Sieg des Systems

von Michael Wolf

Berlin, 16. Januar 2020. Andrea Breth will die Bühne gar nicht mehr verlassen. Während die meisten Regisseure sich – sei es aus Schüchternheit, sei es aus Koketterie – nur einmal kurz mit ihren Ensembles verbeugen, bleibt sie inmitten ihrer Spieler stehen, schubst sie einzeln an die Rampe, applaudiert selbst dem Publikum eifrig. Da scheint sich jemand ehrlich zu freuen, wieder zurück zu sein. Breth war in den Neunzigerjahren künstlerische Leiterin der Schaubühne, wechselte dann nach Wien, wo sie die letzten zwanzig Jahre regelmäßig am Burgtheater arbeitete. Damit ist nun, da Martin Kušej die Burg leitet, Schluss. Nach Berlin mitgebracht hat Breth einen Nestroy für ihr Lebenswerk und Yasmina Rezas Stück "Drei Mal Leben".

Karrieren und Ehen stehen auf dem Spiel

Der Astrophysiker Henri (Nico Holonics) und seine Frau Sonja (Constanze Becker) empfangen die Finidoris zu Besuch. Eigentlich sollten die Gäste erst am nächsten Tag kommen, weswegen es statt eines Festmahls nur ein paar Snacks gibt. Ungünstige Bedingungen sind das, wollte Henri den weitaus erfolgreicheren Wissenschaftler Hubert Finidori (August Diehl) doch eigentlich dazu bewegen, ihm eine Beförderung zu verschaffen. Und es kommt noch schlimmer. Hubert erzählt von einem gerade veröffentlichten Paper, das Henris Forschung wertlos macht. Aber hier stehen nicht nur Karrieren auf dem Spiel, sondern auch die Ehen der beiden Paare.

DreiMalLeben2 560 Bernd Uhlig uMit Constanze Becker, Nico Holonics, Judith Engel und August Diehl: Andrea Breths "Drei Mal Leben" am Berliner Ensemble © Bernd Uhlig

Rezas Stück spielt das Szenario, daher der Titel, in drei Varianten durch. Die Figuren verfolgen mit jeweils leicht anderen Haltungen und Strategien ihre Ziele, zeigen sich diplomatischer, offener oder geschickter. Im ersten Teil lässt sich Henri von der Hiobsbotschaft total zerstören, was den Hohn seiner Frau herausfordert. Im zweiten behauptet er sich stolz; hier sieht sich Hubert als Sadist enttarnt, der sich an der Schwäche anderer labt. Aus der erhofften Affäre mit Sonja wird nichts, zudem hat sich seine verhuschte Gattin (Judith Engel) reichlich Mut und Rage angetrunken.

Möglichkeits-Kollision

Das Stück, von Luc Bondy im Jahr 2000 erstmals auf Deutsch inszeniert, reiht sich nahtlos in das dramatische Gesamtwerk Rezas ein. Sie konstruiert mit Vorliebe Labor-Situationen wie ein solches Treffen zweier Paare, lässt die Figuren – stellvertretend für Weltsichten – aufeinander los und die Situation sodann kontrolliert eskalieren. Alkohol, Eifersucht und Wut sind die dramaturgischen Katalysatoren. Verstehen wir das missglückte Dinner als System, hängt dessen Ausgang schon von kleinen Verhaltensänderungen der Figuren ab. Es könnte auch 300 Leben geben, alle verliefen sie unterschiedlich. Reza spiegelt das Szenario inhaltlich mit der Forschung Henris. Sein Paper handelt von den Gesetzmäßigkeiten, die dem Universum seine Stabilität verleihen.

DreiMalLeben2 560 Bernd Uhlig uDie Chemie stimmt nicht bei diesem missglückten Abendessen: "Drei Mal Leben" © Bernd Uhlig

Raimund Orfeo Voigt nimmt dieses Motiv auf und verteilt ein paar Ledermöbel auf seiner Drehbühne vor dem leeren, schwarzen Raum im Hintergrund. Die Charaktere wechseln immer wieder die Plätze auf den Sesseln, paktieren mal mit diesem oder jenem, im Kampf um berufliche Anerkennung, Würde, Selbstbehauptung. Wobei das Wort Kampf eher die Not der Figuren im Stück beschreibt denn die Dramatik der Inszenierung von Breth. Keine Schwerkraft wirkt, kaum Spannung ist zu spüren, auch zahllose Pointen bleiben ungenutzt.

Um die eigene Achse

Constanze Becker gibt ihre Sonja solide, fast pflichtschuldig. Mal ist ihre Figur wütend, mal illoyal, mal liebevoll. Sie spielt das alles, weil sie es halt kann, ein tieferer Grund ward nicht zu erkennen. Der Stargast und treue Breth-Begleiter August Diehl ist in seinen besseren Moment ein herrlich arrogantes Arschloch und ruht sich in den schlechteren auf dieser Leistung aus. Judith Engel macht noch am meisten Spaß, sie bringt ihre gedemütigte Hausfrau mit jedem Promille mehr auf Touren. Nico Holonics schlägt sich tapfer durch Hoffen und Bangen seines Henri, markiert aber eher dessen Tragik, als dass sie spürbar würde.

Die Chemie stimmt nicht. Mit dem Gesicht zum Publikum sitzen sie in ihren Sesseln. Alles ist gut zu sehen, aber beobachten sie sich überhaupt gegenseitig? Da ist keine Freude zu spüren an den Kollegen, da erscheint der Text des anderen nur als Stichwort für die eigene Replik. Sie spielen nicht miteinander, sondern aneinander vorbei. So zeigt sich immerhin noch ein weiteres System, ein viertes Leben, das einer Inszenierung, in der die Akteure nicht zusammen finden, und sich so nur um die eigene Achse drehen. Da sackt im Auditorium ein ums andere Kinn auf die Brust, da verabschieden sich die Gedanken in unendliche Weiten.

Drei Mal Leben
von Yasmina Reza
aus dem Französischen von Eugen Helmlé
Regie: Andrea Breth, Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Mitarbeit Bühne: Leonie Wolf, Kostüme: Françoise Clavel, Musik: Bert Wrede, Licht: Benjamin Schwigon, Alexander Koppelmann, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Constanze Becker, August Diehl, Judith Engel, Nico Holonics.
Premiere am 16. Januar 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Eine risikoarme, kontrollierte und abgefederte Fingerübung für alle Beteiligten − auch für das Publikum", mit der man gleichwohl nichts "falsch gemacht" habe, hat Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (online 17.1.2020) am BE erlebt und schreibt es in einem Doppelbericht gemeinsam mit Doris Meierhenrich über die Kennedy-Premiere an der Volksbühne auf.

"Trotz der Spielfreude, den Slapsticks, den hübschen Bosheiten wirkt Andrea Breths in jeder Minute bewundernswert fein, klar, genau gearbeitete Inszenierung seltsam aus der Zeit gefallen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (18.1.2020). Die Aufführung gerate "bei aller glänzenden Könnerschaft dann doch etwas harmlos".

Andrea Breth "setzt dem spannungslosen Charakter des Stücks nichts entgegen, lässt es vielmehr um der leichten Lacher willen einfach laufen. Amüsant ist der Abend nur in wenigen Momenten", so winkt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.1.2020) ab. "Es fehlen einem die Charaktere. Die Konflikte. Und die Umstände. Die muss das Theater seinem Publikum nämlich bieten, sonst ist es nichts als Revival."

Ein "müdes Zerrbild zweier gutsituierter Paare mit abgenutzter Liebe und den üblichen Ängsten und Neurosen – und mit einem begrenzten Repertoire an wiederkehrenden Marotten" erlebte Fabian Wallmeier für rbb|24 (17.1.2020) in einem „zähen Abend“ am Berliner Ensemble.

"Die empfindlichen (Un-)Gleichgewichte dieser Zimmerschlacht" könne Andrea Breths Inszenierung nicht halten, berichtet Peter von Becker im Tagesspiegel (18.1.2020). Es fehle "an der Gratwanderung. An dem Tanz auf der Schneide von Scherz und Schmerz."

 

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