Sind wir nicht alle ein bisschen Bovary?

von Willibald Spatz

Augsburg, 11. Januar 2020. Das Stück "Bovary, ein Fall von Schwärmerei" ist keine Romanadaption. Die Autorin Ivana Sajko bezeichnet es selbst als Cover-Version. Sie spinnt die Motive aus dem Flaubert'schen Roman weiter bis in die Gegenwart oder bis zur zeitlosen Allgemeingültigkeit. Gleich am Anfang heißt es: "Wir sind in der Provinz. Im Wohnzimmer des Arztes für Allgemeinmedizin, das sie geschmackvoll eingerichtet hat. Doch schon im nächsten Augenblick könnten wir irgendwo anders sein. In Paris, im Jahr 1857. In Berlin, im Jahr 2026. Es ist wichtig, dass es nicht gerade jetzt ist und nicht hier, denn die Welt ist ein hässlicher, grausamer und langweiliger Ort."

Liebe in Zeiten des Konsumzwangs

Vor allem drei Dinge interessieren Ivana Sajko am Original: Die Langeweile, die Emma Bovary aushalten muss, der Konsum, mit dem sie diesem beizukommen versucht und die Liebe, die sie für die Erlösung von allem Übel hält. Dabei ist Ivana Sajko als Autorin offen für eine Weiterentwicklung ihres Stoffs. Eine Kritikerin habe sich nach der Uraufführung 2016 in Zagreb beschwert, man solle Emma Bovary nicht allzu schnell wegen ihres Konsumverhaltens verurteilen. Ivana Sajko änderte daraufhin einige Passagen.

Bovary1 560 jan pieter fuhr uOhne feste Rollenzuschreibung: Ute Fiedler, Karoline Stegemann, Jeanne Devos © Jan-Pieter Fuhr

Die Regisseurin der deutschsprachigen Erstaufführung, Nicole Schneiderbauer, verteilt den Text nun auf drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler. Manchmal sprechen sie im Chor, manchmal allein ganze Dialoge, dann sind mal alle drei Männer Charles Bovary und die Frauen Emma. Oder ein Mann Emma und eine Frau Charles. Es gibt keine Rollen- und auch keine Geschlechterzuschreibungen. Jeder ist Bovary und Bovary steckt in allen von uns. Man kennt das doch: die Spannung, die einen innerlich schier zerreißt, wenn nichts passiert. Gleich zu Beginn bauen sich alle um die Spielfläche auf, Ute Fiedler tritt in die Mitte, und dann herrscht Schweigen. Eine qualvolle und zugleich auch wunderbare Leere, die sich nur langsam auflöst.

I am sorry, I don't waltz

Hier wird nicht chronologisch, sondern rein assoziativ erzählt. Während der ersten zehn Minuten ist schon von Emmas Selbstmord die Rede, ihr Tod kommt immer wieder vor, mal nachgestellt, mal als bloßes Gedankenspiel. Dazwischen unter anderem Flirtszenen mit Rodolphe, einem Großgrundbesitzer, in diversen Ausführungen. Zuerst angelehnt an einen Film von Vincente Minnelli aus dem Jahr 1949 auf einem Ball in einem Schloss. Es wird Walzer getanzt. Sehr ungelenk und hilflos. Emma sagt nämlich "I am sorry, this is a waltz and I don't waltz". Dennoch lässt sie sich hinreißen. Dann wie im Original von 1856, wo Emma dem Mann auf einem Viehmarkt begegnet, wo er mit "Lackschuhen durch die Kuhscheiße" geht. Bovary-Variationen, die am Ende aufs Selbe hinauslaufen: Unglück, Verzweiflung, Suizid.

Bovary4 560 jan pieter fuhr uVariationen mit bekanntem Ausgang: Ute Fiedler, Klaus Müller © Jan-Pieter Fuhr

Alle Schauspieler*innen bewegen sich extrem kunstfertig, tänzerisch von Bild zu Bild. In dem Maße, wie Flauberts Roman als Musterbeispiel des Realismus gelten mag, so artifiziell und somnambul ist diese Aufführung. Dazu tragen auch das wunderbare Bühnenbild von Miriam Busch und die darüber gelegten Schwarz-Weiß-Videos von Stefanie Sixt bei. In einem Fliederhain mit wuchtigen, knorrigen Ästen ist ein Parkettboden verlegt. Zwischen den Ästen schimmern manchmal die Glühbirnen einer Lichterkette, der Parkettboden wird nach und nach in seine Einzelteile zerlegt; die Holzteile verwandeln sich in ein Sterbebett oder – übereinander gestapelt – zum wackligen Untergrund.

Auf leise Passagen folgen laute. Ein Konsummonolog des Kaufmanns Lheureux wird über krachende Beats durchs Mikrofon gesprochen. "Frauen, die glauben, dass einen Luxusgegenstände retten können. Frauen, die glauben, dass es so etwas wie einen günstigen Preis gibt. Frauen, die sich irren. Frauen, die einfach kaufen müssen." Die Schauspieler*innen werden im Video mit sich selbst überblendet. Auf die Langeweile folgt die Reizüberflutung. Und nach und nach entsteht ein Sog, dem man gern erliegt. Nicole Schneiderbauers Inszenierungsstil und Ivana Sajkos Text bereichern sich gegenseitig, so dass am Ende gar nicht mehr wichtig ist, wieviel Bovary im einzelnen steckt. Irgendetwas berührt einen immer.

Bovary, ein Fall von Schwärmerei
von Ivana Sajko (aus dem Kroatischen von Alida Bremer)
Deutschsprachige Erstaufführung
Inszenierung: Nicole Schneiderbauer, Bühne & Kostüme: Miriam Busch, Video: Stefanie Sixt, Musik: Ellen Mayer, Choreografische Unterstützung: Minako Seki, Dramaturgie: Kathrin Mergel.
Mit: Jeanne Devos, Ute Fiedler, Klaus Müller, Roman Pertl, Thomas Prazak, Karoline Stegemann
Premiere am 11. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

Aus Flauberts Stilideal werde ein Stilgemisch, schreibt Berndt Herrmann im Donaukurier (13.1.2020). Die Handlung reduziere sich auf Emma und das zentrale Thema der Langeweile. "Die sei, so erfährt der Zuschauer gleich zu Beginn, immer und überall", und weil sie jeden treffe, "sind die Figuren völlig entpersonalisiert". "Was aber bleibt außer dem Thema der Langeweile, die relativ schnell auch den Zuschauer erfasst?" Flaubert sei einst vorgeworfen, sein hoch gepriesener Realismus erfasse im Grunde nur die innere Wirklichkeit Emmas, die gesellschaftlichen und historischen Umstände seien unterbewertet. "Bei Ivanka Sajko ist davon nun gar nichts mehr übrig." Vielleicht sei die Inszenierung von Nicole Schneiderbauer auch deshalb als moderate Performance angelegt, "weil so die Leerstellen des Stücks überdeckt werden könnten". Fazit: Aus einem großen Roman werde auf der Bühne wieder eine kleine Geschichte.

 

Denjenigen, der den Roman nicht kennt, so Sabine Leucht in der Süddeutschen Zeitung (online 14.1.2020), "wird der Abend vermutlich reichlich verwirrt entlassen". Regisseurin Nicole Schneiderbauer gehe es weniger um die Inhalte als um die Atmosphären: "Einzelne Textbausteine werden elektronisch vertont und die ganze, von Stefanie Sixts malerischen Schwarz-Weiß-Videos überzogene Bühne sirrt, kracht und tönt". Das lade "zum Träumen ein, zum Nachdenken aber kaum".

 

"Die allermeiste Zeit spielen die Schauspieler nicht die Figuren des Romans", zeigt sich Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen (13.1.2020) eher enttäuscht, "sondern erzählen von ihnen – und das mit einer Distanz, die alle Emotionalität abwürgt". Schneiderbauer liefere ein "Erzähltheater", das "manches Mal wie ein Schachspiel" anmute, "nie richtig in die Gänge" komme und "das meiste als bloße Behauptung" stehen lasse.

 

 

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