Durch und durch Schauspieler

von Mirja Gabathuler

Basel, 16. Januar 2020. "Julien - Rot und Schwarz"? Was die Optik des Abends betrifft, herrschen eher pudriges Rosa, Pomp und Seidenglanz vor. Auf einer drehenden Bühne sind mehrere Gemächer mit verschnörkelter Tapete angeordnet – wie Guckkästen wirken sie. Dazwischen enge Gänge und viele Türen, von denen kaum eine nach Draußen führt. Als wären die Figuren verhaftet in diesem um sich selbst kreisenden Puppenhaus.

Zum Preis einer halben Ziege

Das Bühnenbild entzückt. Der Autor schürt Erwartungen: Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss hat einen Wälzer der Weltliteratur für die Bühne des Theaters Basel adaptiert. Stendhals Aufsteigergeschichte "Rot und Schwarz" von 1830 wird hier zu Stoff für drei Stunden Spielzeit. Man vermutet, dass das fast 200-jährige Roman-Personal auch etwas in die Gegenwart hineinstochert.

Vorerst bleibt es in der Inszenierung von Nora Schlocker aber im historischen Umfeld: Frankreich, anfangs des 19. Jahrhunderts. Der junge Julien (Vincent zur Linden) kann zwar die komplette Bibel aus dem Kopf zitieren, ist aber zu feingeistig und -gliedrig, um wie seine Brüder in der Sägerei des Vaters Bretter zu zimmern. Weshalb dieser ihn für in etwa "den Preis einer halben Ziege" als Hauslehrer an den Bürgermeister der Provinzstadt verschachert.

JulienRotSchwarz2 560 SandraThen u So geht's zu bei Adels: Julischka Eichel, Martin Butzke, Vincent zur Linden, Germaine Sollberg © Sandra Then

Dort beginnt Julien, an seinem sozialen Aufstieg zu feilen; getrieben durch den Wunsch, die Herkunft abzuschütteln und es nach oben zu schaffen, getragen von einem hübschen Gesicht, einem gewaltigen Gedächtnis und einer gewissen Skrupellosigkeit. Der verschüchtert buckelnde Bursche der ersten Szenen ist rasch vergessen. Vielleicht war dieser eine Weg nur aller Welt vorgetäuscht?

Julien ist durch und durch ein Schauspieler, eine wandelnde Leerstelle. Aus seinem Gesicht ist für sein Gegenüber "nichts, aber auch rein gar nichts" zu lesen, "leer ist alles" in seinem Innern. Diese Lücke von Figur lässt umso mehr Raum, um beliebig ausstaffiert zu werden. Jeder traut Julien nach und nach Großes zu, weil jeder in ihn projizieren kann, was er will. Der Dorfpriester sieht in ihm eine zu rettende Seele; Louise, die Frau des Bürgermeisters, einen "Messias, einen Donnergott". Es ist konsequent, diesen Sich-Selbst-Darsteller auf der Bühne nicht psychologisch nachvollziehbar auszugestalten, sondern ihn auch fürs Publikum nicht richtig fassbar zu machen.

Der Adel erstickt in Abstiegsneurosen

So viel aber steht fest: Dieser Julien ist ein Meister des Auswendiglernens, des Kopierens, des Mimens eines Milieus – dazu muss er die Dinge weder gänzlich verstehen, noch fühlen. So findet er auch im Pariser Adel, im Haus des Marquis de la Mole, seinen Platz, nachdem eine aufgeflogene Affäre mit Louise ihn aus dem Haus des Bürgermeisters forttreibt.

Der Underdog versucht den Habitus der Upper Class zu übernehmen. Dabei scheint die Herrschaft des Adels längst passé: Die Welt ist im Umbruch, die soziale Schichtung ins Schleudern geraten. Auch wer von niedrigem Stand ist, kann plötzlich einen Stich machen. Der Adel erstickt derweilen in seinen Abstiegsneurosen, von Gebresten zerfressen und der eigenen Sinnlosigkeit überdrüssig. Man vertreibt sich mit Pudelzucht, Gegockel und Geschwafel die Zeit und verteilt Titel und Abzeichen wie Bonbons für Kinder.

JulienRotSchwarz3 560 SandraThen u Wasserstoffblonde Karikaturen: Holger Bülow, Michael Gempart © Sandra Then

Die Adeligen auf der Bühne sind eine Karikatur in wasserstoffblond und seidenweiß, bis aufs Knochenmark auftoupiert. Einen Figurentyp, den man auch schon gesehen hat – aber wohl selten so großartig inszeniert und gespielt!

Komische Besitzstands-Bewahrer

Holger Bülow als gequälter, schwärmerischer Marquis, aber auch Martin Butzke als dumpf-paranoider Bürgermeister und Julischka Eichel als seine zwischen abgestumpft und aufgekratzt wankende Ehefrau: Man schaut ihnen gerne beim Frotzeln und Flirten zu. Die Inszenierung lebt von feiner, ständig präsenter Figuren-Komik – eine Leichtigkeit, die dem ansonsten komplexen, dichten Stück gut ansteht.

Auch wenn die Aktualisierung nicht markant ausfällt und der Text zwischendurch etwas sperrig an die Vorlage andockt, so ist doch vieles daran hochaktuell: die vermeintlichen Verlierer, die ihren Raum einfordern, die Besitzstands-Bewahrer, die mit der Flexibilität einer jüngeren Generation nicht mithalten können, die Projektionsfiguren, die auf einen Sockel gestellt und mit allerlei Heilsversprechen verbunden werden.

Detailvernarrte, bildstarke Inszenierung

Vor allem aber die Starrheit sozialer Klassen, die sich am Ende doch nicht so leicht abschütteln lassen. Man riecht an Julien die Provinz, hört sie aus der Stimme – sie bleibt haften, wie sehr er sich auch anpasst. Und doch liegen Oben und Unten der Gesellschaft manchmal auch ganz nahe beeinander: So erinnert das Puder am Kragen des Marquis wohl nicht zufällig an die staubigen Späne auf dem Jackett des Sägemeisters.

Auch wenn der Schlussapplaus Bärfuss als Star zeigt: Es sind vor allem auch die Schauspielerinnen und Schauspieler, die diesen Abend leichtfüßig machen und über die Länge tragen. Die detailvernarrte, bildstarke Inszenierung trägt den Rest zum Gelingen dieses Stücks bei. Seine Spitzen sind subtiler als erwartet. Aber das heißt nicht, dass nicht trotzdem hier und da ein Stachel sitzt.

 

Julien – Rot und Schwarz
von Lukas Bärfuss nach Stendhal
Regie: Nora Schlocker, Dramaturgie: Julia Fahle, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Caroline Rössle Harper, Licht: Cornelius Hunziker.
Mit: Vincent zur Linden, Michael Gempart, Julischka Eichel, Martin Butzke, Leonie Merlin Young, Holger Bülow, Sebastian Schulze, Friederike Wagner, Germaine Sollberger, Live-Musik: Simon James Phillips.
Premiere am 16. Januar 2020
Dauer: 3 Stunde 10 Minuten, ein Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Einen "sehr trockenen, lakonischen und freundlich-sarkastischen Bärfuss-Ton" habe der Autor in seinen Theatertext eingebracht, der ansonsten nah am Romanplot bleibe, bemerkt Andreas Klaeui beim SRF (17.1.2019). Bärfuss hole Stendhals Realismus treffend und mit Humor auf eine heutige Ebene . Auf historisch mache dagegen die Inszenierung, vor allem in Bühne und Kostümen ("approximatives Louis XV, also: Ancien Régime, nochmal 50 Jahre hinter Stendhal zurück"). Auch Nora Schlockers Inszenierung sei "etwas altfränkisch, klassisches Erzähltheater, das vor allem am Anfang recht schwerfüssig ist, in der zweiten Hälfte aber deutlich Fahrt aufnimmt", so Klaeui. Bärfuss’ trockene Schlankheit verliere sich in der Inszenierung manchmal "zugunsten eher derber Komik und dickem Chargieren, fast wie im Boulevardtheater". Vincent zur Linden aber spiele den Julien "spannungsvoll, differenziert, er zeigt eine Unbescholtenheit und zugleich Verschlagenheit, die die Figur sehr plastisch machen".

"Dieser Theaterabend hat sehr wenig mit uns hier und heute zu tun. Er wirkt wie aus der Zeit gefallen. Das liegt zum einen daran, dass Bärfuss keine aktualisierende, die Romanvorlage ins Heute transformierende Überschreibung des epischen Stoffes geschaffen hat", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (20.1.2020). Sein Stück sei schlicht eine Adaption des Romans. "Das Personal ist weitgehend aristokratisch, der Ennui groß, der Erkenntnis- wie auch der Lustgewinn gering.“ Und weiter: "Dass der Abend so einen restaurativen Retro-Look hat, liegt vor allem aber auch an der bieder historisierenden, viel zu brav angelegten Inszenierung von Nora Schlocker."

"Bärfuss‘ Theater-Version des Stendhal-Stoffs hat etwas Reader’s Digest-Haftes, sie erzählt lakonisch vor sich hin, ohne allzusehr zuzuspitzen", bemerkt Christian Gampert  vom Deutschlandfunk (18.1.20). Man frage sich im Verlauf des Abends immer mehr, was der historische Abstand denn solle. "Julien Sorel hat genügend Eigenschaften, die auch heute anschlussfähig wären." Wildheit und Abgrund werde man in Nora Schlockers Inszenierung nicht finden, sie bleibe auch in den Ausbrüchen seltsam steril.

Dominique Spirgi lobt auf bzbasel.ch (18.1.2020) Regie und Ausstattungsteam für einen "berauschenden Bilderreigen". Vincent zur Linden spiele die Unergründlichkeit seiner Figur trefflich und mit einer überwältigenden Bühnenpräsenz aus. "Der stimmige Text mit den feingesponnenen und hintersinnigen Pointen, die viel Drive entwickelnde und bis ins Detail stimmige Regie und das vortrefflich agierende Ensemble sorgen (...) für ein kurzweiliges Theatererlebnis erster Güte."

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