Romeo und Julia - Nationaltheater Weimar
Neun Lorenzos und ein Denkmal
von Matthias Schmidt
Weimar, 1. Februar 2020. Das erste Wort des Abends lautet: "Arschloch". Erst leise, dann lauter, schließlich vielstimmig wird es wiederholt. Die Capulets sind mit den Montagues im Gespräch. Sie hassen sich. Sie sagen es sich. Sie schreien es sich ins Gesicht. Schließlich prügeln sie sich. Willkommen in der Welt von Romeo und Julia. In der Zeitung stünde wahrscheinlich, es habe sich um eine Auseinandersetzung zweier rivalisierender Großfamilien gehandelt. Willkommen in einer rasanten Inszenierung voller sublimer Andeutungen.
Unbefriedigt soll hier niemand gehen
Auf der wie eine Kampf-Arena von Gittern umgebenen, ansonsten aber völlig leeren Bühne geht es munter weiter: in farbenfrohen Fantasie-Kostümen (mit verschiedenen Hundeapplikationen) nimmt das Drama seinen Lauf. Lady Capulet erscheint mit Edel-Hündchen auf dem Arm. Romeo singt "O sole mio" und betet Julia – deren Balkon auf einer fahrbaren Hebebühne prangt – mit einem Freudschen Versprecher an: "Ich wollt mit dir vögeln". Unter heftigem Gelächter aus dem Publikum korrigiert er sich: "Ich wollt', ich wär' ein Vogel." Julia spielt mit, die junge Frau kann auch frivol. Unbefriedigt wolle sie ihn nicht gehen lassen …
Das klingt nach Sommertheater im Uni-Hof, aber Jan Neumann gelingt mehr. Er reichert seine Inszenierung mit Reizworten und -bildern an, ohne direkt politisch zu wirken. Er aktualisiert und verortet nicht vordergründig. Wir könnten in Verona sein.
Die Geissens in Verona
Worauf weisen die Kostüme? Indianische Muster? Orientalische Gewänder? Haut Couture? Ebenso aber, wenn Mercutio kurzzeitig in ein Capital-Bra-Gangster-Rapper-Sprech wechselt, könnte alles in einer deutschen Großstadt freier Wahl spielen. Bevor man weiter darüber nachdenken kann, worauf genau die Regie damit zielt, wird schon wieder wild gefochten, oder das Ehepaar Capulet streitet sich wie die Geissens auf RTL2.
Mercurio küsst Tybalt, der schimpft ihn "schwule Sau!" Mit dieser Art modernen Shakespeare-Volkstheaters stichelt der Abend frech in den Diskursen der Jetzt-Zeit herum. Das ist derbes, atemloses, furioses Theater. Das ist befreiend, weil es ohne vordergründige Botschaft auskommt, weil es die Denkmuster von Hass und Ausgrenzung durchspielt, in dem es sie mit Leichtigkeit verknüpft, mit Alltäglichem. Weil es tradierte Normen ohne winkende Zaunpfähle unterläuft.
Rüpel mit einem "Ü" wie in Syrien
Jan Neumann besetzt die aus Herat stammende Tahera Hashemi als Benvolio, lässt Lutz Salzmann als bärtige Amme brillieren und die beiden Diener der Capulets, in Weimar lebende "Afghan Artists at Risk", sich zirzensisch austoben. Damit, indem er es einfach macht, ohne Überbau und Ideologie, schickt er die Hate-Beiträge der Debatten zu Hosenrollen und brennenden Fragen, zu Diversität und Repräsentanz zurück in die Kommentarspalten.
Wie frei diese Arbeit ist, manifestiert sich einer der schönsten Szenen des Abends: neun Lorenzos beim Bepflanzen von Blumenkästen. Auch hier vergisst man vor lauter nahezu kindlichem Klamauk beinahe, wer sich in den schrill-bunten Nonnenkostümen eigentlich verbirgt. Männer oder Frauen? Mönche oder Nonnen? Etwas dazwischen? Wer sind wir, und wenn ja wie viele?
In dieser Inszenierung ist alles möglich, alles erlaubt, und zugleich wird alles auf den Arm genommen. Wie befreiend und so überhaupt nicht fremdenfeindlich es ist zu lachen, wenn der im Deutschen noch etwas holprige Diener der Capulets immer wieder "Rupel" sagt, und sein Herr ihn barsch belehrt, das heiße "Rüpel, mit einem Ü wie in Syrien"!
Kann aus Feindschaft Achtung werden?
Was auf den ersten Blick albern wirken mag, ist doch voller Ernst. "Ihr kennt doch alle das Stück, die sterben sonst alle!", sagt einer der Lorenzos nach der Pause, nachdem er den Brief an Romeo verschusselt hat, ihn vergeblich sucht, um Saallicht bittet und das Publikum in den tragischen Verlauf der Dinge und seine verzweifelte Suche nach dem Brief einbezieht.
Es geht um Leben und Tod und nicht weniger als die Frage, wie wir miteinander auskommen wollen. Wie aus Feindschaft vielleicht nicht gleich Freundschaft, zumindest aber gegenseitige Achtung werden kann. Neumann lässt die Versöhnung der Capulets und der Montagues weg und Romeo und Julia als Denkmal sterben, als küssendes Paar auf einem Sockel. Mit ein bisschen Pathos-Bereitschaft lässt sich darin dann doch eine Botschaft erkennen.
Romeo und Julia
von William Shakespeare
Deutsch von Thomas Brasch
Regie: Jan Neumann, Bühne: Oliver Helf, Kostüme: Cary Gayler, Musik: Camill Jammal, Cello-Einspiel: Mara Miribung, Kampfchoreografie: Jan Krauter, Dramaturgie: Eva Bormann, Lisa Evers.
Mit: Rosa Falkenhagen, Nahuel Häfliger, Krunoslav Šebrek, Tahera Hashemi, Janus Torp, Christoph Heckel, Anna Windmüller, Bernd Lange, Lutz Salzmann, Bastian Heidenreich, Gulab Jan Bamik, Abdul Mahfoz Nejrabi, Hund der Lady Capulet: Dancer/ Baby.
Premiere am 1. Februar 2020
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.nationaltheater-weimar.de
Kritikenrundschau
In der zentralen Frage "Liebe oder Freiheit?" setze Jan Neumanns Inszenierung ganz auf die Freiheit, meint Stefan Petraschewsky im MDR Kultur (online 3.2.2020): "Der gesamte Gestus dieser Inszenierung ist auf die Freiheit des Handelns angelegt", die Liebe sei "eher Beiwerk". Auf Thomas Braschs Übersetzung, die den Stoff "genial" aktualisiere, setze Neumann "noch einen drauf und macht daraus hier und da einen Rap". Er zeige "tolle Kämpfe und auch Bühnenblut", die Stärke der Inszenierung liege in der "Lust, den anderen zu reizen", im "Spiel damit, wer zuerst das Messer zieht". Vom "Hahnenkampf-Gepose bis zum blutigen Ende" sei das "konsequent und nachvollziehbar in Bilder gesetzt". Leider fehle es dem Abend jedoch "an der Personenregie, die uns zeigt, salopp gesagt: wie und warum die Figuren so ticken, wie sie ticken".
"'Liebe oder Hass', das ist hier die Frage, und Jan Neumann, der Weimarer Hausregisseur, spielt mir ihr auf, sagen wir mal: sonderbare Weise", schreibt Frank Quilitzsch in der Thüringer Allgemeinen (3.2.2020). Neumann versuche, die romantische Tragödie mit Witz und allerlei Klamauk aufzuladen, "er liebt Kontraste und harte Brüche, die auch in den Melodien und Klangteppichen zum Tragen kommen". Es gebe auch eher plumpe Verweise auf ein Hier und Heute, als dass man von einer Neubefragung sprechen könne. Aber wenn das Pärchen am Ende gemeinschaftlich in den Tod gehe, sei das in "jeglicher Hinsicht Sinne ein versöhnlicher Schluss".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
- 30. September 2024 Erste Tanztriennale: Künstlerische Leitung steht fest
- 29. September 2024 Oberhausener Theaterpreis 2024
- 29. September 2024 Schauspieler Klaus Manchen verstorben
neueste kommentare >
-
Spardiktat Berlin Nachfrage
-
Glaube, Geld, Krieg..., Berlin Werde eine Karte kaufen
-
Spardiktat Berlin Hilfe!
-
Spardiktat Berlin Leider absehbar
-
Spardiktat Berlin Managementskills
-
Spardiktat Berlin Baumolsche Kostenkrankheit
-
Einsparungen 3sat Unterschreiben!
-
Spardiktat Berlin Nicht konstruktiv
-
Einsparungen 3sat Geschätzter Stil
-
Spardiktat Berlin Verklausuliert
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Wunderbare Schauspieler,mutige Regie,großartige Musik und Bühne!
Bin beseelt
Starke bühne! Und grossartige Amme!
Tolle kostüme- bis auf diesen" Fummel" Julias nach der Liebesnacht!
liebe Regie, liebe Dramaturgie, ich verstehs nicht!