Dieser Teufelskerl!

von Janis El-Bira

Berlin, 12. Februar 2020. Beinahe hätten sich alle Einwände und Zweifel, die man gegen diese Kunstsause unter großen Berliner Jungs vorzubringen wild entschlossen war, schon vor Beginn zerschlagen. Lars Eidinger habe sich, so eine Ansage ans versteinerte Publikum, just heute bei der Probe einen Finger abgeschnitten. Charité, Operation, dann aber: Entwarnung. Eidinger könne spielen, die Premiere stattfinden. Allerdings stehe er unter der Einwirkung stärkster Schmerzmittel.

Erleichterung, regelrechte Ehrfurcht geht durch die Reihen. Dieser Teufelskerl! Hackt sich den Griffel ab und stemmt nur etwas später als Alleindarsteller einen Zwei-Stunden-Abend. Das ist selbst für Eidinger-Verhältnisse ein schier absurdes Kunstopfer. In der Oper hätte man jetzt beim ersten Auftritt des Superstars direkt aufmunternd geklatscht – an der Schaubühne hält man lieber hörbar den Atem an.

Lug und Trug

Doch allmählich kehrt der Zweifel zurück. Hatte die Vorstellung nicht streng genommen schon begonnen, als die Mitarbeiterin mit dem Mikrofon die Bühne betrat? War nicht direkt zuvor im Prolog mit Brechts "Theaterkommunist", den Eidinger von der Videoleinwand herabspricht, bereits von Lug und Trug die Rede gewesen? Wühlen sich diese auffällig schönen, auffällig unbandagierten Eidinger-Fingerchen nicht überhaupt allzu flink durch John Bocks haufenweises Textilgedöns, als dass eines von ihnen wirklich am Chirurgenfaden hängen könnte? Schließlich: Steht nicht "Peer Gynt" auf dem Programmzettel, jener verlorene Sohn des Theaters, dem seine Mutter Aase schon mit der ersten Zeile ein unmissverständliches "Du lügst!" entgegenschleudert? Legen wir uns also fest: Es ist nicht die Wirklichkeit, die hier blutig ins Spiel gefallen ist, sondern ein Spiel am Werk, das Wirklichkeit schafft. Und diesem Theatergeist, der stets verjeint (sic!), dem gilt es natürlich unbedingt zu glauben.

peergynt 5 benjakon 280 uNatural born Solist: Lars Eidinger als Peer Gynt © Benjakon

Viel verrät der böse Spaß um den Finger von der Grundhaltung eines Abends, mit dem Lars Eidinger seine bisher vielleicht performativste Selbstverströmung hinlegt. Peer Gynt ist der radikalisierte Zwilling Hamlets und Richards. Jener "signature roles" also, die seinen Ruhm ebenso mitbegründet wie ihm den leisen Vorwurf eingebracht haben, eigentlich immer wieder dieselbe, stark würzige Eidinger-Suppe aufzuwärmen. Da ist es nur konsequent, dass er diesmal direkt all das dreingibt, was gerne mit dem fiesen Wort "rollendeckend" beschrieben wird.

Hochstapler allerorten

Eidingers Peer ist ein Formwandler, durch den auch die Hochstapler-Figuren der Gegenwart namenlos hindurchflackern wie einst die alten Videobilder auf einer zu oft überspielten VHS-Kassette. Donald Trump kann man herausfischen ("I would give myself an A+"), häufig auch Kanye West ("I am Shakespeare in the flesh") und natürlich Eidinger selbst, den Lügner qua Schauspielprofession, der hier insgesamt weniger Radau treibt als in seinen Hamlet- oder Richard-Rollen. Höherer Quatsch ist trotzdem genug dabei, etwa wenn er – diesmal mit Joker-Makeup und goldenen HipHop-Grills auf den Zähnen – ein halbes Dutzend Kerzen ausrülpst oder einen Standmixer-Becher mit milchgeschäumter Wurst-Gewürzgurken-Melange zu sich nimmt.

peergynt 3 560 benjakon uBeim Häuten der Zwiebel: Die Ausstattung des "Peer Gynt" stammt von Aktionskünstler John Bock, die Videos von Miles Chalcraft (an der Kamera: Hannah Rumstedt) © Benjakon

Erstaunlich entspannt ist das alles. Mit jeder Menge Leerlauf zwar, aber hübsch anzusehen, auch weil Aktionskünstler John Bock, der hier erstmals fürs Theater arbeitet, nicht nur ein spektakuläres Riesenviech aus Altkleidern in die Bühnenmitte gesetzt hat, sondern vor allem als Kostümbildner glänzt. Großartige Kleidergerüste wie von den beklopptesten Haute-Couture-Shows hat er Eidinger angezogen; Jeanshosen als Ärmel, Jogging-Peitschen mit Strapse, überall Gebamsel und Überschuss.

Ausschweifungen unter Trollen

Zwischendurch poppen dann aber auch tatsächlich immer mal wieder Ibsen-Motive auf: Die Ausschweifungen der Troll-Welt als sehr expliziter Lesben-Porno auf der Leinwand, bei dem Eidinger per Greenscreen-Interpolation ein bisschen mitschwingen darf; Ingrid (sonst-Kamerafrau Hannah Rumstedt) als allverfügbares Digitalwesen mit Siri-Stimme; der Zwiebel-Monolog als Gelegenheit für Eidinger, sich selbst als Rollenspieler zu verorten. Gelegentlich betreibt auch der Theologe Eugen Drewermann per Video-Einspieler gelehrte Werkexegese.

Identität, das lässt dieser Abend dennoch eher fühlen, als dass er es begründen würde, ist gar keine haltbare Kategorie mehr. Auch deshalb steht hier am Ende keine Seelenrettung, sondern ein Auftritt nach dem Auftritt. Eidinger kommt nach dem Schlussapplaus wieder raus, gibt erneut den Cloud Rapper und grüßt huldvoll die anwesende Kritiker-Schar in den vorderen Reihen. Einer von diesen hebt dann auch tatsächlich kurz die Hände, gerade so, als wolle er den nun über und über mit grüner Farbe angestrichenen Schauspieler wenigstens einmal berühren. Das ist natürlich wahnsinnig schön, aber er würde ja einfach abglitschen von diesem Star. Schicht um Schicht.

 

Peer Gynt
nach Henrik Ibsen
"Ein Taten-Drang-Drama von John Bock und Lars Eidinger"
Leitung: John Bock, Lars Eidinger, Bühne und Kostüme: John Bock, Video: Miles Chalcraft, Musik: Andreas "Stickle" Janetschko, Licht: Erich Schneider, Kamera: Hannah Rumstedt, Quasi-Ich: Edna Eidinger.
Mit: Lars Eidinger.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
Premiere am 12. Februar 2020

www.schaubuehne.de

 


Kritikenrundschau

Ein Ich-Drama, "das Henrik Ibsen dem aus allen Nähten platzenden Ego von Lars Eidinger auf den Leib geschrieben zu haben scheint", findet Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (online 13. 2. 2020) an der Schaubühne vor und diagnostiziert ein Energie-Problem: "Eidinger scheint seine Auftritte, um die der Abend schließlich herumorganisiert ist, gar nicht mit voller Seele zu genießen. Seine Triumph-, Räkel- und Aalposen wirken wie leicht zusammengesackte Eidinger-Zitate. Depressive Mattigkeit schiebt sich wie eine Nebelwolke vor das doch so reiche Zeichenchaos. Nicht einmal in der Konfrontation mit dem Publikum flackert Entgleisungsgefahr auf."

Lars Eidinger sei die meiste Zeit mit sich selbst beschäftigt, "mit all den seltsamen Rüstungen und Kopfbedeckungen, die er mit sich herumträgt – ein Kassettenrekorder aus den Siebzigern vor der Stirn, eine Riesenstoffwurst an den Hüften und überall Trödelkram," so Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (13. 2. 29020). "Den Stationen Ibsens stattet er den einen oder anderen Kurzbesuch ab, und es kann schön sein, wenn er die Verse spricht, wie Echos aus fernen Zeiten. Wenn er sich Zeit lässt zum Träumen, viel zu wenig." An Harmlosigkeit lässt sich dieses „Taten-Drang-Drama“ aus Schapers Sicht jedoch kaum überbieten.

Diese "fahrige, zerdehnte" Aneinanderreihung von "Peer Gynt"-Versatzstücken "zieht sich ziemlich", ächzt Fabian Wallmeier auf rbb |24 (13. 2. 2020). Es sei "keine uneingeschränkt gute Idee", den Abend als Solo einzurichten. "Denn Eidingers Rampensau-Qualitäten kommen so richtig erst dann zur Geltung, wenn sie Schlaglichter bleiben, wenn er, unter Anleitung einer starken Regie, ausbricht aus dem Gefüge des Ensembles – und dann wieder zurückkehrt."

"Es sind Dutzende von himmelschreiend lustigen Einfällen, die sich hier aneinanderreihen, manche sind kluge Verweise auf die Geheimnisse der Kunstfigur Peer Gynt, viele sind schierer Nonsens," so der Eindruck von Wolfgang Höbel auf Spiegel.de (13. 2. 2010). Immer scheine Lars Eidinger dabei zu frohlocken: "Wie geil bin ich denn!" Einen kleinen Einwand gegen diese "irre Party" möchte der Kritiker dann doch formulieren. "Sie tanzt immerzu auf der Stelle. Es geht nichts voran und nichts kolossal zu Bruch in dieser völlig undramatischen Veranstaltung", die sich immer nur um Eidingers Nabel drehe.

"Dass der Abend sich offensiv in die Gefahr begibt, peinlich zu werden, eine reine Eidinger-Eitelkeitsshow, ist zugleich das Spannende wie das Rührende daran," schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (14. 2. 2020.) und fragt "Kann das gut gehen?" Doch stürzt sich Eidinger aus Sicht der Kritikerin so "mutwillig, Eidinger-eigen und exzessiv in diese Ich-Umkreisung, setzt sich dem so bedingungslos aus", dass sie ihn schier beschützen und auf jeden Fall nicht abstürzen sehen möchte.

"Eidinger schafft auf geniale Weise, seinen knallköpfigen Selbstversuchen immer wieder auch Versatzstücke des Ibsenschen Stückes unterzumischen," schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14. 2. 2020). Lars Eidinger sei der Cristiano Ronaldo des deutschen Theaters und sein "zersplittertes Spiel, fern von psychologischen Realismus, aber auch nicht gegen das Dramatische gewandt." Damit gewinnt der Abend für Strauß besondere Anziehungskraft. Auch deshalb, weil es Eidinger aus seiner Sicht gelingt, ein Epochengefühl in seiner Figur zu verdichten.

"Dass es um Selbsterkenntnis geht, dass Peer mit seiner Gier auf Leben, Geld und Macht sich selbst im Weg steht, das geht aus den Textpassagen Eidingers schon hervor", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (17.2.2020). "Aber wenn die Sache theoretisch auch klar ist, sie schnurrt doch auf Schlagworte zusammen. Man fühlt und erlebt sie nicht, die Dummheiten und Gemeinheiten von Peer Gynt. Vielleicht weil ihre Kenntnis immer schon vorausgesetzt wird." Getüftelt und gebastelt hätten sie sicher viel, der Künstler und der Schauspieler, "sich gemeinsam über vieles schlapp gelacht, so stellt man sich das vor. Aber wohl zu wenig einen Blick von außen dazugeholt", so Müller. "Kein dritter Blick außer ihnen beiden für Regie und Dramaturgie ist dann doch zu wenig. Gut möglich aber, dass sich das Stück im Laufe der Aufführungen erst noch weiterentwickelt."

 

 

 

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