Müll, überall Müll

von Frauke Adrians

Berlin, 19. Februar 2020. Auf Tauris ist etwas faul. Die Strände sind übersät mit Plastikmüll, eine Pest, ein Fluch wie der, der die Nachkommen des Tantalus heimsucht, auch Iphigenie. Es ist, als würde sie ihre Exil-Insel mit den Altlasten ihrer Familie besudeln. Aber möglicherweise haben die Abfallberge ja auch einen ganz anderen Ursprung.

Nora Bussenius inszeniert die Geschichte um Iphigenies Aufbegehren gegen die Praxis des Menschenopfers auf Tauris und ihren Einsatz für die Rettung ihres Bruders Orest in deutlich gekürzter Fassung. Und sie inszeniert so, dass dem Zuschauer Zweifel kommen, ob dieses hehre Ringen um Schuld und Gewissen, Selbstbestimmung und Selbstaufopferung nicht völlig aus der Zeit gefallen ist. Könnte sein, die Menschheit ist über die Humanität hinaus und einen entscheidenden Schritt weiter – auf dem Weg in den Untergang.

Die Gleichmut des Roboters

Goethe jedenfalls liegt in Gestalt seiner Büste im Müll. Und Tauris, soviel macht Christin Vahls Bühnenbild gleich klar, ist längst nicht mehr die archaische Heimstatt eines menschenopfernden Urvolks. Der Diana-Tempel, in dem Iphigenie Dienst tut, ist eine Glasbox mit Designer-Sesselchen, und Arkas (Hanni Lorenz), Diener von König Thoas, ist ein Roboter mit einem reizenden kleinen Programmierfehler und ein klarer Fall von Künstlicher Impertinenz, der mit derselben Gleichmut die Morgentoilette der Priesterin betreut wie den gefangenen Pylades foltert.

iphigenie 560 christian brachwitz uDie Waffen der Aufklärung: Klara Pfeiffer ist Iphigenie an der Parkaue Berlin © Christian Brachwitz

Gleichmut und Gelassenheit, der Verdacht liegt nahe, sind überhaupt nur von Robotern und anderen Gefühllosen aufrechtzuerhalten in einer Welt, die den Menschen mit unerträglichen Wahrheiten konfrontiert. Deshalb kann auch die Exilantin in der Diana-Vitrine damit nicht dienen. Iphigenie (Klara Pfeiffer), Goethes Musterbild an weiblicher Selbstbeherrschung, heult um ihre ermordeten Eltern, sie brüllt vor Verzweiflung, fällt ihrem kleinen Bruder Orest (Friedrich Richter) um den Hals und verpasst ihm im nächsten Moment eine schallende Ohrfeige, als er austickt und morbiden Blödsinn erzählt.

Spiel mit Klischees

Das ist prachtvolles Schauspiel: eine Iphigenie, die zurückschreit, wenn König Thoas (Florian Pabst) nicht einsieht, warum sie unbedingt heim will nach Griechenland, und die sich mit ihm ein echtes Wortgefecht liefert statt eines gepflegten Streitgesprächs. Wie soll das auch gehen – eine gesittete Diskussion über das Für und Wider von Menschenopfern?

iphigenie3 560 christian brachwitz uWortgefechte mit dem Herrscher: Florian Pabst als König Thoas und Klara Pfeiffer als Iphigenie © Christian Brachwitz

Bussenius stopft gleich zwei Klischees in die Gestalt des Thoas, das des edlen wüstenfarbenen Wilden und das des zynischen Warlords mit Kalaschnikow. Aber genau das will sie offensichtlich: die Klischees bloßstellen, die der aufgeklärte Europäer der Goethe- und der Jetztzeit ersann, um sich selbst im Vergleich überlegen und zivilisiert wähnen zu können.

Egoismus in der Zivilisation

Dabei hat es durchaus seine Berechtigung und es wirft ein interessantes Licht auf das Drama, wenn die handelnden Personen sich gegenseitig blanken Egoismus vorwerfen: Iphigenie dem Thoas, aber auch Pylades (Filip Grujic) der Iphigenie. Heißt denn der Satz "Zu wandeln und auf seinen Weg zu sehen ist eines Menschen erste, nächste Pflicht" am Ende nicht so etwas wie "Iphigenie first"?

Und der Müll am Strand: Ausdruck des reinsten Egoismus der zivilisierten Menschheit. Was die Regie nicht daran hindert, ein bildhübsches, leicht gruseliges Ballett aus Plastiktütenfetzen zu inszenieren.

iphigenie2 560 christian brachwitz uPlastikmüll aus dem Kinderzimmer: Das Ensemble der Parkaue (vorn: Friedrich Richter als Orest) spielt im Bühnenbild von Christin Vahl © Christian Brachwitz

Als das Happy End schon greifbar ist, als Thoas und die fluchtbereite Schiffsmannschaft um Orest und Pylades gesinnt scheint, ihre Gewehre und müllaufwirbelnden Laubbläser stecken zu lassen, entfesselt Bussenius die Verdammnis. Der Deus ex machina ist hier von der alles vernichtenden Art und überaus menschlich, und er fragt nicht nach Pflicht oder Neigung, Schuld und Erbarmen. Aber niemand sage, die Ex-Priesterin Iphigenie habe in dieser Welt keine Zukunft. Sie kann immer noch Müllsammlerin werden.

 

Iphigenie auf Tauris
von Johann Wolfgang Goethe
Regie: Nora Bussenius, Bühne und Kostüme: Christin Vahl, Video: Gary Hurst, Musik: Daniel Dorsch, Dramaturgie: Justus Rothlaender, Regieassistenz: Nathalie Knors, Teresa Meckel.
Mit: Filip Grujic, Hanni Lorenz, Florian Pabst, Klara Pfeiffer, Friedrich Richter.
Premiere am 19. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.parkaue.de

 

Kritikenrundschau

Nur behutsam habe Bussenius den Stoff gegen den Strich gebürstet, so Ute Büsing im Info Radio (20.2.2020). "Humanitätsduselei ist heute nicht, lernt das am Schluss begeisterte junge Publikum von dieser zeitgenössischen Lesart, in der Goethes Kern aber immer noch ganz gut aufgehoben ist."

"Nein, auch in dieser stark gekürzten Fassung von Goethes Theaterstück mangelt es nicht an dramatischen Konfrontationen – Bussenius inszeniert sie auf ein junges Publikum abgestimmt", schreibt Walter Kaufmann von der Jungen Welt (26.2.2020). Zum Ensemble: "Alle hatten sich durch ihre Körpersprache und ihre klaren, deutlich gesprochenen Goethe-Worte als talentierte Schauspieler empfohlen."

"Bussenius bleibt nah am Text und zeigt, dass man Goethe heute durchaus verstehbar spielen kann", so Barbara Behrendt von rbb kultur (20.2.2020). Sie setze geschickt ästhetische Mittel ein, um die Geschichte spannend und zeitgemäß zu inszenieren. Zur Goethe-Nachhilfe im Anschluss an den Schulunterricht eigne sich der Abend aber nur bedingt: "Man muss zumindest den Inhalt des Dramas kennen, um die gravierende Änderung zu bemerken, die die Regisseurin am Ende vornimmt." Die Inszenierung bleibe aber im Geiste Goethes, "da sie die Folgen aufzeigt, sollten Iphigenies Werte nicht obsiegen; sollte die Menschheit es nicht schaffen, diese Werte zu verteidigen".

 

 

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