Der Meese-Mama-Komplex

von Martin Krumbholz

Dortmund, 15. Februar 2020. Gegen Ende seiner zehnjährigen Intendanz bat Kay Voges den weltberühmten Maler und Performancekünstler Jonathan Meese, den schrägsten, durchgeknalltesten, abgefucktesten und unverschämtesten Theaterabend zu kreieren, den Dortmund und die Welt je gesehen haben. Der ließ sich das zwar zweimal sagen, denn er stellte Bedingungen: Nur wenn er in Nazi-Uniform auf die Bühne gehen dürfe, sei ihm eine solche Theaterkreation möglich; aber schließlich wurden die Herren sich einig, der Künstler durfte ein paar Schauspieler mitbringen, die das zweiköpfige Dortmunder Ensemble verstärkten. Und das Abenteuer – es bekam, und dafür gibt es keine Gründe, den Titel "Lolita" – ging los. Und wie!

Null Nabokov

Kann man eigentlich ein ganzes Theater auf die Couch legen? Denn die Deutschland-, Nazi- und Hitlergrußbesessenheit des (prinzipiell erwachsenen) Künstlers Meese hat ja doch einen neurotischen Zug – etwas verschämter kommt dahinter ein komplexes Muttersyndrom zum Vorschein, übrigens das paradoxe Bindeglied zum Lolita-Stoff. Man war ja unter dem Vorwand nach Dortmund gelockt worden, es ginge um eine wie auch immer geartete Beschäftigung mit dem weltberühmten Roman "Lolita" von Vladimir Nabokov, anlässlich dessen der peruanische Schriftsteller Vargas Llosa im Jahr 1987 notierte, was man denn wolle, "schließlich und endlich" sei Lolita, das sexuell missbrauchte Kind, kaum ein Jahr jünger als Shakespeares Julia. Man höre und staune! Eine (moralische, politische, ästhetische) Kritik des so prekären wie brillanten Romans hätte ja durchaus einen Besuch in Dortmund wert sein können.

Lolita 2 560 Jan BauerCourtesyJonathanMeese uErz-Kunst: Anke Zillich, Jonathan Meese, Maximilian Brauer © Jan Bauer | Courtesy Jonathan Meese

Meese hat sich diese erspart, vielleicht hat er im Lauf der Lektüre gemerkt, dass "Lolita" (der gleichnamige Song der Französin Alyzée, nun auch schon wieder in die Jahre gekommen, ist ja tatsächlich wunderschön, er wird zu Recht mehrmals hintereinander abgespielt!), dass also "Lolita", der Roman, schlechterdings von der Abschaffung der (zwar kalten und böswilligen) Mutter handelt, der einzigen Person im Buch, die das zwölfjährige Kind vor Humbert Humbert hätte retten können. Nun, das spielt keine Rolle, denn abgesehen von einer langatmigen Inhaltsangabe des Romans, im Video vorgetragen von der, nun ja: Mutter des Künstlers (!), kommen der Roman und der Lolita-Stoff an diesem Abend gar nicht vor. Null, nothing.

Exzessives Hitlergrüßen

Dieser handelt stattdessen von der Polarität deutsch/undeutsch, und wenn "Lolita" eines nicht ist, dann ist es deutsch oder undeutsch. Das Buch ist im Kern russisch und in allem Übrigen uramerikanisch, aber das muss einen weltberühmten Künstler wie Meese nicht kümmern. Kümmert ihn auch nicht. Der Abend handelt auf der symbolischen Ebene vom exzessiven Hitlergrüßen und diskursiv von der Frage, ob "Kunstterror" das Gleiche sei wie "Terrorkunst". Auf der Bühne werden von Meese bemalte Leinwände rauf und runter gezogen, die Spieler, die irgendeinen Unsinn labern, tragen nicht nur NS-Uniformen, sondern beispielsweise auch apokryphe Mönchskutten, während im Saal ein Fotograf wichtigtuerisch durch die Reihen hüpft, als handele es sich nicht um eine Premiere, sondern um eine Fotoprobe.

Lolita 5 560 Jan BauerCourtesyJonathanMeese uEin Jonathan Meese liest nicht Nabokov © Jan Bauer | Courtesy Jonathan Meese

Gegen 21 Uhr breitet sich Bier- und Sektlaune aus. Man steht auf, geht raus, die Türen waren ohnehin offengelassen worden, holt sich feixend ein Getränk, setzt sich wieder. Einige Herrschaften sind schon nach Hause gegangen, aber es ist die Minderheit. Was bedeuten, wenn man K.U.N.S.T. mit Pünktchen schreibt, die einzelnen Initialen? Auf der Bühne wird es lauter. Lilith Stangenberg wird von Meese auf den Schultern getragen. Dieser Extremschauspielerin scheint der NS-Schmarrn nicht gegen den Strich zu gehen, jedenfalls merkt man's ihr nicht an. Uwe Schmieder lässt die Hose runter. Anke Zillich protestiert im Hintergrund schwach, kann sich aber nicht durchsetzen. Man wartet auf Rammstein. Rammstein kommt aber erst (garantiert!) gegen Schluss, dafür dann sehr lang und sehr laut.

Ach ja, die Mutter. Die ist schon recht betagt und wird, ebenfalls gegen Schluss, auf die Bühne gebeten. Es ist wohl wirklich die Mutter des Künstlers. "Meine Mutter soll der Führer werden", verlangt Meese als Hauptdarsteller. Sagt man "die Führerin"? Diese scheint ein wenig überrumpelt. Ob sie geahnt hat, welche Ausmaße der Mutterkomplex ihres Sohnes annimmt? Und dass sich unter dem Nazi-Komplex, sonderbar genug, der Mutterkomplex verbirgt? Vermutlich. Wer kennt seinen Sohn besser als die Mutter. Aus ihren alten Augen scheint nicht die Sonne (wie bei Rammstein), sondern etwas wie milde Nachsicht.

 

Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer selbst!
von Jonathan Meese
Regie, Bühne, Kostüme: Jonathan Meese, Bühnenbildmitarbeit: Louisa Robin, Nane Thomas, Kostümmitarbeit: Mona Ulrich, Dramaturgie: Dirk Baumann, Henning Nass, Licht: Sibylle Stuck, Video: Tobias Hoeft, Jan Bauer, Ton: Gertfried Lammersdorf, Andreas Sülberg.
Mit: Maximilian Brauer, Jonathan Meese, Henning Nass, Uwe Schmieder, Bernhard Schütz, Lilith Stangenberg, Anke Zillich.
Premiere am 15. Februar 2020
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

Unvorhersehbarkeit und Spontaneität würden zum Prinzip in einem Spektakel, das nach etwa eineinhalb Stunden eigentlich alle Ideen verpulvert hat, danach aber noch eine Stunde weitermacht, so Christoph Ohrem auf Deutschlandfunk Kultur (15.2.2020). "Jonathan Meeses Bühnenpräsenz und das Ensemble, das sich mit Freude schamlos in diesen grotesken Abend wirft, sorgen in all dem grotesken Tohuwabohu für viele absurd komische und durchaus interessante Momente. Meese dekonstruiert enervierend konsequent Theater- und Bühnengeschehen. Dass man bei all der Lautstärke zwar nicht einschlafen, sich aber dennoch bisweilen langweilen kann, gehört wohl zum Konzept."

"Lolita steht für die unverstellte, unschuldige, komplett freie Selbstverwirklichung", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (17.2.2020). So stehe Meese mit sechs Schauspielern auf der Bühne und ziehe eine Mischung aus Verkündigung, Appell und Happening auf, alles improvisiert und offen für plötzliche Richtungswechsel. "Wer hier Sinn sucht, ist selbst schuld." Meese verwandle Wutbürgerauftritte in einen Kindergeburtstag. "Das hat streckenweise absurde Komik."

"Dieses totale Theater zwischen Zitat und Zumutung, mit eingebautem Wiederholungszwang, schafft immer noch genug Bürgerschreck-Höhe (und auch Langatmigkeit), dass einige Besucher belustigt-beleidigt das Haus verlassen, genauso viele beginnen aber die offenen Türen zu nutzen, um sich mit alkoholischen Getränken in Bierbechern zu versorgen", beobachtet Tom Thelen im Monopol-Magazin (17.2.2020). "Es plätschert und plappert die Phrasendreschmaschine bis jeder Kalauer zweimal durch ist." Erst als die reale Meese-Mutter auf der Bühne erscheine, sei das "ein wirklich unangenehmer Moment des Mitleids und der Fremdscham nach all dem zumindest als Zumutung inszenierten Geschehen".

Einen "zweifelhaften Coup" nennt Jens Dirksen den Abend in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (17.2.2020). Er hat eine Performance erlebt, die "an Ödnis schwer zu überbieten" sei. Zum "Wechselbad der Gefühl von Ekel bis Ermüdung" gesellten sich auch Fremdscham.

"Mal zum Schreien witzig, mal mit langweiligen Durchhängern so tief wie ein schwarzes Loch" – so fasst Bettina Jäger die "Lolita"-Überschriebung in den Ruhr Nachrichten (17.2.2020) zusammen. Der Abend sei extrem laut, grell, provozierend. "Wer sich für den berühmten Messe interessiert, für den ist die Gelegenheit einmalig. Für alle anderen gilt: Das ist verrückt und nur halb geglückt."

"Ist das eine Fuge?“, fragt sich Max Florian Kühlem für die taz (18.2.2020). "Denn Meese und Ensemble bestreiten fast die kompletten drei Stunden mit einem kleinen Arsenal aus Satzfetzen, die sie variieren, umstellen, umkehren, man könnte sagen: zu einer polyphonen Sprachmelodie formen, einer bösen Fuge eben.“ Ansonsten zeigt sich der Kritiker etwas ratlos: "Man würde so gern einen Sinn stiften im Chaos, das Meese veranstaltet, in den Brocken, die er seinem Publikum hinwirft, den Reizwörtern, die er touretteartig ausspuckt."

Meese bleibe seinem Ruf und seiner Berufung absolut treu,"indem er monoman die Kunst, die ja tatsächlich nichts anderes ist als eine wohlmeinende Diktatur, gegen demokratische Verwässerung verteidigt", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (18.2.2020). "In einer Zeit, in der die Kunst aus Angst immer häufiger ihrem größten Feind, dem Kompromiss, anheimfällt, verteidigt all das einen kompromisslosen Freiheitsanspruch – ohne Botschaft, mit Mutters Hilfe."

 

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