Schweiß und Tränen sind dasselbe

von Maximilian Pahl

Basel, 20. Februar 2020. Es gibt ein Video, von dessen Existenz ich erst neulich erfuhr. Dabei spiele ich darin die Hauptrolle. Unter Dutzenden anderer Clips aus meiner Kindheit schlummert es auf irgendeiner Video-8-Kassette. Die ganzen frühen 90er hindurch muss diese verdammte Kamera gelaufen sein, für mich Grund genug, um eine intrinsische Skepsis gegenüber dem Medium Video zu entwickeln. Das entstandene Archiv übt heute einen gewissen Druck auf mich aus, gerade weil es Bewegtbild ist und bei jeder Betrachtung eine neue Zeitlichkeit behauptet, anders als Fotos. 

Dem Menschen beim Sterben zuschauen

Bei allem Verständnis nehme ich meinen Angehörigen aber nur dieses eine besagte Video ein bisschen übel, welches ich niemals anschauen will: dasjenige von meiner Geburt. So kam ich doppelt zur Welt. Einmal ganz gewöhnlich und einmal in einer bestimmten Anzahl Frames pro Sekunde. Diese Überlegung begleitet mich in Boris Nikitins neues Stück, welches im Kern um ein Zitat des Dichters und Filmschaffenden Jean Cocteau kreist: "Filme machen bedeutet dem Menschen in 24 Bildern pro Sekunde beim Sterben zuschauen." Wortlos verläuft der Abend und scheint dieses Cocteau-Zitat in ein wundersames Gemälde zu übersetzen. Das "Zuschauen beim Sterben" produziert eine Atmosphäre der Hilflosigkeit – die Brutalität des Filmens, des Draufhaltens der Kamera droht den sechs Performer*Innen dauernd und überall.

Ein Bild kann nicht festgehalten werden

Die Bühne, oder das Filmset, ist hell ausgeleuchtet, eine Leinwand zeigt Livebilder, Kostüme liegen herum, und ein kleines Holzhäuschen dient als Umkleidekabine, wohinein ebenfalls per Video spioniert werden kann. Anstatt einer Rückwand stehen vier Klaviere in einer Reihe, an denen das Zürcher Experimentalquartett Kukuruz sitzt, ohne die Performer*innen in den Blick zu nehmen. Die sitzen erst auf Plastikstühlen und werden dann immer wieder von Georg Lendorffs und Federico Neris Videokunst eingefangen. Mal betrachten sie einander, mal die Videos von sich selbst. Sie robben über den Boden, treffen aufeinander, fallen sich in die Arme. Es entstehen putzige Miniaturen wie in alten "Sandmännchen"-Sendungen, doch die kleinen Gesten sind dauernd gefährdet, die Körperlichkeit droht als Mittel stets den Kürzeren zu ziehen. Die Gefahr ist das Festhalten selbst. Zugleich ist es unendlich wirksam, wenn etwa Eli Cohen minutenlang direkt in die Kamera sieht, für welche Schweiß und Tränen nunmal dasselbe sind.

24 560 DonataEttlichDas Filmset mit Performer*innen und Musiker*innen © Donata Ettlin

Wie eine Katze mit ihrem Wollknäuel spielt Josefine Mühle mit ihrem Kostüm herum, zwischen Verlegenheit und Spleen flimmert ein vermeintlich authentisches Verhalten auf, und in dieser Schwebe hält Nikitin den ganzen Abend, während sich das Quartett Kukuruz musikalisch zwischen Steve Reich und Eleanor Rigby hin- und herbewegt. Mal deutet es heitere Ragtime-Tunes an, nur um sie gleich wieder zu dekonstruieren. Mit einem Haufen Klebeband präparieren die vier Instrumentalisten ihre Pianos, während sich auch die Performer mit Knieschonern bandagieren. 

Filmmusik macht Performance platt

Zunehmend wird "24 Bilder pro Sekunde" zum neuzeitlichen Klavierkonzert, und das geht schalltechnisch bis weit in den Metal-Bereich hinein. Patterns wummern durch den Saal und verhaken sich an Einzeltönen, insbesondere im Bassbereich erreicht das eine plättende Wirkung. "Sound of Silence" wird ebenso zitiert wie der Game-of-Thrones-Soundtrack, aber auch die Komposition "Gay Guerilla" des afroamerikanischen Minimalisten Julius Eastman findet einen prominenten Platz.

Konsequenterweise kann die Performance nichts dagegen unternehmen, von der (Film-)Musik plattgemacht zu werden. Jedes Medium verändert unser Selbstverständnis und unsere Identitätsbildung. Dieser Abend unterrichtet uns darin, wie es das Medium Film tut. Ich verlasse ihn mit produktivem Unbehagen. Und dem Gedanken, dass mir frei nach Cocteau schon während der Geburt jemand beim Sterben zusah. Der ist zwar nicht neu, aber nach Ansicht dieser Performance um viele Frames geschärfter.

24 Bilder pro Sekunde
von Boris Nikitin in Kollaboration mit Kukuruz Quartett
Regie: Boris Nikitin, Bühne: Johannes Maas, Annett Hardegen, Boris Nikitin, Kostüme und choreographische Zusammenarbeit: Lee Méir, Musik: Kukuruz Quartett (Philip Bartels, Duri Collenberg, Simone Keller, Lukas Rickli), Sounddesign: Adolfina Fuck, Video: Georg Lendorff, Federico Neri.
Mit: Josefine Mühle, Renen Itzhaki, Natascha Moschini, Akiles / Benjamin Sunarjo, Eli Cohen, Dessa Ganda.
Premiere am 20. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.kaserne-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Dominique Spirgi schreibt auf bzbasel.ch (online 21.2.2020, 19:08 Uhr): Die vier grandiosen Pianisten des Kukuruz- Quartetts im Hintergrund gäben alles. Sie spielten sich im ersten Teil durch den Kanon der populären Musik. Vielleicht "Erinnerungsstücke", die die "Nahtod-Betroffenen heimsuchen". Erklärungen böte der Abend nicht. Nikitin setze den Tod seines Vater als ALS in einen multimedialen Tanztheaterabend um. "Der Verlust der Beweglichkeit kontrastiert mit der musikalischen Umsetzung der nach wie vor voll und ganz funktionierenden Sensorik." Das sei "brutal", das tue "weh" und rege durch die "krass nicht erfüllten Erwartungen und Wünsche" zum Denken an.

Michael Baas schreibt in der Badischen Zeitung aus Freiburg (online 22.2.2020, hinter paywall): Boris Nikitin versuche die Grundidee von Jean Cocteau, es brauche 24 Bilder pro Sekunde, "um dem Menschen beim Sterben zuzusehen", weil die Schwelle vom stehenden zum bewegten Bild bei diesen 24 Bildern liege, künstlerisch fruchtbar zu machen. Was "theoretisch spannend klingt", bleibe in der Praxis verrätselt, "löst in den Wiederholungsschleifen ambivalente Gefühle aus, wird bedrückend und ermüdet". Dagegen packe der "musikalische Teil der Produktion" mehr.

 

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