Gott, wo bist du hingegangen?

von Dorothea Marcus

Duisburg, 21. September 2008. Schlingensief ist zur Inszenierung seines Lebens aufgebrochen – und, so muss man es wohl leider sagen, auch zur Inszenierung um sein Leben. Ausgerechnet im Ruhrgebiet, dem Ort seiner Kindheit, hat er die erste Arbeit nach seiner Lungenkrebserkrankung angenommen. Privater und persönlicher, nackter und trauriger ist Schlingensief noch nie gewesen.

Er, dessen Familiengeschichte, Lieblingskünstler, Schwächen und Krankheiten man doch bereits zu kennen glaubte, eröffnet in "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" eine neue Dimension des Authentischen auf der Bühne – und verhandelt den eigenen Tod. So radikal, dass sich eine Kritik des Abends eigentlich von selbst verbietet.

30-Cent-Kerzen und Super-8-Filme

Die Gebläsehalle Duisburg-Nord ist zu einem düsteren Kirchenraum geworden: Holzbänke, rot leuchtende Schreine, darin Monstranzen mit Schlingensiefs Röntgenbild. Dort, wo sonst der Stationenweg Christi ist, finden sich Bilder von seiner "Family". In einer Ecke der Kirche eine Fett-Ecke mit totem Hasen, frei nach Beuys. Für 30 Cent kann man eine Kerze spenden.

Angela Winkler, Margit Carstensen und Mira Partecke lesen aus seinen Tagebuchaufzeichnungen. Wie es war, als die Diagnose kam. Adenokarzinom. Was genau der Arzt gesagt hat. Dass es nicht viel Hoffnung gibt. Dass er es seinem Umfeld mitteilen muss, das ihn aber nicht mit Mitleid zuschütten soll. Dass er keine Reisen mehr unternehmen sollte. Dass er nicht mehr der Mensch ist, der er gewesen ist und das auch nie wieder sein wird.

Dann hört man Schlingensief auf Tonbändern, er weint. Als Nichtraucher mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert zu sein, ist eine grausame Ironie. Unbegreiflich, was das Schicksal macht, hat der Onkologe gleichen Alters gesagt, und danach selbst geweint. Auch die Kritikerin muss weinen. Auf der Leinwand laufen Super-8-Filme: der kleine Junge Schlingensief tollt durch die Dünen, geht baden, lehnt an einer Steinwand, ballert mit Spielzeuggewehren. Wann hat man genug gelebt? Was ist ein gutes Leben? Kann man die Sache nicht auch beenden, mit Schmerzmitteln in Afrika, und seine eigene Freiheit bewahren? Was kann man noch leisten mit einer halben Stimme? Wozu die Raserei? Wo ist Gott hingegangen?

Die Auferstehung des zukünftig Verstorbenen

"Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt", der Satz von Joseph Beuys steht auf dem Programmheft und über allem. Schlingensief zeigt reichlich Wunden: Bilder seines Tumors, seine Mutter auf dem Anrufbeantworter, die nicht ins Krankenhaus kam, Selbstkasteiungen, Schuldzuweisungen. Die einzelnen Etappen der Verarbeitung sind als Kapitelüberschriften auf die Leinwand projiziert. Die Sängerinnen Friederike Harmsen und Ulrike Eidinger singen dazu wunderschöne Lieder, ein Kinderchor durchkreuzt sie mit "Alle meine Entchen".

Die Bilder flimmern schneller, die Lichter gehen aus und an, der Vorhang auf und zu, Menschen strömen auf die Bühne und verschwinden wieder – die Eindrücke verdichten sich zur rauschhaften Überforderung. Ein schwarzer Gospelchor rauscht durch das Kirchenschiff und trägt kleine Särge hinein, auf denen "Flux" steht – wir wohnen einem Happening bei, es überfällt uns vielstimmig, auf Tonbändern und Leinwänden.

Aber es ist vor allem eine Geisteraustreibung und eine Gebetsmesse. Wir sind diejenigen, die für Schlingensief Fürbitte halten, er bringt uns sich selbst als Opfer dar. Doch dann dreht er die Schraube noch weiter, macht den Abend zu seiner eigenen Begräbnisfeier, zu seinem Vermächtnis – und zu seiner Auferstehung. Und so wird selbst die brutale persönliche Krankengeschichte des "zukünftig Verstorbenen" zu jenem verwirrenden, komplexen und dialektischen Doppelumschlag, den man von ihm kennt. Denn auf der Suche nach Gott kommt Schlingensief natürlich nicht an der Kunst und an sich selbst vorbei.

Zwei große Autonome: Jesus und Schlingensief

"Mein Gott, warum hast du mich verlassen" – der letzte Satz von Christus am Kreuz zeigt, dass selbst Jesus einmal kurz aus seinem Glauben aussteigen konnte. Doch Schlingensief glaubt ihm die trostlosen Worte nicht, "das ist Quatsch, Jesus war autonom". So autonom wie er selbst. Und so erklärt er sich zum eigenen Gott und seine Kunst zum Gottesritual, er sitzt mit seiner "Family" schließlich als Christusfigur selbst beim Abendmahl und reicht seinen Leib und sein Blut. Gut sieht er übrigens aus, etwas schmal geworden.

Und so vereint der Abend auf eigenartige Weise alle Gegensätze: er ist eine blasphemische Gottessuche, ein ketzerisches und ebenso tiefgläubiges Ritual. Schlingensiefs radikale Zwiesprache mit dem Gott der Kunst, der dabei zugleich den realen um Gnade bittet. Das alles ist absolut großartig und zutiefst verstörend. Und um mehr als das kann es nicht gehen: Schlingensief hat sich selbst im wahrsten Sinne des Wortes aufs Spiel gesetzt und macht der Welt damit tatsächlich eine Art Geschenk. Man wird das nicht vergessen können.

Zum Schluss aber tickt das Metronom: wie viel Zeit wird noch bleiben?


Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir
Fluxus-Oratorium von Christoph Schlingensief
Konzept, Regie, Ausstattung: Christoph Schlingensief, Bühne: Thomas Goerge, Thekla von Mülheim, Kostüme: Aino Laberenz, Licht: Voxi Bärenklau.
Mit: Margit Carstensen, Angela Winkler (Anne Tismer am 23. 9.), Mira Partecke, Komi Mizraijm Togbonou, Stefan Kolosko, Karin Witt, Horst Gelonnek, Kerstin Grassmann, Norbert Müler, Achim von Paczensky, Klaus Beyer. Sängerinnen: Friederike Harmsen, Ulrike Eidinger. Korrepetitor/Orgelspieler: Dominik Blum. Gospelchor Angels Voices, Kinderchor des Aalto-Theaters.

www.ruhrtriennale.de
www.kirche-der-angst.de


Mehr zu Christoph Schlingensief: Wie er an der Deutschen Oper Berlin Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna inszenierte, ohne selbst Regie zu führen. Und hier gelangt man zum Trailer für Eine Kirche der Angst - Church of Fear auf YouTube.


Kritikenrundschau (Teil I – Duisburg)

Für Matthias Heine (in der Welt vom 23.9.) ist Christoph Schlingensief "der letzte unterhaltsame Wahnsinnige des deutschen Theaters". Und sein "Gottesdienst" "eine wilde synkretistische Messe, in der viele Götter, Dämonen, Heilige beschworen werden". Wobei das Religiöse bei Schlingensief immer auch Kunstreligion sei. Sein Leben läng hätte er gefragt, was uns die Klassiker heute noch zu sagen hätten, und bei Klassiker immer "an die Kirchenväter der modernen Entgrenzungskunst (gedacht), an Beuys, an die Fluxus-Bewegung, an die Wiener Aktionisten (...) und manchmal auch an Rudi Dutschke". Alle möglichen Bewegungen, für die Schlingensief zu jung gewesen sei und die er deshalb stets zu reanimieren versucht hätte, würden auch jetzt wieder zitiert, dazwischen "viel Tiefprivates".
Der Super-8-Film am Ende, von Schlingensiefs Vater gedreht, in dem der Regisseur als Fünfjähriger spielt wie er stirbt, sei an dieser Stelle "Kitsch. Naiv. Frivol. Banal auch, weil doch wirklich jeder solche Kinderspiele gespielt hat und weil jeder dann irgendwann stirbt. Aber es ist groß." Vom "Pfad der Zerstreuung" sei Schlingensief wieder beim Wesentlichen angelangt. "Wenn es unter uns einen Menschen gibt, der das Zeug zum Schamanen hätte, wie sie in früheren Zeiten die Schlüssel zu den Pforten zwischen dieser und anderen Welten bewahrten, dann ist es Schlingensief. (...) Schlingensief muss Papst werden. Wenigstens Narrenpapst. Dann kann der Islam einpacken."

In der Frankfurter Rundschau (23.9.) schreibt Peter Michalzik, dass der "Wille zur Andacht" in Schlingensiefs Kirchen-Installation bei der Premiere "enorm" gewesen sei. Und zwar sowohl unter den Besuchern, deren Murmeln vor der Premiere kein "Reden in einem Parkett" gewesen wäre, als auch unter den Darstellern, die trotz mancher Brechungen dem "Gottesdienstsound" nicht entkämen. Es gäbe "große, bewegende und berührende Momente" an diesem Abend. Aber letztlich basiere er nur auf einer Erfahrung, die vor Schlingensief schon viele Menschen gemacht hätten: "Es bedurfte eines Gottes und Gott war nicht da." "Anstatt daraus den Schluss zu ziehen, dass Gott nicht existiert, wird bei Schlingensief daraus eine Klage und Anklage an den abwesenden Gott. Er ist beleidigt. Emotionale Konsequenz bei fehlender gedanklicher Stringenz hat ihn schon immer ausgezeichnet. Sollte er am Ende doch der Alte geblieben sein?"

Andreas Rossmann bekennt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.9.): Wie die Inszenierung "mit großer Besetzung" "die falschen Kirchenmauern der Industriekathedrale erschüttert, kann man egomanisch, exhibitionistisch, blasphemisch, kitschig und privat finden, aber auch anrührend, beeindruckend, authentisch, experimentell und mutig. Der Abend ist das alles – einerseits und andererseits, zugleich und zusammen. Doch kritisieren lässt er sich nicht. Da bleibt nur, gute Besserung zu wünschen."

Auch Egbert Tholl gibt in der Süddeutschen Zeitung (23.9.) zu bedenken: "Chemotherapie, Operation, Bestrahlung, wieder Chemo. Die Litanei einer Krankheit. Tausende können sie jeden Tag beten. Aber nur einer feiert einen Gottesdienst damit – und Hunderte schauen zu." Aber auch hier, im Privatesten, wühle sich der "Metakünstler" Schlingensief wie immer durch den "Kanon der Künste" und zerre hervor, was ihm "zupass" käme: ein "Eskapismus", der "stets eine verborgene Saite im Betrachter zum Klingen" brächte und auch dann genossen werden könne, "wenn man den Rest vielleicht gar nicht versteht." Insofern sei die Messe, "auch ohne Krankheit", eigentlich "Schlingensiefs naturgemäße Ausdrucksform" und "Eine Kirche der Angst" also als "Requiem auf das eigene Schaffen" zu verstehen. Aber zugleich auch als "Auferstehungs-Feier". Alles sei Schlingensief an diesem Abend "und nur er". "Irritiert schaut man zu, verstört, fassungslos. Und ja, auch bewundernd ob dieser Schonungslosigkeit."

Das Schlingensief-Theater, so Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung (23.9.), sei "eine Form von veredeltem Kindergeburtstagstheater, die der Logik des Traumes gehorcht. So war es bei Schlingensief stets, nur dass es diesmal eher nach Albtraum schmeckt." Das Dokumentarische daran sei "kaum auszuhalten". "Und doch ist es eine von Schlingensiefs dichtesten, besten Arbeiten. Gerade das unerhört Distanzlose dieser Inszenierung verschafft ihr die Freiheit, ohne Vorbehalte in die Assoziationstiefen der leidenden Seele hinabzusteigen." Eine Kunst der Maßlosigkeit, die vom Privatleiden ihres Künstlers lebt. "Das aber entzieht sich letztlich der Kritik. Eine Messe kann man nur feiern. Oder meiden."

"Kunstfromm und brav blasphemisch" sei es in der Duisburger Gebläsehalle zugegangen, befindet indessen Wolfgang Höbel auf Spiegel online (22.9.) "Als Leidender, als heiliger Narr, der die Übel der Welt persönlich nimmt", habe sich Schlingensief schon immer geriert und "der Gedanke, dass seine Kunst eine einzige üble Krankheit sei", wäre "keine üble Verleumdung seiner Verächter, sondern eine alte Grundüberzeugung des Entertainers und Selbstinszenierungs- künstlers" selbst. Die Duisburger Inszenierung nun beziehe ihre Kraft "aus der Faszination am christlichen Ritual und dem Widerwillen dagegen; aus der Sprache von Schlingensiefs Krankenakte; manchmal auch aus dem Kitsch". Einmal jedoch, als Schlingensief den Kelch gehoben und gelächelt habe, sei für einen Augenblick etwas (Neues? peko) spürbar geworden: "Die Abwesenheit der Angst in der 'Kirche der Angst'."

Ein "bizarres, aufwühlendes Hochamt" hat Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (23.9.) erlebt. Schlingensiefs Kirche "hätte man früher (...) als Ketzerveranstaltung gebrandmarkt". Doch "ChristophChristus" feiere mit dem letzten Abendmahl auch "das erste eines neuen Lebens". Selbst wenn er das Brot breche, werde es "nicht blasphemisch", denn "da will einer was wissen von Gott, und er geht den direkten Weg, bedient sich der Rituale, die in der Amtskirche oft so abgespielt wirken". Gewiss sei Schlingensief "nicht der Erste, der Religion als Echoraum entdeckt", doch gehe er tiefer und habe sich "mit seiner gesamten Existenz (...) in diese Produktion geworfen": "Sie ist ein radikaler Lebensbeweis" und "eine Selbstmitleidsorgie", in der jedoch "ein Geist der Bejahung" wehe. Schlingensief tröste und belehre nicht, sondern "reckt die Faust". Die in der Klinik aufs Diktiergerät gesprochenen Texte würden von Angela Winkler und Margit Carstensen "mit klinischer Kühle" gesprochen, so dass sie "die Geschichte dieses Egos" transzendierten. Auch seien es "Protokolle einer Auferstehung", denn das Ganze sei "eine ungeheure Energieausschüttung" und "der alte Schlingensief'sche Chaos-Humor" wieder da. So ziehe sich der Künstler "an den eigenen Haaren aus dem medizinischen Sumpf", ballere "die Sinne zu", greife "nach den Herzen der Zuschauer, die sich hier in einer temporären Gemeinde versammeln". Immer wieder schreie "Schlinge": "'Bitte nicht berühren.' Aber er, er hat berührt."

"Hier spricht nur einer und er lässt auch alle anderen für sich sprechen", konstatiert Julian Weber in der tageszeitung (24.9.). Man dürfe sich nicht täuschen lassen: "sobald auch nur ein Hauch Voyeurismus aufkommt, wirft die geradezu unheimlich konsequente Offenheit Schlingensiefs alles um." Nach der Erweckung dieses "noch nicht Verstorbenen" gebe es "keine Erlösung, auch kein Happy End". Das Oratorium, "das sich dem Glauben und dem Gebet in musikalischer Form widmet", werde "mit Fluxus zum Glaubensbekenntnis des Künstlers Christoph Schlingensief, der vollkommen in seiner Kunst aufgeht". Ergreifend sei jedoch "weder Profanes noch Religiöses, sondern das Mantra der Metronome in den Händen aller Spieler und Musiker, die damit die noch verbleibende Zeit ticken lassen, bis zum Schluss Totenstille einkehrt".

Und Martina Herzog schrieb für das WAZ-Portal Der Westen (23.9.): "Hier hat einer sich selbst ausgebreitet, mit allen Ängsten, Zweifeln, Unzulänglichkeiten, in aller menschlichen Schwäche. Für diesen Mut verdient er Respekt. Wieweit diese Kirche der Krankheit des Christoph Schlingensief zu ihren Besuchern spricht, muss jeder selbst herausfinden."

Christoph Schlingensiefs "Trauerfeier für einen Überlebenden" "Die Kirche der Angst" ist etwas Neues", schreibt Peter Kümmel in der Wochenzeitung Die Zeit (25.9.). Und zwar "Das war ihr Leben", von ihm selbst inszeniert. Schlingensief sei der "abwesende Gast" und "machtvolle Regisseur" dieses Abends; Schlingensief, der sich weigern würde, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden und sogar seiner Krankheit noch seinen Gestaltungszwang entgegenhalten würde. Allerdings macht der Abend Kümmel "bei aller Rührung" oft auch wütend, weil Schlingensief sich und sein Leiden so wichtig nimmt: Wie kann einer sich selbst eine derartige "Oscar-Zeremonie" ausrichten, wo täglich so viele sterben würden. Wo Hunderte Milliarden Menschen schon über diesen Planeten hinweggewandert seien, weil die Geschichte nun mal keine Überlebenden kennen würde. Doch dann möchte Kümmel Schlingensief für seinen Bruch mit der gesellschaftlichen Verabredung, dass man sein Schicksal annehmen soll, dass er auszuspricht, wovor er sich fürchtet, doch lieber lieben. Schlingensief setze das System Krankheit gegen das System Kunst: ein Geschwür gegen das andere. Schlingensief schluchze, schreie zu Gott. "Der Christ geht in die Kirche, um Gott zu treffen," zitiert Kümmel den Künstler. "Der Voodoo-Mann will selbst Gott werden." An dieser Möglichkeit scheine Schlingensief jetzt zu arbeiten.

 

Kritikenrundschau (Teil II – Theatertreffen in Berlin)

Zur Eröffnung des Theatertreffens und zu Christoph Schlingensiefs Berliner Auftritten schreiben die Zeitungen ausführliche Betrachtungen.

Christine Dössel hält in der Süddeutschen Zeitung (4.5.) fest, dass das Theatertreffen selten "so von einer Person geprägt (worden sei) wie in diesem Jahr, wo Christoph Schlingensief ihm sein Gesicht, seine Leidensgeschichte und sein nimmermüdes Mundwerk leiht". Der "reinste Overkill", wäre Schlingensief nicht so ein "entwaffnend freundlicher und auch lustiger Mensch, der immerfort alle mit seiner Offenheit charmiert". Dössel stellt noch einmal fest, dass "Die Kirche der Angst" das teuerste Theatertreffen-Gastspiel aller Zeiten sei und – äußert Unbehagen: Es handele sich um ein "multimediales Überwältigungsspektakel", das allein schon dadurch Abnutzungseffekte aufweise, "dass es in unzähligen Kritiken, Berichten und Interviews hinreichend beschrieben wurde". In Berlin bleibe die Erschütterung aus, die die Zuschauer im September bei der Premiere in Duisburg erfasste, als "der Regisseur tatsächlich dem Tod sehr nahe war". Dössel registriert, dass die einen "beklommen", weil tatsächlich bewegt seien, die anderen empfänden in "der Rolle der unfreiwilligen Voyeure" einen "fahlen Beigeschmack".

Ulrich Seidler
weist in der Berliner Zeitung (4.5.) auf andres hin: Zum Bühnenbild von "Kirche der Angst" gehöre eine Rosette, die das Bild eines "runden, rosafarbenen, vor Kraft und Gesundheit strotzenden und wirklich überhaupt nicht ekligen Mopsafterschließmuskel" zeige. Die emotionale Wirrnis, fährt Seidler fort, in die Schlingensiefs Theater seine Zuschauer reiße, komme bei diesem "lebensbejahenden Anblick wenigstens ein bisschen zur Ruhe". Denn Schlingensief habe seinen "privaten Lungenkrebs in die gute alte Erfahrungsmaschine Theater eingespeist" und sie damit gefährlich ins Stottern gebracht. Seine Leistung bestehe in der möglichst breiten Vergesellschaftung seiner Todesangst. Dass die ersten vom medialen Echo auf "Schlingensiefs Narzissmus" schon wieder "genervt" seien, nimmt Seidler als ein Zeichen dafür, dass die Kunst "in den geschützten Raum" zurückfinde, in dem "frei und ohne Rücksichten über sie nachgedacht werden kann". Schlingensiefs Kunst wiederum täte es gut, wenn sie den "auf so grausame Weise gewonnenen Ernst" bewahren könnte. Denn allein "die technisch-organisatorische Komposition" zeuge von "methodischer Reife und verblüffender Geduld". "Das Chaos der sich überlagernden Bilder und Ideen scheint weniger als früher ein Produkt von Pannen und Zufällen zu sein."

In der tageszeitung (4.5.) schreibt Katrin Bettina Müller: Schlingensief habe dem Theater nicht zugetraut, ihm soviel Glück zurückzugeben. Die "Umkehrung einer öffentlichen Krankheitsgeschichte in eine Erfahrung von Glück", gleiche selbst einem "kleinen Wunder und einer heiligen Wandlung". Vom "Ritual, vom Bilden einer Gemeinde, von der Sehnsucht nach Erlösung" verstehe Schlingensief "eine Menge". Aber genauso viel, und das erst mache die Sache "wirklich gut und frei von falschem Pathos", von "der Kritik an Kirche und Glauben als angsterzeugende Matrix". Nicht nur die eigene Verwundbarkeit und Hinfälligkeit verhandele er in dieser "großartigen multimedialen Performance", sondern auch den "Diskurs der Schuld, mit dem Krankheit in der öffentlichen Moral belastet wird". Deutlich ausgesprochen seien "Zweifel an der läuternden Funktion des Leides". Das Stück sei aber nicht nur traurig und berührend, es strecke "mit vielen karnevalesken Gesten" den Autoritäten die Zunge raus. All die Prozessionen, Begräbnisse und Kreuzigungsszenen, die Schlingensief von Karin Witt, Horst Gelonnek, Kerstin Grassmann, Stefan Kolosko und den anderen ihn seit Langem begleitenden Darstellern nachspielen lasse: "Sie sind auch immer eine Selbstermächtigung, eine Aneignung der Sprache der machtvollen Repräsentation durch die Schwachen. Nur weil man das schon so lange von ihm kennt, hat es seinen Sinn nicht verloren."

 

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