was den Stoff viel unmittelbarer zugänglich macht. Nicht jeder Satz also ist eine Tragödie. Insofern darf Jane bei Bijan Zamani zunächst ein wolkenlos netter, freundlicher, unaufdringlicher junger Ankömmling sein. Und Risto, den Jane gezielt aufgesucht hat, wirkt bei Michael Stiller wie ein verwitterter, ruppiger Campingstuhl-Buddha, der Kette raucht und des öfteren "picka ti majcina" poltert.

Im Folgenden enthüllt der Loher-Plot ein ganzes Netz an schuldhaften Verstrickungen, die bis zur Flucht Ristos vor dem Tito-Regime zurückreichen. Und hier, an diesem öden Ort fern der alten Heimat, beobachtet Risto machtlos den Zerfall seiner Restfamilie. Die hat sich eigentlich längst mit diesen und anderen Traumata arrangiert: Risto, der Ex-Partisan und Kämpfer, hält an seiner Lebenslüge fest, ein Held zu sein. Terese, Ristos Frau (Marietta Meguid), betreibt Prostitution als eine Lebensform der Unabhängigkeit.

Reise in die Vergangenheit

Ihre träumerische Tochter Agnes (Claudia Renner) hat ausgerechnet den fanatischen Jörg geheiratet (Till Wonka), den Mann, der ihr Bein kaputtgefahren hat – "es war ein Geschäft", heißt es irgendwann. Nach und nach entpuppt sich Risto als Verräter, der seine Flucht damit erkauft hat, dass er einen Freund der Lagerhaft auslieferte – auch Risto beteuert: "Es war ein Geschäft."

Weil Regisseurin Annette Pullen nicht dunkel-schwer, aber auch nicht folkloristisch-verharmlosend vorgeht (andere Regisseure blenden Balkanmelodien ein, Pullen bevorzugt kurze Punk-Sequenzen), gewinnt die Enthüllungs-Story phasenweise eine zunehmend dichter werdende Härte. Pullens Erzählstil handelt zwar von den Loher-Essentials "Gewalt, Schuld, Verrat, Freiheit" – die jedoch erstarren nie zu drückenden Blöcken, sondern bleiben eher im Fluss. Denn niemand, das scheint Pullen via Loher zu suggerieren, ist ganz ohne Schuld.

Trotziger Glücksversuch

Noch etwas zeichnet die Regie aus: Sie entmythologisiert den Text behutsam. Der Prolog mit dem Bericht vom Zug der geblendeten Soldaten des Zaren Samuel bleibt erhalten, der Epilog mit dem "Traum des Falken" entfällt. So ambitioniert der Lohersche Traumschluss gemeint sein mag: In der Stuttgarter Inszenierung vermisst man ihn nicht – die von Pullen unprätentiös entwickelte Reise in die Vergangenheit hätte durch einen angehängten Freiheitsmythos an Flughöhe verloren.

Nach dem furchtbaren Geständnis Ristos gelingt es der Regie, die Geschichte wieder in eine alltäglich-melancholische, wenn auch beschädigte Schwebe zu versetzen. Am Ende entfernt sich der desillusionierte Jane lieber vom Risto-Clan und verdingt sich als Putzhilfe bei der unabhängigen Nelli (Lisa Wildmann). Die bietet ihm immerhin eine Heirat an – um Janes Ausweisung zu verhindern. Jane hofft "darauf, dass wir uns verstehen". Doch Nelli bremst derlei aufkeimenden Optimismus lebensweise "Von Verständnis habe ich nichts gesagt." In Annette Pullens Regie sieht das wie das Ende eines Chaplin-Films aus, wie ein trotziger Glücksversuch ramponierter, schief lächelnder Existenzen.

Fremdes Haus
von Dea Loher
Inszenierung: Annette Pullen, Ausstattung: Iris Kraft. Mit: Bijan Zamani, Michael Stiller, Marietta Meguid, Claudia Renner, Till Wonka, Lisa Wildmann.

www.staatstheater-stuttgart.de

 

Mehr über Arbeiten der Regisseurin Annette Pullen? Hier geht es zur Nachtkritik ihrer Mageburger Inszenierung von Goethes Iphigenie auf Tauris im März 2008. Hier dagegen lesen Sie, wie eine andere Regisseurin, Jette Steckel, das Dea-Loher-Stück aufgefasst hat, und zwar im Februar 2008 in Köln.

 

Kritikenrundschau

Es seien nicht die "regieführenden Schauspielstars" Thomas Dannemann und Ernst Stötzner, es war die junge Regisseurin Annette Pullen, die dem Theater in der kleinsten Spielstätte, dem Depot, mit "Fremdes Haus" eine außergewöhnliche Produktion schenkt, so Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (22.9.). Die Themen Liebe, Tod, Stolz, Verrat würden in Lohers Stück interessieren, "jegliche Anflüge von Sentimentalität werden durch Sarkasmus gebrochen", es enthalte sich jeglicher selbstgerechter Schuldzuweisungen. Der Regisseurin Annette Pullen gelingt es, "die lauernden Aggressionen der Figuren auszuleuchten". Stimmungen wechselten von Augenblick zu Augenblick, "ein gut ausgelotetes Spiel aus Anziehung und Abstoßung", und "die genau choreografisch inszenierten Bewegungen erzeugen eine Dramatik, die einen den Abend mit Herzklopfen verfolgen lassen".

Tim Schleider sieht in der Stuttgarter Zeitung (22.9.) in Lohers Stück auch Schwächen, die eine Aufführung nicht "zwingend" machen. Wenn das Stück trotzdem "eindrucksvoll und absolut sehenswert" geraten ist, ein "Gewinn für den Stuttgarter Spielplan", dann liege das vor allem an der "ruhigen, überaus sorgfältigen, fast immer punktgenauen" Inszenierung von Annette Pullen und den formidablen Darstellern, so Schleider. Am Ende werde das Stück durch Pullen nicht "exotisch", sondern "real".

Ebenfalls nur Lob von Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (22.9.). "Fremdes Haus" sei eine Studie in Präzision und Schauspielerführung. "Damit befreit Pullen den 13 Jahre alten Text vom Flugrost eines bloßen Zeitstücks." Jane, der vor dem Krieg nach Deutschland geflohen ist, will Geld verdienen und Verwandte besuchen. "Doch deren Lebensglück ist pure Behauptung." Dieser Jane sei auch ein Hamlet, "einer, der das Richtige tun will, aber die falschen Fragen stellt." Und Pullen brauche kaum Ausstattung für diese "zeitlose Parabel über die Unmöglichkeit des richtigen Lebens im Falschen".

 

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