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von Stefan Forth

Hamburg, 18. Januar 2020. An diesem Abend gehen die Partys ans Eingemachte. Eva Mattes trägt es massenhaft auf die Bühne des Deutschen Schauspielhauses. Irgendwann steht sie überall rum, die giftig grün glibschige Stachelbeerkonfitüre, abgefüllt in überdimensionierte Einmachgläser, die wahlweise auch als Tanzpodeste genutzt werden können. Eine süße Grundlage für bittere Wahrheiten in einer grandiosen Inszenierung von Čechovs "Ivanov".

Eine Hochzeit und zwei Todesfälle

Zu feiern gibt es darin vordergründig allerhand: einen 20. Geburtstag, eine Beerdigung, eine Hochzeit und eine Verlobung. Dazu kommt ein weiterer Todesfall am Schluss, über den allerdings einfach hinweggetanzt wird, als wäre nichts gewesen, obwohl sich ausgerechnet die Titelfigur vorlagengetreu eine Kugel ins Hirn schießt. So leicht lässt sich das apathische Partyvolk aber nicht erschüttern, das da im clubbigen Rotlicht zu dumpfen Beats vor sich hin zuckt.

Ivanov 1 560 ArnoDeclair uApathisches Partyvolk: Eva Maria Nikolaus, Samuel Weiss, Jonas Hien, Paulina Alpen, Lina Beckmann, Maximilian Scheidt © Arno Declair

"Nothing thrills us anymore", säuselt Ensemble-Neuzugang Eva Maria Nikolaus nachgerade lasziv ins Mikro und bringt so das Lebensgefühl dieser Bühnengesellschaft auf den Punkt. Die meisten sind irgendwie angeödet, kaum einer hat noch Ziele oder gar Visionen, weil sowieso alles egal zu sein scheint. Während der Großteil die Leere des Lebens durch Smalltalk, Suff oder sonstige Sedierung lautstark zu übertönen versucht, geben sich zwei Figuren offensiv der Schwermut hin: der mittelalte Ivanov und die junge Saša, Tochter seiner Nachbarn und Gläubiger.

Zeitbomben unter sich

Er steht bei den Partys auf weitgehend leerer schwarzer Bühne meist irgendwo hinten mit dem Gesicht zur Wand. Sie macht einen auf Rebellin und blafft auch noch bei ihrem eigenen Geburtstag gelangweilt die Gäste an. Es ist ein wahnsinnig aufregendes verlorenes Paar, das Regisseurin Karin Beier da zusammengebracht hat: den großartigen Devid Striesow in der Titelrolle und die ausdrucksstarke Aenne Schwarz, die ihm im wütenden Aggressionspotential in nichts nachsteht. Zwei Zeitbomben, die allerdings erst dann in ihrem Unglück zusammenfinden können, als Ivanovs erste Frau Anna elendig an Tuberkulose gestorben ist.

Ivanov 4 560 ArnoDeclair uWie aus dem Schreckenskabinett: Devid Striesow, Angelika Richter © Arno Declair

Angelika Richter verleiht dieser dem Tode geweihten, einsamen Figur im Schreckenskabinett der Partyzombies eine gespenstisch lebendige Aura. Wenn sie im bunten Morgenmantel tanzt und Purzelbäume schlägt, dann versucht sie sich kraftvoll verzweifelt an diese Welt zu klammern, die den meisten anderen nichts mehr zu bedeuten scheint, denn: "Die Zukunft hat keine Zukunft mehr." Auch wenn die Sommer "unerträglich heiß" werden und ein Hurrikan auf den nächsten folgt – egal. Die Gegenwart ist sowieso ohne Ausweg und am Ende kann alles nur noch schlimmer werden.

Es sind solche behutsamen Marker am Rande des Partygeschehens, mit denen die Regisseurin und ihre kluge Dramaturgin Rita Thiele in ihrer schlüssigen gemeinsamen Textfassung den "Ivanov" erstaunlich nah ans Jahr 2020 heranholen. Während der Brite Robert Icke erst kürzlich in Stuttgart mit einer vergleichsweise plakativen Aktualisierung des Stoffes nur bedingt überzeugen konnte, besticht die Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus durch feine Zwischentöne, sprachliche Sensibilität und bis ins letzte Detail durchchoreographierte Szenen, in denen das Drama jederzeit in die Komödie kippen kann und umgekehrt.

Meistermagierin der Bühne

Beim nahtlos brutalen Übergang etwa von Annas Beerdigung zu Ivanovs Wiederverheiratung tauscht die Braut eine selbstbewusst weit geschnittene Variante von Hot Pants und schwarzen Strümpfen gegen einen nicht minder modischen weißen Hosenanzug mit Spitzenschleier, der Rest vom Fest schleppt ein paar Luftballons an - und schon kann die Party weitergehen. Karin Beier ist eine Meistermagierin der Bühne: Mit einem Handstreich erschafft sie an diesem Abend wie aus dem Nichts bildgewaltige Welten. Als wäre sie Shakespeares Prospero.

Ivanov 2 560 ArnoDeclair uVerschwenderisch gutes Ensemble: Michael Wittenborn, Aenne Schwarz, Devid Striesow © Arno Declair

Zu allem Überfluss kann sie sich auch noch auf den Luxus eines verschwenderisch guten Ensembles verlassen. Alle sind sie toll, alle kommen sie zu ihrem Recht, und alle stellen sie sich in den Dienst der Inszenierung. Eva Mattes zum Beispiel genießt es sichtlich, als Mutter-Matrone die geizige alte Hexe geben zu können. Lina Beckmann, Bastian Reiber und Michael Wittenborn machen aus vermeintlichen Nebenfiguren großartige traurige Clowns, denen allein man stundenlang beim komischen Kampf um Würde und Bedeutsamkeit zuschauen könnte.

Fehlte der aktuellen Spielzeit am Schauspielhaus bislang ein echtes Highlight, hat sich das mit diesem Abend furios verändert. Dieser "Ivanov" ist unbedingt sehenswert, ebenso lustig wie berührend. Die Party kann also weitergehen. Genug Eingemachtes ist schließlich vorhanden.

 

Ivanov
von Anton Čechov
Deutsch von Peter Urban, in einer Fassung von Karin Beier und Rita Thiele
Regie: Karin Beier, Kostüme: Astrid Klein, Mitarbeit Kostüm: Janin Lang, Mitarbeit Ausstattung: Selina Puorger, Musik: Jörg Gollasch, Licht: Annette ter Meulen, Choreografie: Thomas Stache, Dramaturgie: Rita Thiele.
Mit: Paulina Alpen, Lina Beckmann, Jonas Hien, Vlatko Kucan, Eva Mattes, Eva Maria Nikolaus, Bastian Reiber, Angelika Richter, Maximilian Scheidt, Aenne Schwarz, Ernst Stötzner, Devid Striesow, Samuel Weiss, Michael Wittenborn.
Premiere am 18. Januar 2020
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.de

 

 

Kritikenrundschau

In ihrer "faszinierend spartanischen Inszenierung" habe Karin Beier in "spektakulärer Kahlheit" sogar auf eine Bühne verzichtet, schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.1.2020). Das "hinreißend aufspielende Ensemble" erschaffe dabei "mit beseelter Verve ein morbid verstrahltes Kraftfeld, dessen hochenergetische Konzentration auch das Publikum miteinschließt". Mit einigen "eingestreuten kurzen Fremdtexten" werde das Stück zur Gegenwart geöffnet, mehr sei auch "nicht nötig, um die ohnedies vorhandenen Korrespondenzen locker auszumalen". Karin Beier zeige sich mit dieser "grandiosen" Inszenierung "auf der Höhe ihrer Regiekunst und erweist sich als Meisterin der beredten Reduktion".

Devid Striesow führe als Ivanov "drei Stunden lang einen Zappelirrsinn vor, als müsse es ihn sogleich zerreißen", so Wolfgang Höbel auf Der Spiegel (19.1.2020), wo Karin Beiers Hamburger Inszenierung direkt mit jener von Johan Simons in Bochum verglichen wird. Die Frauen und Männer um diesen "Rumpelstilzheld" herum seien, "als habe George Grosz sie gemalt", ein "Haufen überdrehter Monstermenschen". Karin Beier suche immer wieder die "grelle Komödie, in der die Schauspieler wodkaselig wanken und nuscheln und die Lachbedürfnisse vieler Theaterbesucher bedienen". Da bleibe es "bei aller Bewunderung ein bisschen unbegreiflich, warum im Jahr 2020 eine Bande von so klugen, hochbegabten Theatermenschen gerade die Geschichte des Jammerlappens Iwanow erzählen musste". Am Ende stehe "vergnügliches Edelboulevardtheater".

Um die "Psychopathologie des Verlierers" gehe es Regisseurin Karin Beier, so Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur (18.1.2020). Humorvoll gehe es dabei trotz der im Stück angelegten Melancholie aber kaum zu. Regie und Dramaturgie hätten sich dafür entschieden, das "innere Ausgehöhlt-Sein und Nicht-Wissen" darzustellen und gingen der Frage nach "wie man sich selbst in dieser Welt, wie sie ist, zu positionieren hat, um zu überleben und um eventuell auch anderen das Überleben zu ermöglichen". Damit werde dieser Čechov ziemlich "direkt auf die Gegenwart" heruntergebrochen.

"Bei Devid Striesow wirkt der Suizid per Kopfschuss auf offener Szene alles andere als unausweichlich. Er steht sich in enervierender Weise selbst im Weg, man möchte ihn schütteln, damit er sich zusammenreißt. Trotz aller mangelnder Sympathie für Ivanov ist sein Abgang zumindest bedauerlich", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (22.1.2020). Regisseurin Karin Beier streiche den Kitsch immer dann, wenn Vlatko Kucan die Szene mit traurigen Bassklarinettentönen untermale.

"Beiers dreistündiger 'Ivanov' ist mit Klezmermusik und weißen Luftballons manchmal recht kitschig, aber auch und vielleicht gerade deswegen stimmungsvoll und ergreifend", schreibt Katrin Ullmann in der taz (25.1.2020). "Grandiose Schauspieler beleben diese Inszenierung. Sie zeichnen mal feinsinnig, Eva Mattes und Michael Wittenborn etwa als Sašas Eltern, und auch mal karikiert (Lina Beckmann kann wohl kaum anders) jede einzelne (Neben-)Figur. Diese egozentrische Gesellschaft rückt einem nah durch dieses phänomenale Ensemble, durch Spieler mit großer Lust und Präzision."

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