Wie wir es gespielt haben, bleibt in der Luft

von Gerhard Preußer

Münster, 21. Februar 2020. Väter werfen Schatten, stehen im Licht und verdunkeln diejenigen, die nach ihnen kommen. Martin Heckmanns' Vater Jürgen Heckmanns hat als bildender Künstler Figuren gestaltet, giacomettiartige Papiermenschen, deren Schatten ebenso zu ihnen als Kunstwerk gehören, wie ihre aus vergänglicher Materie gestaltete Form. Martin Heckmanns hat nun ein Requiem geschrieben für seinen Vater, nicht nur für ihn, für alle deutschen Väter seiner Generation. Aus dem Schatten dieses im letzten Jahr gestorbenen Künstlervaters ist der Dramatiker Heckmanns längst herausgetreten, so kann er souverän mit ihm umgehen. Der autobiographische Kontext ist in dem nun in Münster uraufgeführten Text spürbar, aber nicht dominierend.

Rasende BRD-Geschichte

Im Stück ist dieser alte Mann halb-dement, vergesslich, aber keineswegs unzurechnungsfähig. Seine drei Kinder und eine Enkelin spielen ihm nun, auf seinen Wunsch hin, sein eigenes Leben vor, ihm und uns, dem Publikum. Daraus wird ein Panorama oder eher Kaleidoskop aus Splittern der deutschen Geschichte zwischen 1942 und heute. Alles kommt vor: Stalingrad, Bombardierung Dresdens, Kapitulation, Flucht in den Westen, katholische Kirche, Parlamentarischer Rat, Wirtschaftswunder, Wiederbewaffnung, künstlerische Entwicklung zur Abstraktion und zurück (mit Referenzen zu Zero, Anselm Kiefer, Immendorf, kapitalistischem Realismus, Fluxus usw. – eine kleine Kunstgeschichte der BRD), Rock 'n' Roll, Marcuse und das Frankfurter Institut für Sozialforschung, Studentenbewegung, RAF-Terrorismus, Mauerfall, Wiedervereinigung, Restitution des Westeigentums.

Mein Vater Schatten 1 560 OliverBerg uÜbervater, ins Geschehen ragend: Hubertus Hartmann und Ensemble © Oliver Berg

Alles rast vorbei, gebrochen durch die Perspektive des Künstlervaters, geöffnet auf die gesamtgesellschaftliche Perspektive durch verlesene Zitate von Ernst Jünger, Adorno, Mitscherlich und Luhmann. Eine besondere Ehrenrettung ist Friederike Nadig gewidmet (die wie Heckmanns aus Herford stammt), einer der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, der 1949 das Grundgesetz ausgearbeitet hat. Sie darf uns erklären, warum in §1 GG die Menschenwürde als Norm postuliert wird. Da lauschen alle im Publikum mit Andacht. So schön hat man das noch nie gehört.

Kreiskausalität von Individuum und Gesellschaft

Heckmanns' Stück ist auf der individuellen Ebene sowohl sympathisierender Nachvollzug eines Lebens als auch Abrechnung mit den Schattenseiten eines egozentrischen, fordernden Vaters. "Du musst dich schon anstrengen, damit ich mich für dich interessiere" ist einer der Kernsätze für das Verhältnis des Vaters zum Sohn. Aber das Stück versucht auch zu erklären, wie Menschen sich selbst zu bestimmen suchen, dabei aber gelenkt werden von gesellschaftlichen Stimmungen und Ereignissen. Das dramaturgische Mittel für die Manifestation dieser Kreiskausalität von Individuum und Gesellschaft sind (wie schon in Heckmanns' Stück Kommt ein Mann zur Welt die Stimmen, die auf den Vater Michael einreden, anonyme Einsager, Influencer der Gesellschaft, Schlagworteinbläser.

Mein Vater Schatten 1 560 OliverBerg uZwiegespräch über Vergangenes: Jonas Riemer, Hubertus Hartmann © Oliver Berg

Der Text erreicht sowohl die Ü70-Generation, die das Theater eifrig frequentiert, als auch die der Ü50er, die dort gelegentlich auch auftauchen. Sogar für die Ü20-Generation der Enkel gibt es Anschlussmöglichkeiten durch die Figur der Enkelin Nadja. Aber wie bringt man einem so gedankenreichen Text Theatralität bei?

Biographische Schattenspiele mit "Übermaler"

Die Bühne in Frank Behnkes Inszenierung ist ein Atelier mit einer riesigen weißen, unbemalten Leinwand (Bühne: Peter Scior). Doch bald kippt sie um und wird zur bespielbaren schrägen Fläche. Dort werden mit hohem Sprechtempo die Lebensszenen des alten Mannes von seinen Kindern markiert. Er (Hubertus Hartmann) kann kaum folgen, widerspricht, verteidigt sich, verfällt in infantile Regression, beklagt seine Orientierungslosigkeit, seine Unsicherheit über die eigene Identität. Als er als junger Mann beschließt "Übermaler" zu werden, sehen wir seinen überlebensgroßen Schatten auf der Leinwand. Zarah Leander, Elvis Presley und Wolf Biermann hören wir original aus den Lautsprechern tönen. Und natürlich wird an passender Stelle mit dem rückensteifen Alten Rock 'n' Roll getanzt.

Mein Vater Schatten 3 560 OliverBerg uStilleben, momentweise ohne Rock 'n' Roll: Hubertus Hartmann, Lea Ostrovskiy, Daniel Fries, Rose Lohmann © Oliver Berg

Die erste Autofahrt mit dem Wirtschaftswunder-Volkswagen wird von der Enkelin angedeutet, indem sie zwei Pinsel schwenkt, die die quietschenden Scheibenwischer bedeuten. Doch solcher Verlebendigung der schnell hingeworfenen Vergangenheitsszenen sind enge Grenzen gesetzt. Was fehlt in der Inszenierung, ist Zeit für die Interaktion zwischen dem alten Vater und seinen Kindern. Hier liegt sowohl der autobiographische Kern des Stückes als auch seine theatralische Wirksamkeit. Über die Tiefen des Textes wird hinweggehuscht. Zwischen 1942 und heute ist viel Zeit vergangen. Sie zu durchfahren, darf auch bei eingeschaltetem Kompressor etwas länger als 90 Minuten dauern.

Bevor der Autor selbst in Münster aus dem Lautsprecher seine Trauerrede auf den Vater spricht, sollte eigentlich als letzter Satz des Stückes ein Zitat von Ilse Aichinger aus dem Jahr 1970 verlesen werden: "Alles geht unter, aber wie wir es gespielt haben, bleibt in der Luft." Nicht was wir im Leben gespielt haben bleibt, sondern wie wir das Spiel des Lebens gespielt haben, unsere Haltung zu dem, was wir unser Leben nennen, diese Mischung aus eigener Entscheidung, vorgefundenen Voraussetzungen, unmerklicher Beeinflussung, Fremdbestimmung, Steuerungsmacht und Ohnmacht, wirkt unsichtbar nach – soll das wohl heißen. In der Endfassung der Uraufführung wurde der Satz dann doch gestrichen.

Damit dieses Stück nicht so schnell untergeht, könnte es vielleicht anders gespielt werden.

 

Mein Vater und seine Schatten
von Martin Heckmanns
Uraufführung
Inszenierung: Frank Behnke, Bühnenbild: Peter Scior, Kostüme: Ilka Meier, Musik: Leonardo Mockridge, Dramaturgie: Barbara Bily.
Mit: Hubertus Hartmann, Rose Lohmann, Daniel Fries, Jonas Riemer, Lea Ostrovskiy.
Premiere am 21. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com

 

Kritikenrundschau

"Heckmanns nutzt seine Vaterfigur, die die eigenen Kinder kaum mehr erkennt, weniger für ein Stück über Demenz; er nimmt Mich(a)els Leben als dramaturgische Schnur, an der er die Perlen bundesrepublikanischer Schlüsselmomente aufreiht", schreibt Harald Suerland in der Allgemeinen Zeitung und in den Westfälischen Nachrichten (24.2.2020). Den melancholischen, gedankenschweren Momenten lasse Behnke weniger Raum als den historischen Ereignissen. "Im Strudel der Ereignisse, den Frank Behnkes Inszenierungstempo entfacht, ragen die Schauspieler Daniel Fries und Lea Ostrovskiy heraus, weil er als Sohn in der gespielten Vaterrolle und sie als Enkelin mit skurrilen Dialogen die effektvollesten Szenen haben."

"Frank Behnke inszeniert den Text souverän und schnörkellos", so Christoph Ohrem auf WDR5 (24.2.2020). Damit komme der Text gut zur Geltung. Manchmal allerdings hätte Behnke aus Sicht dieses Kritikers doch etwas gewagter vorgehen können. Dennoch: "Eine gelungene Uraufführung eines gelungenen Stücks," so der Gesamteindruck.

 

Kommentare  
Mein Vater, Münster: es fehlt nicht
Das Grossartige an dieser Inszenierung ist: viele Interpretationen sind möglich; jede wird das Gesehene/Gehörte/Verstandene als biografisches Verstehen erkennbar machen; den Hintergrund, den das Verständnis leitet.
„Was fehlt in der Inszenierung, ist Zeit für die Interaktion zwischen dem alten Vater und seinen Kindern.“ Es fehlte nicht, es war da, die ganze Zeit, in jedem gelesenen Zitat, in dem vom Vater wiederholten Satz: Ich will nach Hause. Links-literarisch verstanden hatte er sein Leben – wie die Aktivist_innen seiner Generation – dafür gekämpft, gearbeitet, geheult und geflucht, ein Zuhause zu bauen (nicht zu malen, er war in der Tätigkeit des Malens zuhause, nicht in den Bildern). Die Motive dafür wurden aufgefächert und hinreissend gespielt (Verneigung vor dem Ensemble, auch weil sie die schwierigsten Text-Passagen ins wollende Zuhören brachten). Dass einer unter die Matratze zähneklappernd kriecht, weil ihm die Lesearbeit mit dem Luhmann-Werk das Leben unerträglich macht, denn der Hunger nach zu erkämpfendem Sinn, der mit den Widersprüchen, dem Zerrissenwerden fertig werden muss, im Sinne einer produktiven Verarbeitung wird in den Luhmann Texten in die erfüllte Funktionalität einer Individualität gepresst; diese Erfahrung ist der Kindergeneration nicht zu vermitteln. Und auf der Bühne wird dieses abgebrochene Projekt an keiner Stelle preisgegeben. Kein Lächeln, kein Stöhnen im Publikum waren zu hören als theoretische Erklärungen mit engagiertem Ernst verlesen wurden. Hier ging es offenbar im was, die Schauspieler_innen drängten mit ihrem Spiel auf Verstehen; „man“ war verdammt zu verstehen und das bedeutet die Arbeit an der Herstellung von Zusammenhängen. Auf die Frage, was sie denn geleistet hätten (denn der Vater behandelt die Bluts-verwandten nicht anders als andere, mit denen er befreundet sein will, er fragt sie nach dem was sie interessant macht für ihn) sind die Antworten am Ende des Stückes ganz einfache Sätze, eher Behauptungen, etwas unernst bedeutungslos: man sei diverser geworden, auch höflicher in den Umgangsformen und ja, die Kritik sei wohl besser (die Sprecherin ist sich nicht sicher). Nachdem wir zuvor die Qual der Sinnstiftung und notwendigen Selbst-Gesellschaftsveränderung, der existentiellen Bedrohung wenn sie nicht gelingt, sahen und hörten, rutschen diese Sätze ins gefährlich Peinliche. Indifferenz und zivilisatorische Errungenschaften, die aufgezählt werden, als könne man sie am Morgen erwerben und am Abend schon in den Müll (oder in die Post) geben, dass Weghalten von Welt als Errungenschaft für's bessere Überleben: worüber sollten die Generationen gemeinsam reden? Selbst ihre Einsamkeiten, Verletzungen bleiben ungeteilt. Niemand kann jemanden etwas beibringen. Das ist eine interessante Konstellation wenn man in Rechnung stellt, dass die aktuellen Eltern das Elternsein an Institutionen delegieren und sich bemühen, mit ihren (auch Kleinst-)Kindern befreundet zu sein.

Kornelia Hauser
Mein Vater, Münster: Hubertus Haartmann!
#1: Hut ab vor diesem differenzierten Kommentar. Das ist selten hier. Was aber die Vorrednerin bei aller Sympathie zum Abend nicht genügend würdigt, ist die große Leistung von Hubertus Haartmann. Wer ist dieser wunderbare Schauspieler? Wo spielt er sonst?
Mein Vater und seine Schatten, Münster: Was fehlt
Kritiken sind ja schon aus ihrem Naturell immer eine Einzelmeinung...geht ja auch gar nicht anders. Ein guter Bekannter von mir ist zum Beispiel Farbenblind und wo andere beispielsweise Rot sehen, nimmt er nur ein blasses Grau wahr. Jedoch würde er niemals auf seiner Einschätzung der Farbenlehre bestehen. Nun zurück zum Thema, Geschmack ist immer individuell, auch dies eine Binsenweißheit. Aber die Erwähnung der Schauspieler und die Reaktion des Publikums hielt ich bisher in Rezensionen für gesetzt. Hat sich da, für mich unbemerkt in den letzten Jahren etwas verändert? Mit freundlichen Grüßen an den Kritikern.
Mein Vater ..., Münster: Nachtrag
Liebe Nachtkritiker und insbesondere Herr Preußer.
Mir sind gerade Ihre zynischen Untertitelungen der Fotos ins Auge gesprungen und frage mich nun doch ernsthaft, ob dem Rezensenten die Grundbegriffe von Respekt und Achtung vor der Arbeit anderer geläufig sind. Wie gesagt, Geschmack ist so eine Sache. Ich mag zum Beispiel weder Rosinen noch eingelegte Sardellen. Eine Geschmacklosigkeit dagegen ist es unter dem Deckmantel der freien Rede derart unter die Gürtellinie zu langen.
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Lieber Hannes,
ungeachtet, ob ich mit Ihnen übereinstimme in der Frage der Bildunterschriften: Gerhard Preußer ist hier von aller Verantwortung auszunehmen. Überschrift, Zwischenüberschriften und Bildunterschriften machen wie üblich die Redakteur*innen.
mit freundlichem Gruß
jnm / für die Redaktion
Mein Vater, Münster: Antwort des Kritikers
Liebe Kornelia Hauser,
vielen Dank für Ihren Kommentar, der belegt, was Sie als Verdienst der Inszenierung benennen: die Möglichkeit zu vielfältiger Interpretation. Natürlich findet die Interaktion zwischen den Generationen auf der Bühne statt, sie „war da“. Ihr Kommentar bestätigt, was ich geschrieben habe, dass dieses Verhältnis der Kern und die Bedingung der Theaterwirksamkeit des Stückes ist. Was ich empfunden habe, war nur, dass dem Schauspieler des Vaters dafür mehr Zeit hätte gegeben werden können. Was Sie über den Schluss des Abends schreiben, bestätigt meine Einschätzung der Qualität des Stückes. Es hat eine Tiefe, die es lohnt, auf dem Theater ausgelotet zu werden. Ein Verdienst des Stückes ist es, dass das Projekt der Identitätsfindung des Vaters nicht preisgegeben wird, wie Sie schreiben. Sie haben Recht, auch die Inszenierung gibt dies nicht preis, sondern verfolgt es mit Sympathie.
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