Der starke Stamm - Residenztheater München
Provinz in den Köpfen
von Anna Landefeld
München, 23. Januar 2020. Die Pforte zur Hölle öffnet sich: kalt-gelbes Licht, Nebel, Regen, unheimliches Schattenspiel. Dazu barmen sie weh über Blasmusik: "Näher, mein Gott zu Dir, näher zu Dir!" Dieser Wunsch wird sich nicht erfüllen für die Menschen hier, denn sie sind jenseits von allem. Vielleicht für die Tote, die sie heute zu Grabe tragen, aber für die wird man sich ein paar Augenblicke später nicht mehr interessieren. Dafür umso mehr für ihre Habseligkeiten, und wer da was von bekommt.
"Bloß keine direkte Beziehung zum Grauen!"
Die Pforte, das ist ein übergroßes Scheunentor. Die Hölle, das ist eine Alltagsgeschichte in der niederbayerischen Provinz aus Erbschleicherei, Geschäftemacherei, Betrügerei, Ausbeuterei. Milieukundig mit mutiger Herzlosigkeit schrieb Marieluise Fleißer "Der starke Stamm" im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges, heimlich, trotz Schreibverbots durch die Nazis. Darin verflocht sie ihre quälenden Erinnerungen und ihre Verachtung gegenüber der muffigen Bigotterie ihrer oberbayerischen Heimatkleinstadt Ingolstadt. 70 Jahre nach der Uraufführung an den Münchner Kammerspielen inszeniert nun Julia Hölscher die Volksstück-Satire am Münchner Residenztheater – nur ohne Satire und ohne die geringste "aufgepeppte Aktualität".
Die war Fleißer schon zuwider: "Bloß keine direkte Beziehung zum Grauen aufbauen!" Die Hausregisseurin Julia Hölscher achtet die Autorin und ihre beiden Credi, zelebriert sie geradezu. Einen Gefallen tut sie sich damit nicht, erreicht genau das Gegenteil: Sie versenkt die politische, aber selten gespielte Autorin Marieluise Fleißer, die doch so wichtig war für einen Rainer Werner Fassbinder und einen Franz Xaver Kroetz, im Orkus der dramatischen Bedeutungslosigkeit.
Vor der Höllenpforte: Robert Dölle, Johannes Nussbaum, Luana Velis © Sandra Then
Der effektgeladene Trauer-Choral des Anfangs ist schnell verpufft. Was bleibt, ist das kalt-gelbe Licht, das sich wie ein undurchdringbarer Filter zwischen Zuschauer und dem Geschehen auf der Bühne legt. Und so sieht man acht Schauspieler*innen wie in einem Guckkasten dabei zu, wie sie durchtriebene, finster dreinschauende Landbevölkerung mit überästhisierter Unnatürlichkeit spielen.
Als sei alles Lebendige in ihnen abgestorben
Künstlich, aber zugleich kunstvoll ist schon allein die Sprache Marieluise Fleißers, die bairisch klingt, es dann aber doch nicht ganz ist; mit knappen, aggressiven Dialogen, die keine Nähe zulassen wollen und können. Ebenso weit auseinander lässt Hölscher ihre Schauspieler*innen stehen, schafft damit gleich doppelte, unüberwindbare Distanz. Ihren Text setzen sie impulsarm-hölzern in den Zuschauerraum ab und blicken uns an, als sei alles Lebendige in ihnen abgestorben. Aber was soll man auf etwas erwidern, das so sehr weit weg von einem ist. Zumindest untereinander kommen sie sich dann doch ab und zu nah – wenn sie einander verprügeln oder anschreien.
So bleibt sich auch der "starke Stamm" untereinander fremd. Die Familie, nurmehr durchökonomisierte Zweckgemeinschaft, die über den Dauer-Hickhack ums Geld zusammengehalten wird und wo keiner den andren mal fragt, wie's ihm eigentlich geht. Oberhaupt ist der frisch verwitwete Sattlermeister Leonhardt Bitterwolf. Robert Dölle spielt ihn mit grimmiger Eisenherzigkeit, den Patriarchen, der seine Macht gegenüber den Mitmenschen nur behaupten kann, in dem er laut und gewalttätig ist. Ihn treibt weniger die Geldgier, dafür treibt er es mit seiner Magd, dem Annerl. Die will ihn, weil er ein Haus hat. Schwanger ist sie bald, aber heiraten will sie der Sattlermeister Bitterwolf nicht. Was in der Nachkriegs-Bundesrepublik Skandal, ist heute Schulterzucken.
Deus ex machina auf der Harley: Arnulf Schumacher mit Luana Velis und Johannes Nussbaum © Sandra Then
Eigentlich ist der Bitterwolf eine ziemlich arme Wurst, seine Schwägerin Balbina Puhlheller das eigentliche Zentrum. Katja Jung erfüllt sie mit dem handfesten Charme einer Kleinbürger-Grand-Dame. Diese Balbina könnte glatt als emanzipierte Frau durchgehen. Manchmal kommt aus ihr sperrige Poetik, wie sie nur aus einem verrohten Menschen herauskommt, der doch noch irgendwo einen Funken Gefühl in sich trägt: Lebensnüchternes Schwelgen über die Flügel, die einem vor lauter Verlangen herauswachsen müssten aus dem eigenen Buckel. "Aber das gibts ja net auf der beschissenen Welt." Und so bleibt Balbina geschwätzig, gerissen, geltungssüchtig und mit ihrer Geldgier nichts weiter als ein alter, "weißer" Mann. Ein weiterer dieser Spezies kommt bei Hölscher zum Schluss auf der Harley angetuckert: der reiche Onkel von Rottenegg, Arnulf Schumacher als jovialer "Deus auf Machina" mit wehendem Silberhaar, der das Erbe neu verteilt, aber nicht ohne vorher nochmal der Magd Annerl auf Po und Brüste geglotzt zu haben.
Kein junger Mensch muss heute aus Trotz in einem Bergwerk schuften
Es ist ein seltsames Verharren im Gestrigen in Julia Hölschers Inszenierung – aus Achtung vor Marieluise Fleißer oder gar aus Mutlosigkeit. Doch was in den Fünfzigerjahren noch dringliche Milieukritik war, braucht heute einen Filter, braucht Übersetzung, so dass sich das scheinbar Abseitige, das Provinziell-Altmodische auch noch als gegenwärtiger Albtraum entpuppen kann.
Stattdessen Heimat-Noir: grimmig, roh, brutal mit Scheunentor, Dirndl, Maßkrug, Heu und Hahn. So ist das Unglück dieser Leute nicht das unsere. Vielleicht fühlt man noch am ehesten mit Hubert, der Kunstmaler werden will und nicht Sattlermeister wie sein Vater. Johannes Nussbaum verleiht ihm etwas sehr Wahnsinniges und sehr Angsteinflößendes. Doch kein junger Mensch muss heute dann aus Trotz in einem Bergwerk schuften. Hölscher zeigt die bigotte Provinz, so wie sie Fleißer in "Der starke Stamm" oder im "Fegefeuer in Ingolstadt" beschrieb und wie man sie sich in der Stadt München wohl noch immer vorstellt. Hölscher bildet diese Provinz ab, nicht aber die eigentliche, die in den Köpfen.
Der starke Stamm
von Marieluise Fleißer
Inszenierung: Julia Hölscher, Bühne: Paul Zoller, Kostüme: Meentje Nielsen, Musik: Martin Gantenbein, Licht: Markus Schadel, Dramaturgie: Stefanie Hackl.
Mit: Robert Dölle, Christian Erdt, Katja Jung, Niklas Mitteregger, Johannes Nussbaum, Thomas Reisinger, Arnulf Schumacher, Luana Velis, Statisterie des Residenztheaters: Pascale Lacoste, Isabella Lappé, Christel Riedel.
Premiere am 23. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Über "archaisches Bauerntheater auf der bayerischen Großstadtbühne, ganz klassisch gespielt und mit einigen gelungenen Momenten des Aberwitzes", berichtet Michael Stadler in der Abendzeitung (27.1.2020). Nach einem "starken Beginn geht der Inszenierung zunehmend die Genauigkeit der Positionen und Worte verloren“. Es sei "es ein ganz schöner Irrsinn, dieses kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieg verfasste Volksstück praktisch eins-zu-eins noch mal auf die Bühne zu setzen. Als ob das Rad der Zeit sich nicht ein wenig weitergedreht hätte."
Julia Hölschers "inszeniert dieses Stück kritischen Volkstheaters metiersicher", berichtet Christoph Leibold im Bayerischen Rundfunk BR|24 (online 24.1.2020). "Wie ihr anfänglich nüchterner Blick auf die Figuren allmählich einer empathischeren Betrachtungsweise weicht, ehe die Aufführung in einem Finale voll galligem Humor mündet – das schafft einen tragfähigen Spannungsbogen. Dabei bewegt sich Hölscher im Rahmen der Aufführungskonvention. Einen Theater-Innovationspreis wird sie mit dieser Inszenierung sicher nicht gewinnen. Aber die Konsequenz und Klarheit, mit der sie diesen starken Stamm auf die Bühne pflanzt, hat Klasse."
"Welch eine faszinierende Inszenierung! Welch großartige Schauspielerleistungen!", jubelt ein Anonymus (laut Information des Residenztheaters: Hannes S. Macher) im Donaukurier (online 24.1.2020). "In ein ungemein subtiles Regietheater, bei dem auf die präzise Charakterisierung all der knorrigen, verbohrten, wuseligen und bajuwarisch-schlitzohrigen Figuren allergrößter Wert gelegt wurde, tauchte die Regisseurin Julia Hölscher dieses ebenso brillante wie herrlich hintergründig-böse Volksstück."
Marieluise Fleißers Texte seien "so stark, dass sie praktisch immer funktionieren, einfach als schroffe Sprachskulpturen", schreibt Alexander Altmann im Münchner Merkur (25./26.1.2020). Julia Hölschers werktreuer Abend "fasziniert" durch "lapidare, holzschnitthafte Wucht und eindringliche Bilder". Dennoch bleibe "ein leichtes Unbehagen", ob das nicht "alles zu glatt" und die "Rumpel-Syntax ein bisschen zu gefällig präsentiert" werde.
"Intensive Zeichnungen, die berühren" hat Teresa Grenzmann erlebt, wie sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.1.2020) schreibt. Es sei der leere Griff nach den Sternen, der Fleißers Volksstück in der Zeit des Wiederaufbaus zur "Satirischen Komödie" mache: "Wenn zu Beginn Bitterwolf das riesige Scheunentor von Bühnenbildner Paul Zoller aufstemmt, hinter dem, zwielichtig illuminiert, der Platzregen dampft. Wenn die Blasmusik im hundertminütigen Verlauf des Abends zunehmend an Harmonie verliert. Wenn Robert Dölle mit festem Stand auf den abschüssigen Dielen, die des Sattlermeisters Welt bedeuten, vor sich hinstarrt oder schadenfroh in sich hineinschmunzelt und die knappen, satten Sätze Fleißers in ihrem harten Kunstdialekt herzhaft ausspuckt. Wenn es Johannes Nussbaums Hubert schier zerreißt vor unterdrückter Rebellion gegen die soziale Ungerechtigkeit."
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