Woyzeck - Schauspiel Stuttgart
Wie Kanaillevögele im Netz
von Elisabeth Maier
Stuttgart, 24. Januar 2020. Gefangen wie Zugvögel in einem Netz sind die Menschen in Georg Büchners "Woyzeck". Ganz unten kämpft der Underdog ums Überleben seiner Familie mit Frau und Kind. Seinen Körper verkauft er für ein paar Groschen an die Wissenschaft. Zino Wey lässt den geschundenen Menschen in seiner Inszenierung am Staatstheater Stuttgart an Mechanismen der Macht scheitern. Sylvana Krappatsch spielt den bettelarmen Protagonisten, der von allen in den Dreck gezogen wird.
"Die ganze Menschheit studiert an mir"
"Ich bin ein Mann", schreit der Tambourmajor. Dabei tritt er Woyzeck in den Bauch. Sebastian Röhrle zelebriert die Überlegenheit der Figur. Auf seine Glatze sind Hörner gemalt. Wild wie ein Stier schlägt er um sich. Stumm erträgt die Spielerin den Schmerz. Die Gewalt, der sie als Frau in einer maskulin geprägten Welt begegnet, legt Krappatsch in ihrer Männerrolle sehr subtil und feinfühlig offen. Diese Besetzung folgt nicht allein dem Trend, dass sich Frauen die großen Rollen der Männer aneignen. Zino Wey legt damit eine doppelte Unterdrückung offen.
Krämpfe schütteln diesen Menschen, seine Sprache zerbirst: "Ich bin ein lebendiges Skelett. Die ganze Menschheit studiert an mir." Die Wut ihrer Figur frisst die Spielerin in sich hinein. Reglos und fahl steht sie im Bühnenraum, wirkt verloren und einsam. Wie es in ihr brodelt, spiegelt Krappatschs kluge Körpersprache grandios.
Die Unwirklichkeit der Welt
Dennoch liest Zino Wey Büchners Text nicht allein politisch. Auch die bizarre Märchenwelt, die der erst 23-jährige Mediziner und politische Autor in seinem Fragment erschuf, bringt der Schweizer Regisseur auf die Bühne des Schauspielhauses. Mit einem lauten Feuerwerksknall lässt Wey den Abend beginnen. Dann tanzen Fantasiegestalten in bunten Flickengewändern über die Bühne. Max Kühns elektronische Klangfetzen verstärken die unwirkliche Welt, in die der Regisseur die Akteure stößt. In dieses Setting streut Robert Rozic als Idiot das Lied vom "Jäger aus Kurpfalz". Das klingt in seinem verlangsamten Remix wie eine psychedelische Endlosschleife. Der Schauspieler schöpft das magische Potenzial der Figur aus, die in seiner Lesart auch der Tod sein kann. Die Figur des Narren aus Büchners Originaltext wertet dieser Zugriff deutlich auf.
Im goldenen Glitzerkleid führt Gabriele Hintermaier als Margreth das astronomische Pferd vor. Wie auf einem Jahrmarkt werden Menschen und Tiere ausgestellt. Dass Matthias Lejas stolzer und starker Hauptmann ebenso ein Nichts ist wie der farblose Doktor von Sven Prietz, offenbart Davy van Gervens Bühne. Im riesigen Netz, an dem bunte Lämpchen leuchten, verfangen sich die Akteure. Sie wirken so hilflos wie die "Kanaillevögele" (Kanarienvögel), von denen der hessische Dramatiker 1836 in seinem Fragment schrieb, das erst lange nach seinem frühen Tod uraufgeführt wurde. Die Lächerlichkeit der Militärs unterstreichen Veronika Schneiders schrille, bunte Kostüme. Die vermeintliche Elite der Gesellschaft, deren Macht der politische Dramatiker Büchner klug analysiert, ist ebenso hilflos wie die kleinen Leute.
Das kleine bisschen Glück
Diesen Bodensatz der Gesellschaft verkörpert Woyzecks Geliebte Marie ohne sozialromantischen Kitsch. Als ledige Mutter muss sie sich und das Kind durchbringen. Aus dem ärmlichen Alltag mit Woyzeck flieht sie In Liebesträume mit dem Tambourmajor. Paula Skorupa gewinnt ihrer Figur eine immense Vielschichtigkeit ab. Sie verblasst nicht in der Opferrolle, sondern behauptet ihr kleines bisschen Glück. Wenn sie von der Liebe spricht, leuchtet das Netz hinter ihr kunterbunt. Eine starke Frau zeigt die Schauspielerin, die sich selbst ihre Sterne vom Himmel holt. Zino Weys zeitlose Lesart von Büchners viel gespieltem Dramenfragment bringt die Facetten des Textes schön zum Tragen. Diese Balance zwischen politischer Botschaft und der Flucht in eine Märchenwelt macht den Reiz der 80 Minuten im Zeitraffer getakteten Regiearbeit aus. Woyzecks Wut und Leidenschaft gehen in Zino Weys ästhetisch faszinierenden Theaterbildern oft unter. Doch in seiner Lesart ist das kein Defizit. Gerade durch diese Verknappung, durch die Konzentration auf die verzweifelte Lage des Menschen Woyzeck, überzeugt Weys Blick auf Büchners Dramenfragment umso mehr.
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Zino Wey, Bühne: Davy van Gerven, Kostüme: Veronika Schneider, Musik: Max Kühn, Licht: Rüdiger Benz, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Sylvana Krappatsch, Paula Skorupa, Matthias Leja, Sven Prietz, Sebastian Röhrle, Valentin Richter, Robert Rozic, Gabriele Hintermaier.
Premiere am 24. Januar 2020
Spieldauer: 1 Stunde 20 Minuten, eine Pause
www.schauspielstuttgart.de
Mehr über Schauspielerinnen in kanonischen Männerrollen in einem Essay über Hosenrollen und Schauspiel in Zeiten der Liberalisierung von Georg Kasch.
"Der Regisseur Zino Wey montiert das Stück auf kluge Weise neu: Soziales Elend, Ausbeutung, Klassenverhältnisse interessieren ihn schon auch, aber den Fokus legt er auf die Psychopathologie einer Gesellschaft, in der alle unter Zwangs- und Wahnvorstellungen leiden", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (online am 25.1.2020). "Mit fiebriger Intensität" verkörpere Sylvana Krappatsch die Titelfigur. "Manche Szenen geraten zu spannungslos, manche wirken aufgesetzt (…) Doch die schwindelerregenden Abgründe des Menschen verlieren er und seine Darsteller nicht aus den Augen."
Regisseur Zino Wey gehe eher mit ruhiger Hand ans Werk, "reduziert das Dramenpersonal und streicht etwa die Großmutter", schreibt
in der Heidenheimer Zeitung (27.1.2020). Ihre Vision einer postapokalyptischen Welt werde beiläufig von der Figur des Narren erzählt und verliere so an Wirkung. "Die Regie müht sich, alles Naturalistische zu vermeiden: kein Blut, keine Pisse." Die Veränderungen können nicht immer überzeugen und "Zino Weys Büchner-Zugriff bietet ansonsten braves Regietheater as usual, mehr nicht".Zino Wey liefere mit seine Inszenierung spannende Fragestellungen, schade, dass die Antwort allenfalls so halb gelinge, schreibt Johannes Bruggaier im Südkurier (27.1.2020). Die Szenen wirken mitunter beziehungslos aneinander gereiht. Woyzecks Bluttat scheine nicht wirklich schlüssig, und Sylvana Krappatschs Spiel ist kraftvoll, leide aber unter der vorgegebenen Interpretation der Rolle - "eine Figur um die wesentlichen Merkmale ihrer Rolle zu bringen statt diese auszustellen, muss jedem Schauspieler als paradoxe Aufgabe erscheinen."
"Dieser Abend ist voll von unheimlichen Gestalten, er wird spannend und dicht erzählt: eine zeitlose Parabel auf das unmenschliche Miteinander. Und Krappatschs Spiel folgt man gebannt bis zur letzten Sekunde." So berichtet Grete Götze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.2.2020).
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Ja und nein. Bei dieser "Woyzeck"-Inszenierung habe ich, offen gestanden, erst mal gar nix kapiert, saß dem Geschehen ähnlich emotionslos gegenüber wie die Hauptfigur. Nun lese ich diese Kritik, und es eröffnen sich viele kleine Lichtlein, vergleichbar mit dem Bühnenbild. Jetzt muss ich noch mal rein...
Auch wenn ein Mann diese Rolle so spielen würde wäre ich als Zuschauer hilflos und die Figur nicht nachvollziehbar.
Diese umgekehrte Besetzung scheint aber von der Regie gewollt, ebenso diese teilnahmslos wirkende, scheinbar desinteressierte Darstellung.
Ansonsten müsste man ja denken, die Schauspielerin könne es nicht besser...
Also warum das? Alle anderen dürfen sich ja auch zu klaren Figuren bzw. zu Menschen mit bestimmten ausgeprägten Charakterzügen entwickeln.
Es fehlt an Tiefe und Doppelbödigkeit.
Die Schauspieler spielen weit unter ihren Fähigkeiten.Einziger Lichtblick ist die Wiederaufnahme des Faust 1 aus der letzten Intendanz, die die Stuttgarter Zeitung leider weggeschrieben hat.
Große Regisseure kommen einfach nicht mehr, neue sperrige werden vergrault.
das Staatstheater Stuttgart verfügt doch aber schon über sehr andere finanzielle Mittel als die von Ihnen zum Vergleich herangezogenen Häuser in Bielefeld, Cottbus oder Graz. Damit sollte es dem Intendanten dieses Hauses schon möglich sein, eine andere überregionale Wirkung auszustrahlen. Unter der vorhergegangenen Intendanz reiste das Staatstheater Stuttgart schließlich in den ersten beiden Spielzeiten jeweils zum Theatertreffen nach Berlin. Die künstlerische Aussagekraft dieser Einladungen mag jede*r so einschätzen wie sie oder er will, aber sie sagen schon sehr deutlich etwas darüber aus wie ein so großes, finanzstarkes Haus wie Stuttgart überregional wahrgenommen wird. Bei diesen Möglichkeiten auf Theater auf einem solchen Niveau wie gerade in Stuttgart zu machen, reicht wohl den überregionalen Kritikern im Gegensatz zum Stuttgarter Kritiker nicht aus.
Und interessanterweise hatte der Stuttgarter Chef-Kritiker bei den Theater-heute-Jahresumfragen während der Petras-Intendanz seinen "Lokalpatriotismus" ziemlich vergessen. Das wirkt schon alles sehr so, als wäre damals bewusst gegen einen Intendanten geschrieben worden und würde jetzt bewusst für einen Intendanten geschrieben.
da Sie ja des öfteren selbst für die Stuttgarter Zeitung schreiben, gehe ich auch davon aus, dass Ihnen bewusst ist, wie und was Ihre Kollegen da so schreiben. Aber trotzdem eine kleine Erinnerung für Sie:
"Das ärgerlichste Kulturerlebnis Die unheilvolle Allianz von Ambition, Arroganz, Ignoranz im Stuttgarter Schauspiel: Armin Petras ist nicht in der Stadt angekommen," so schrieb der Kulturedakteur in seinem Jahresrückblick 2015. Ich glaube, in so einem Zitat muss man einem Kritiker keine bösen Beichten unterstellen, denn sie liegen ja offen zu Tage.
(Anm. der Redaktion: Aus dem Kommentar wurde ein persönlicher Anwurf gestrichen. Im Übrigen drängt sich für mich als Beobachter der Diskussion der Eindruck auf, dass die Kritik an Schauspiel und Berichterstattung hier ausgiebig und nachvollziehbar umrissen ist. Bitte haben Sie Verständnis, wenn wir den Fortgang der Diskussion auf Redundanzen prüfen und ggf. Beiträge nicht veröffentlichen, die den gleichen Punkt in Abwandlung vorbringen. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Zur Theater-heute-Jahresbestenliste ist zu sagen, dass die Kategorie „Gesamtleistung eines Theaters“ häufig lokal grundiert ist. Wieviele Kritiker*innen gibt es denn, die bei der Gesamtleistung den gesamten deutschsprachigen Raum im Blick haben? Vier? Fünf? Ich reise wahrlich viel, aber alle Premieren sehr auch ich nur in der Stadt, in der ich meinen Lebensmittelpunkt habe. Entsprechend habe ich bei der Gesamtleistung (wohlgemerkt nicht bei Einzelbewertungen) meist die Häuser vor Ort im Blick - und das ist wohl bei den meisten Kolleg*innen so!
Elisabeth Maiers Kritik stimme ich größtenteils zu, aber ein paar dinge stören mich. Es findet meiner Meinung nach keine wirkliche Auseinandersetzung mit den Texten statt, stattdesssen spielt man gerne Auftragswerke von zeitgenössischen Autoren. Krampfhaft wird versucht politisch korrekte Tatsachen in einen Theaterstück hinein zu interpretieren.
Dieser Aussage von Elisabeth Maier kann man nicht vollständig zustimmen. Zwar kann man davon ausgehen, dass auch der Doktor möglicherweise Druck von der Gesellschaft verspürt. Dies würde erklären warum er sich durch die Experimente in der Gesellschaft beweisen möchte. Allerdings kann man Woyzecks Lage nicht mit der des Doktors vergleichen. Woyzeck wird vom Doktor unmenschlich behandelt und insgesamt als wertlos gesehen, während der Doktor eher von seiner eigenen Wahrnehmung unterdrückt wird.