Karussell: Zeitgenössische Positionen russischer Kunst - Festspielhaus Hellerau Dresden
Einladung an Russlandversteher
von Michael Bartsch
Dresden, 10. Januar 2020. Die Verunsicherung ist bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber den russischen Gästen im Festspielhaus Hellerau spürbar. Sie sind zumindest den Ossis noch vertraut und doch seltsam fremd geblieben, östlich anders und doch überraschend ähnlich in der Adaption westlicher Entwicklungen. Ihre Experimentierfreude überrascht auch immer wieder. Weil man sich bei den räumlichen Gegebenheiten des Festspielhauses Hellerau der Nähe gar nicht entziehen kann, entsteht eine unmittelbare Herausforderung.
Ästhetische Überraschungen
Die junge Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch erinnerte zum Auftakt des zweiwöchigen "Karussell"-Festivals an die mit der Berufung von Intendantin Carena Schlewitt verbundene Intention, die Blicke verstärkt wieder nach Osten zu richten. Schlewitt berichtete denn auch von den intensiven Vorbereitungen für das Festival zeitgenössischer russischer Kunst seit 2018. Ko-Kurator Johannes Kirsten beispielsweise recherchierte nicht nur in die Metropolen Moskau und St. Petersburg, sondern auch in Kasan, Krasnodar oder Nowosibirsk.
Bei der Zusammenstellung des bis zum 25. Januar andauernden Hellerauer Festivals dominieren die performativen Künste. Musik ist mit Beiträgen vom Streichquartett bis zur Techno-Party vertreten, und drei Installationen begleiten die beiden Wochen, darunter ein schrittweise entstehendes Wandbild. Workshops, Diskussionen und ein ganztägiges Theaterforum am 18. Januar runden das Programm ab. Aber nicht von ungefähr bestimmten zwei Theateraufführungen den Eröffnungsabend am Freitag.
"Prosa": Musiktheater jenseits der Genrebezeichnungen
Musiktheater im weitesten Sinn und in jeder Hinsicht eine ästhetische Überraschung ist "Prosa". Komponist und Regisseur Vladimir Rannev arbeitet hauptsächlich als Hochschullehrer in St. Petersburg. Interessanter ist, wo er seine mehrfach preisgekrönte Oper inszeniert hat, die streng genommen keine Oper ist. Das Moskauer "Elektroteatr Stanislawski" trägt zwar den Namen des großen Stilbildners und Theatertheoretikers, der am Vorgänger dieses Theaterbaus tatsächlich wirkte. Längst aber haben auch Postdramatik oder episches Theater hier ihren Platz. Neben dem Sprechtheater gilt es heute als das wichtigste Laboratorium des zeitgenössischen Musiktheaters in Russland. Jedenfalls führt es ausschließlich Kompositionen der Gegenwart auf.
Vladimir Rannev fügt in seinem Eineinhalb-Stunden-Werk scheinbar Unvereinbares zusammen. Die eine Geschichte "Der Bräutigam" von Yury Mamleev beschreibt zunächst banal, dann immer psychologisch tief gehender die Folgen eines Autounfalls, bei dem das Ehepaar Kondratov seine siebenjährige Tochter Nadja verliert. Ihren Schmerz kompensieren die Eltern, indem sie ihre Zuwendung auf den gestörten Täter Wanja, ein Waisenkind, projizieren und ihn adoptieren. In der Parallelgeschichte "Die Steppe" von Anton Tschechow muss sich der Junge Jegoruschka gleichfalls in eine neue ländliche Umgebung bei Verwandten einleben.
Raffiniertes Bühnendesign
Die eingesetzten Mittel verblüffen. Der große Saal des Festspielhauses ist bewusst auf eine Guckkastenbühne von höchstens drei Metern Höhe reduziert worden. Dreifach gestaffelt eröffnet sich ein komponierter Bühnenraum. Über ein raffiniertes Spiegelsystem werden unterhalb sitzende Chorsängerinnen gezielt eingeblendet. Dahinter erzählt eine unsichtbare Bildwand mit einfallsreichen, an Cartoons erinnernden Animationen von Marina Alexeeva die Geschichte von Wanja und Nadja.
Geschickt treten die lebenden und singenden Figuren immer wieder in diese zweidimensionale Videoerzählung hinein. Der Hintergrund schließlich ist mit Kissen gepolstert. Als der adoptierte Wanja in seiner neuen Gastfamilie zum Haustyrannen mutiert und ein Leben "wie Gott in Frankreich" führt, geben diese Kissen zum Finale ein kitschiges Idyll frei.
Wer nur auf die deutsche Videoerzählung angewiesen ist, bemerkt nicht, dass auch die Akteure der Mamleev-Geschichte die überwiegend naturbeschreibenden Tschechow-Texte singen. Technisch wird ihnen dabei Enormes abverlangt, denn es gilt im Zusammenklang von kleinem Chor und Solisten auch die schrägsten Intervalle zu treffen und durchzuhalten. Das pausenlose Bombardement mit A-Capella-Gesang strengt auch die Zuschauer an, bevor das Scheinidyll in leiseren Tönen beinahe apotheotisch erscheint.
Nonkonform, aber nicht nur rebellisch
Völlig anders verläuft das im Festivalverlauf noch mehrfach zu sehende Zimmertheater "Kwartira". Es knüpft an die Tradition der Petersburger Künstlergruppe "Oberiu" aus den 1920er Jahren und ihre berühmten Wohnungsgespräche an. Ein inklusives Projekt mit Behinderten, bei dem auch die Zuschauer die erzählten und illustrierten Märchengeschichten weiterspinnen dürfen. Gar nicht artifiziell angelegt, sondern einfach, fantasievoll und sympathisch.
"Prosa"-Regisseur Vladimir Rannew sprach öffentlich davon, in seiner Arbeit den heutigen Stand der Dinge und die psychologischen und soziologischen Gründe des Lebens in Russland finden zu wollen. Im Gespräch wird deutlicher, dass er damit ein mafiöses Putin-System und eine Kunst im Zeichen des Protestes meint. Das ist zum Auftakt eine klare Haltung, auch wenn Kurator Johannes Kirsten die Gastspiele der kommenden beiden Wochen nicht nur unter das westeuropäische Klischee "oppositionell" gegenüber "systemnahen" Traditionalisten fassen will.
Karussell: Zeitgenössische Positionen russischer Kunst
10. bis 25. Januar 2020
Festspielhaus Hellerau
Prosa
Regie und Komposition: Vladimir Rannev, Ausstattung: Marina Alexeeva
Licht: Sergei Vasilyev,Musikalische Leitung: Arina Zvereva.
Mit: N’Caged Ensemble: Sergei Malinin, Dmitry Matvienko, Olga Rossini, Arina Zvereva; Stanislavsky Electrotheatre Chor: Alina Gorina, Alyona Kakhuta, Tatyana Perevalova, Maria Menshenina, Ilona Bul, Alyone Fyodorova, Yelena Byrkina.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
Kvartira
von Boris Pavlovich, Übersetzung: Irina Bondas
Regie: Boris Pavlovich, Ausstattung: Ekaterina Andreeva.
Mit: Ekaterina Alekseenko, Stanislav Belsky, Anastasia Beshliu, Anna Vasilyeva, Vlad Dyurin, Julia Zakharkina, Ksenia Zakharova, Maria Zhmurova, Dmitry Krestyankin, Alexandra Nikitina, Akim Norlander, Maxim Slesarev, Pavel Solomonik, Catherine Taran, Tatyana Filatova, Anton Flerov, Aleksey Vostrikov.
Dauer: 40 Minuten, keine Pause
www.hellerau.org
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