Im Dickicht der Städte - Münchner Kammerspiele
Nimm das, Misanthropie
von Cornelia Fiedler
München, 25. Dezember 2020. Runde 1: Wie ein kleines Alien sitzt Gro Swantje Kohlhof in einem großen durchsichtigen Plastik-Zorb-Ball im Foyer der Kammerspiele. Sie tippt auf ihrem Handy. Die Bussis, Rufe und Lacher um sie her, die, wie bei Premieren üblich, auch vor "Im Dickicht der Städte" etwas schmatzender, lauter und schriller ausfallen als sonst, erreichen sie nicht. Sie hat verloren: Denn sie ist allein.
Alle sind allein
Runde 2: Julia Riedler lockt das Publikum mit schön rauer Mikrophonstimme in den Saal. Jelena Kuljić geistert derweil mit Kamerafrau Lilli-Rose Pongratz durchs Foyer, später durch die Reihen der Zuschauer*innen, und sucht nach potenziell Einsamen. Ihre ruhigen Livebilder von einzelnen Zuschauer*innen werden auf eine Leinwand auf der Bühne übertragen. Riedler guckt, wir gucken und Riedler interpretiert gut gelaunt und sehr zugewandt drauf los: Dieser da pendelt zu viel und ist nirgendwo zu Hause, jene ist frisch verliebt, möchte aber keine Kinder in unsere kaputte Welt setzen, er dort fühlt sich seiner Generation nicht zugehörig, jene guckt gern "Kommissar Rex", allein mit ihrem Kater. Klares Unentschieden: Wir sind hier alle gleich allein.
Runde 3: Der Kampf, den Regisseur Christopher Rüping und Dramaturgin Valerie Göhring für heute angesetzt haben, switcht jetzt ins Chicago Anfang des letzten Jahrhunderts. Einige der großen schwarzen Bühnentechnik-Rollkisten auf der Spielfläche entpuppen sich als Regale voller Bücher. Majd Feddah rollt in einem weiteren durchsichtigen Plastik-Ball herein. Er ist George Garga, zumindest jetzt, die Rollen switchen. Voll im Interpretationsmodus und siegesgewiss vermuten wir: Auch er ist allein.
Julia Riedler, zunächst als Shlink © Julian Baumann
Runde 4: Plötzlich taucht Riedler alias Holzhändler Shlink auf, der*die, unterstützt von Kuljić, in einem willkürlichen Anfall von Arschlochhaftigkeit den knuffigen Bibliothekar Garga anpöbelt, provoziert, beleidigt. Alle drei agieren so lange launig spielfreudig im Gleichgewicht der Kräfte, bis Garga kapiert, dass Shlink keine Witze macht. Garga, noch auf der Seite des gesunden Menschenverstands, liefert einen schäumenden Wutausbruch in Deutsch, Englisch und Arabisch – Sprachen sowie Gender- und Rollenidentifikation haben angenehm wenig Bedeutung an diesem Abend. Garga wird entlassen. Technisches k.o.
Brecht meets Spielberg
Runde 5: Die schiere Fassungslosigkeit Gargas stößt beim Zuschauen eine assoziative Abschweifung an, zu Steven Spielbergs Frühwerk "Das Duell". Auf einem staubigen Highway durch Kalifornien stellt Dennis Weaver alias David Mann völlig entgeistert fest, dass ein LKW-Fahrer die Jagd auf ihn eröffnet hat. Unerbittlich, stundenlang, potenziell tödlich – und absolut ohne Grund. Das ist ähnlich irre wie hier in Brechts Frühwerk. Ein Mann beginnt einen erbarmungslosen Kampf gegen einen Fremden. Dieser wird mit dem gleichen Vernichtungswillen darauf einsteigen, ohne nach dem Grund zu fragen. Ein brutaler Tiefschlag für jedes restoptimistische Menschenbild.
Kampf als Kontaktsuche: Jelena Kuljić, Gro Swantje Kohlhof © Julian Baumann
Runde 6: So einfach ist das nicht, kontert Rüping, und wirft mit Wucht die Schlusspointe des Stücks in den Ring: "Jetzt gegen Ende verfallen Sie also der schwarzen Sucht des Planeten, Fühlung zu bekommen", analysiert Garga da nämlich kühl seinen engsten Feind. Nach drei Jahren Kampf, nach der Zerstörung einer Familie, eines Geschäfts, eines ganzen Viertels. Der leugnet nichts: "Erinnere dich der Frage, die wir stellten. Nimm dich zusammen. Ich liebe dich." Der Kampf entpuppt sich als verzweifelte Kontaktsuche, Liebe nicht ausgeschlossen. Bäm, nimm das, Misanthropie!
Wichtiger ist die Liebe
Runde 7: Fun Fact: Für Thomas Mann, der die Uraufführung am Residenztheater 1923 rezensierte, war das Stück wohl ein Schlag ins Gesicht. "Bolschewistische Kunst" lautete sein Urteil.
Runde 8: Weil der Abend von Beginn an vehement postuliert, dass wir in einer Gesellschaft von Vereinzelten leben, überspringt Rüping einige Runden aus Brechts Kampf-Dramaturgie, etwa dass Garga drei Jahre im Gefängnis sitzt. Wichtiger ist die Liebe. Wer das Original vorher nicht gelesen hat, könnte beim Versuch, der Handlung zu folgen, an dieser Stelle das Handtuch werfen.
Blutbad endet in Kuss
Runde 9: Weil es um die Vereinigung Vereinzelter geht, erlauben sich die Figuren, was sich schon lange in den sehnsuchtvollen Blicken aller angekündigt hat: eine Runde akustisch ziemlich lustigen Gruppensex unter einer riesigen weißen Steppdecke, etwas sinnfällig neu geordneter Brecht-Text inklusive. Ein klarer Fall von Verklammerung.
Schluss mit Kuss: Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić © Julian Baumann
Runde 10: Nach Zerrüttungen im Liebesnest organisiert Garga einen Lynchmob gegen Shlink. Für dieses Finale springt Kohlhof in die Rolle des Holzhändlers, während Kuljić sich in der Ecke von Garga positioniert. Es folgt eine sehenswert choreographierte, hübsch ironische Wirtshausschlägerei quer über Bühne, Bett und Bücherregale. Unentschieden.
Runde 11: Dass auch dieses Blutbad in einem langen Kuss endet, ist leider wirklich keine Überraschung mehr. Die beiden spielen wunderbar drängend, sie klammern sich wie Ertrinkende aneinander, während sie an Drahtseilen in die Höhe gezogen werden. Trotz des werksgetreu tragischen Endes, das noch folgt, ist Rüpings These vom "Kampf um Nähe" ab Minute 15 überdeutlich. Das ist menschenfreundlich, aber wenig spannend. Dramaturgisch achtet der Abend zu wenig auf seine Deckung
Im Dickicht der Städte
nach Bertolt Brecht
Regie: Christopher Rüping, Dramaturgie: Valerie Göhring, Bühne: Jonathan Mertz, Licht: Christian Schweig, Musik: Christoph Hart, Kostüme: Lene Schwind.
Mit: Majd Feddah, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljić, Christian Löber, Julia Riedler.
Premiere am 25. Januar 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Fast wie nebenbei gelinge Rüping durch die "erfreulich selbstverständliche Mehrsprachigkeit" eine Ausweitung der Kampfzone ins Globale, befindet Christoph Leibold im DLF Kultur "Fazit" (25.1.2020). "Dass Frauen bei ihm (nicht durchgängig, aber teils) Männer spielen und umgekehrt, und dass die Rollen munter durchgetauscht werden (...), betont zudem das Universelle dieses Kampfes." Allerdings mache es den Abend auch noch chaotischer als das Stück ohnehin schon ist. "Mit anderen Worten: Rüping übertreibt es ein wenig mit dem (an sich erfreulichen) Mut zur Mehrdeutigkeit. Dass macht das Ringen um Bedeutung auch für das Publikum stellenweise zu einem einsamen, aussichtslosen Kampf, bei dem es von der Regie alleine gelassen wird."
"Langweilig wird einem nie in diesem Münchner 'Dickicht der Städte'", sagt Sven Ricklefs auf BR24 (26.1.2020), "was sicherlich auch daran liegt, dass man das Gefühl hat, auf der Bühne nicht Figuren, sondern fünf Spielern, fünf Menschen dabei zuzuschauen, wie sie eben gerade nicht dick-, sondern dünnhäutiger werden. Wie sie sich dieses in unserer Gesellschaft so brachliegende Bedürfnis nach Nähe über das Paradox des Kampfes zu eigen machen, bis sie – sich küssend – ihren Text der Einfachheit halber an die Souffleuse abgeben oder zum Gruppenknuddeln mal eben unter einer Steppdecke verschwinden". Und so werde Brechts "im Grunde ziemlich krudes Stück" in dieser neuen Inszenierung von Christopher Rüping "spielerisch zum Spiegel eines sehr zeitgenössischen Gefühls".
"Der 'unendlichen Vereinzelung des Menschen' im Großstadtdschungel, die der junge Brecht zum Thema macht, setzt Rüping sein expressives, exzessives, berufsjugendlich verspieltes Improvisations- und Wohlfühltheater entgegen", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (27.1.2020). "Die Verfertigung des Theaters auszustellen" verbinde ihn an diesem Abend am ehesten mit Brecht. Aber: "Wo dieser in seinem Stück auf Taktik und Timing eines Faustkampfs setzt, tänzelt der nette Rüping bloß dynamisch vor dem Boxsack", so Dössel: "Manchmal lässt er Brüche, Aporien zu. Aber es fehlt die Härte, der Haken, der entscheidende Hieb. Man kann zusehen, wie der Abend an Zugriff und Spannung verliert, wie er aufweicht im Behaglichen des Ensemblekollektivs, wo jeder das Seinige einbringen darf."
"Auch wenn die Aufführung sich manchmal in selbstverliebter Verspieltheit zu verlieren droht und man manches auch schon mehr als einmal gesehen hat: Noch eine solche zeitgeistige und zugleich zeitlose Inszenierung mit diesem Ensemble aus lauter Charakterköpfe aller Geschlechter, und wir zerdrücken bei Matthias Lilienthals Abschied nicht nur ein paar pflichtgemäße Krokodilstränen", schreibt Robert Braunmüller in der Münchner Abendzeitung (27.1.2020).
Wie Brecht unterscheide Rüping nicht zwischen Spiel und Ernst, Lust und Existenz, so Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.1.2020). "Doch im Dickicht sich verselbständigender, verfremdender Assoziationen fehlt es zwischen Bühne und Zuschauerraum oft an Berührung, wo von fehlender Berührung die Rede ist. Das Spiel wirkt allzu fragmentarisch und unpersönlich un(an)greifbar."
Rüping verlässt sich "ganz auf die Individualität seiner Akteure und den spielerischen, halbimprovisierten Ansatz", den er schon in "Dionysos Stadt" verfolgte, berichtet Sabine Leucht in der taz (31.1.2020) und lobt einige "wunderbare" Schauspiel-Momente. Doch ein "Glücksfall" wie "Dionysos Stadt" werde dieser Abend nicht. "Rüpings einsame Kämpfer schießen mit Spielzeug-Blastern aufeinander und haben viel Spaß beim semiorgiastischen Gruppenkuscheln unter einer riesigen Decke. Wo es sich nicht verläppert, ist das sehr nett, aber für Brecht zu brav."
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Der Intendant, auf Platz 9, Balkon Mitte rechts, stützt schon bald sein Haupt in die Hände, womöglich um ein Nickerchen zu verhindern, oder - Dialektik der Aufklärung - ein solches zu ermöglichen; wahrscheinlich ist ihm das Geschehen dort unten allzu bekannt.
Im Grunde - zu leicht drängt das allzu Gewollte in sein Gegenteil - kommt diese Aufführung einer AfD entgegen, die ihre Leute mit: Seht, was dabei herauskommt, wenn man dem Menschen alle Bindungen, alle Zuordnungen, alle Herkünfte und Identitäten wegnimmt, in diese Vorstellung schicken wird, sobald sie dieses Desaster spitzkriegt.
Ein Kampf, immerhin das Thema, lebt von der Konzentration der Kräfte, vom Hieb, der sitzt. Mit solcher Tändelei, solcher Zerfaserung von Geschehen (welches Geschehen?) und einer Bühnenbeliebigkeit, die jede Iberl-Bühne, jedes Laientheater genauso hinkriegen würde, zerstreut man jegliche Bühnenbotschaft und ich frage mich: Worum ging’s hier überhaupt?
Ich finde, man kann vieles machen, aber das Ganze muss eine Gestalt haben. Das hier gestern war Theaterbrei; vielleicht nach dem Motto: Wir müssen was machen, also machen wir halt was.
Zwei Damen aus der ersten Reihe sind mittendrin gegangen, dazu zwei laue Buhs am Ende, ansonsten viel Applaus. Kein Wunder, saßen doch die halben Kammerspiele im Publikum. Ich warte jetzt die neue Intendanz ab.
Nein, dazu bedarf es keines Brechts.
Der Regisseur Christopher Rüping äußert im SZ-Interview vom 24.01.2020: "An den Kammerspielen wird sehr viel produziert. Auch, um den Druck von einzelnen Produktionen zu nehmen. In Zürich wird entschleunigt, da liegt die Konzentration auf den einzelnen Arbeiten. Dadurch steigt der gefühlte Druck wieder, dafür ist die Chance höher, dass die Produktionen wirklich zu sich kommen." Dieser Inszenierung "Im Dickicht der Städte" hätte mehr Entwicklungs- und Probenzeit gut getan. Andererseits kann ich auch ihr Unfertigsein, ihre Brüche als Zeitaussage verstehen. Pina Bausch hat nach der Premiere an ihren Stücken oft weitergearbeitet. Ich schaue es mir im Juni noch mal an.
P.S.: Das Photo von der Maximilianstrasse vom Himmel ist wirklich klasse.