Wer ist die Gewalt?

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 6. Februar 2020. Schwarzwasser ist Toiletten-Abwasser. Ist eine Vermischung von Gelbwasser (also Urin) und Braunwasser (also Kot). Schwarz war die ÖVP, bevor sie Kurz wurde. Wasser ist das potenziell Privatisierbare, wir bestehen zu soundsoviel Prozent daraus; Wasser ist das Meer, in dem wir baden, "solang es noch eins ohne Leichenbeilage gibt", Wasser ist nicht fest. "Schwarzwasser" heißt der von Robert Borgmann uraufgeführte neue Text von Elfriede Jelinek, eine hyperassoziative Sprachflut, die sich, wieder mal, nur durchwaten lässt, durchsteigen nicht. Inseln des Verstehens: Referenzen auf Ibizagate und "Die Bakchen" von Euripides. Dazu kommen: Schredder-Affäre, die Segnung des Sebastian Kurz in der Wiener Stadthalle, der Begriff des "Opfers" beim Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologen René Girard, Polizeigewalt und NSU. Kein stilles Wasser, aber bodenlos viel.

"Eintritt macht frei"

Borgmann setzt an den Anfang des Abends einen Staatsakt. Zu salbungsvollen Opernklängen betritt Martin Wuttke im Frack die Bühne, artikuliert als Theaterdirektor sein Bedauern, diese Kunst (das Ibiza-Video läuft schemenhaft im Hintergrund) nicht zeigen zu können. Auf einer bühnengroßen Papp-Wand steht "Eintritt macht frei" und das Ensemble sitzt premierenabendlich gekleidet im Orchestergraben. Nach einer Etablierung der allgemeinen Theatralität folgt die Frage nach der Darstellung: "Wer jetzt die Gewalt darstellt, entscheiden Sie sich, Sie sind ja alles Darsteller hier."

Schwarzwasser3 560 Matthias Horn uCaroline Peters in spanischer Hoftracht © Matthias Horn

"Am Ursprung war die Gewalt", heißt es später. Aber wer stellt sie denn nun dar? Kanzler Kurz, den Jelinek als vergöttlichten Wort-Verdreher seine Untertanen heimsuchen lässt? Oder drei weiße Männer: Wuttke, Felix Kammerer und Christoph Luser, die, weil "Deutschland marschiert auch schon wieder", über die Bühne wankend betonen: "Wir können aber schon alleine gehen." Oder Caroline Peters in spanischer Hoftracht? Die mit piepsig verzerrter Stimme, ganz Unschuld, ganz Herrschaftsgewalt fragt: "Ihr Kopf wurde vor den Reifen platziert? Das ist so schade."

Hetzender Opfer-Chor

Dann trampelt der Chor mit Holzpantoffeln und Trachtenkleidern auf die Bühne. Alle neun knien nieder. Sie skandieren, wollen Opfer von Gewalt sein (quer durch die Bedeutungsschichten: Opfer als Tötung eines Sündenbocks und Reinigung der Gemeinschaft von Gewalt, Opfer als Schimpfwort oder Opferstatus als Privileg) und putzen angriffslustig den Boden entlang, bedrohlich aufs Publikum zu. "Wir sind die neuen Juden", hat Heinz-Christian Strache 2012 gesagt. Borgmann liefert 2020 ein den obszönen Satz noch übersteigerndes Bild. Während der Anschlussprogrome 1938 wurden Juden und Jüdinnen gezwungen, Straßen und Gehsteige zu putzen – dieser Chor putzt, während er hetzt. Da kommen die Solist*innen rein körperlich nicht mehr mit, bei so viel einheitlich gestikulierendem Wut-Chor, "die gewalttätige Gottheit und die unschuldige Gemeinschaft", so wie es vielleicht bei Euripides war, so einfach ist es bei Jelinek nicht.

Schwarzwasser4 560 Matthias Horn uMartin Wuttke als Joker © Matthias Horn

Die komische Tragik des Betrügers

Einfacher wird’s bei Borgmann. Keine komplizierten Zusammenhänge, sondern immer Abbruch und Neustart. Seine Uraufführug von "Schwarzwasser" ist Nummernshow, Vorhang auf, Vorhang zu, hastet die Inszenierung von Bild zu Bild. Bisschen Pistolenpantomime (siehe Ibiza-Video) hier, bisschen gesungener Text da, rosarotes Gorilla-Kostüm kaum fertig angeschaut, passiert eine ausufernde Demolierung der Papp-Wand oder jemand trägt ein Gemälde herum. Vor lauter Kunstschnee, Perücken und Pointen-Verausgabung wird das Nachdenken über Gewalt zum bloßen Soundtrack für die Bilder.

Einen Moment großen Schauspiels gibt's aber auch: Wuttke und Peters stehen vor dem Vorhang. Als Joker und Poison Ivy bitten sie zur Zauber-Show. Allertraurigste Clownerie wird zu Hitler-Rede, jedes Wort neu gedacht, mit den ganzen Referenzen Ernst gemacht. "Wir haben die Kamera nicht gesehen", weint Wuttke mehr, als dass er spricht. Die Parodie, über die nicht gut lachen ist, weil sie die Wirklichkeit ist – hier wird sie ernst und endlich komisch.

Schwarzwasser
von Elfriede Jelinek
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Rashad Becker, Chorleitung: Christine Groß, Dramaturgie: Sabrina Zwach, Licht: Friedrich Rom.
Mit: Caroline Peters, Felix Kammerer, Christoph Luser, Martin Wuttke, Chor: Caroline Baas, Sebastian Egger, Etienne Halsdorf, Safira Robens, Lili Winderlich, Amalia Takács, Verena Tranker, Julia Mikusch, August Elias Kirschgens.
Premiere am 6. Februar 2020
Dauer: 3 Stunden und 30 Minuten, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Trotz der Schwere des Textes bleibt die Inszenierung unterhaltsam", gibt Martin Pesl im Deutschlandfunk Kultur "Fazit" (6. Februar 2020) zu Protokoll. Borgmann gebe dem Text viel Raum und erfinde dazu allerlei Bilder. "Doch zu viel Respekt tut Jelineks Texten nicht gut. Die immer wieder aufpoppenden Motive der Ibiza-Affäre von der Red-Bull-Dose bis zum vermeintlich konsumierten 'Schnee', also Kokain, erheitern, ermüden aber auch in ihrer Oberflächlichkeit", sagt Pesl. "Es gelingt Borgmann nicht, einen Kern von 'Schwarzwasser' auszumachen, der über das groteske, leider allzu echte Schauspiel auf der Insel hinausweist."

Norbert Mayer schreibt in der Presse (online 7.2.2020, 16:32 Uhr, hinter paywall), er habe ein "beinah fröhliches Jelinek-Fest" gesehen mit begeisternden Schauspieler*innen, Studierenden und Sängerinnen. Jelineks Text sei "anspruchsvoll", die Darsteller brächten ihn "spielend auf den Punkt". Borgmanns Bilder machten "Jelineks Suada quasi transparent". Die "Illustrationen der Regie" seien "nicht aufdringlich und auch nicht immer zwingend". Jedoch: "Sie geben der Sprache Raum." "Eine fantastische Hommage an Jelinek".

Margarete Affenzeller schreibt im Standard (online 7.2.2020, 13:02 Uhr): Gewalt sei die "Klammer des Abends, die Handlungsebene, von der Jelinek sich vom läppischen Ibiza-Video wegzieht, um auf eine Verhandlungsbasis zu kommen". Robert Borgmann sei dabei "kein schlechter Helfer, aber rasend verkopft, sodass einige Winkelzüge des Textes auch auf der Strecke bleiben" und der "plakative Ibiza-Stoff" in den Vordergrund rücke. Mit den bei Jelinek "sprachlich vorliegenden Vexierbildern" evoziere Borgmann ein "dichtes, retardierendes Zuschauen". Er weiche jedem "oberflächlichen Effekt aus, auch um den Preis, dass einiges verklausuliert bleiben wird". "Ein beachtlicher Abend".

In der Neuen Zürcher Zeitung sieht Bernd Noack (online 7.2.2020, 18.04 Uhr) Elfriede Jelineks Stück ausgerechnet an der Realität scheitern. Denn, angesichts der Ibiza-Affäre: "Wer könnte diesem auf Video festgehaltenen Ausverkauf der Moral mit anständigen Worten beikommen?" Das Stück sei eine "nur schwer durchschaubare, sprachlich ausufernde, verwirrend und verworren verkünstelten Angelegenheit – ohne wirklichen Erkenntnisgewinn". "Redundant", "überfrachtet", unbegreifbare "Gedanken-Kaskaden". Borgmann habe sich die "eindeutigeren Stellen herausgepickt" und bebildere "kühn am Gesprochenen vorbei oder darüber hinweg". Das sei allerdings eher "Kleinkunst, die kurz erheitert, statt Welttheater, das nachhaltig erschüttert". Dass diese Inszenierung nicht völlig schiefgeht, liege "allein an den Schauspielern".

Uwe Mattheiss schreibt in der taz (online 7.2.2020): Elfriede Jelinek unternehme "einen Fischzug im Strom jenes kollektiven Unbewussten", der die "Phänomene an seiner Oberfläche gleichermaßen trägt wie unterspült". Mehr als von "Ibiza" handele ihr Text von der Apotheose des "Heiligen Sebastian" [Kurz], der ihr "zum falschen 'neuen Gott' der gegenwärtigen Erregung" werde. "Sprachkritik" bleibe die "letzte Bastion" einer Betrachtung dessen, was man einmal die "Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse" nannte. Was dem "rationalen Diskurs" durch die Finger rinne, "verfängt sich" in Jelineks "Schwarzwasser" im "Netz des poetischen Verfahrens". Für den Jelinek-Text sei Regisseur Robert Borgmann eine "Wohltat". Er modelliere ihre "Textreliefs zu feingliedrigen Sprechskulpturen". Auf die "Theatralisierung der realen Politik" reagiere Borgmann mit einem "Parforceritt durch die Kunstgeschichte", einer "Implosion der Bilder", die die "Betrachtenden zur selbsttätigen Auseinandersetzung mit den eigenen Assoziationen zwingen".

Wolfgang Höbel schreibt auf Spiegel (online 7.2.2020, 17:58 Uhr): "Im Grunde" sei die Wiener Uraufführung eine "große Abbruchparty". Jelineks Abrechnung mit "der Gegenwartspolitik" sei "lustig" – "bedrohlich oder gar tragisch" wirke sie nicht. Wie "Partygags" wirkten die "ironischen und zuverlässig smarten Bildeinfälle" von Regisseur Borgmann. Jelineks Text begreife die Ibiza-Affäre als Geschenk für eine "oft wunderbar gut gelaunte und manchmal zynisch klingende Abrechnung mit der Gegenwartspolitik". Regisseur und Schauspieler träten an diesem Abend "wie grandios beschenkte Glückskinder auf, die aufgekratzt auspacken, was die Autorin Jelinek ihnen beschert hat". Der "unbedingte Wille zum Spaß" nehme dieser Uraufführung alle Schärfe. Der Zorn über die Zustände der Politik ersticke in "Ironiegewittern".

Auch Christine Dössel fragt sich mit Jelinek in der Süddeutschen Zeitung (online 8.2.2020, 8:51 Uhr, einstweilen hinter paywall): "Wie aus etwas Theater machen, was an sich schon großes Theater ist?" Und zitiert das Programmheft: Jelinek gehe es darum, "das auf Ibiza angeberisch Gesagte auf eine andre Ebene zu hieven", auf eine größere Bühne. "Aufbereitet zu einer so kunstvollen Kabarett-Performance" wie in der Inszenierung von Robert Borgmann, lasse sich der schwer aufzunehmende "Textwust" allerdings "fast schon wieder eine Spur zu genussvoll konsumieren". Der Schauwert von Borgmanns Inszenierung sei "enorm", die Schauspieler*innen "herausragend". Wie diese sich "Jelineks Textmassen aufteilen und sarkastisch zu eigen machen, ist scharfgeistig, böse, manchmal saukomisch. Und öfters auch sinnstiftend." Die Gewalt hinter den Bildern dringe in dieser "Schreckensnummernrevue" "immer wieder durch". "Eine schwarze Komödie - mit Tiefgang ins Bodenlose".

Martin Lhotzky schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 8.2.2020, 11:30 Uhr) : "Schwarzwasser" sei ein "ermüdend-witziges Wortkonvolut". Es sei "nicht nötig", auf etliche der "Umbauten" oder die "aufwendigen, fröhlichen und rätselhaften Kostümierungen" von Bettina Werner "näher einzugehen". Denn "die Überwältigung gelingt". Vielleicht weil die "Auftritte so sinnlos" wirkten, dass man versuche, "umso genauer auf den Text zu hören". Die Inszenierung biete "skurrilste Unterhaltung", treibe das Ensemble "weniger schauspielerisch als verkleidungstechnisch und memorierkünstlerisch, zu Spitzenleistungen".

"Regiertwerden ist hier eine erduldete Obszönität, ein Synonym für: hergenommen und missbraucht werden. Und zwar von Leuten, die alles mit allem verkeimen", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (13.2.2020). "Jelinek macht nun ihrerseits, aus Notwehr, das Drama zu einem Orgienschauplatz: Ihre Sprache treibt immerzu Unzucht mit ihren Objekten und letztlich mit sich selbst." Robert Borgmann gelinge das Kunststück, aus einem Zeugnis der Erschöpfung einen übermütigen Abend zu machen.  "Die Bühne, ein Füllhorn der Epochen-Anspielungen, ist in kirmeshafter Verwandlung." Die Hauptdarsteller entwickeln vor Jelineks schwarzgrauem Welthintergrund echten Entertainer-Glamour. "Ohne Peters und vor allem Wuttke, der noch den finstersten Kalauerholzweg mit Grandezza und Würde beschreitet, wäre dies eine kaum erträgliche Produktion."

 

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