Vom Theater lernen, heißt lieben lernen

von Şeyda Kurt

25. Februar 2020. Es gibt viele Gemeinsamkeit zwischen einer Theatererfahrung und der Erfahrung des Sich-Verliebens. Damit meine ich nicht jene biochemische, unmittelbare Reaktion des Sich-Verknallens in romantischen oder sexuellen Kontexten. Ich meine das Erlieben im Bewusstsein widriger Umstände. Das Sich-Einlassen, Erarbeiten und Erlernen. Die Entscheidung, zu einer Familie, zu Partner*innen und Freund*innen zärtlich sein zu wollen.

Auch ins Theater gehe ich mit einem Vorsatz. In den Minuten bevor es losgeht, bin ich angespannt und erwartungsvoll. Und doch bin ich überrumpelt, wenn es tatsächlich passiert: Eine neue Welt erhebt sich, eine Welt, die ihre eigenen Wahrheiten schafft. Wie in der Liebe. Wie in der Liebe nehme ich den Raum des Theaters auch mit in meine Welt außerhalb des Saals, das Leben jenseits der zeitlich begrenzten, physischen Zusammenkunft.

Einsam bei der Geburt einer neuen Welt

Heute schreibe ich über ein Stück, das ich an einem Februarabend in Berlin erfahren habe. Im Maxim Gorki Theater feierte Maria Premiere, ein Drama des Briten Simon Stephens, in Szene gesetzt von Nurkan Erpulat. Zunächst ist da Dunkelheit. Dann blitzt Licht auf. Auf der Bühne werden Menschen wie Schlaglichter sichtbar. Die Figur der Maria (Vidina Popov), 18 Jahre alt, langes, gelocktes Haar, ist eine davon. Sie lebt in einer Hafenstadt und schuftet in einem Fitnessstudio. Sie schaut jeden Tag einen Dokumentarfilm. Maria ist schwanger. Ihr Arzt im Krankenhaus sagt, Gebärende würden nach der Geburt ihres Kindes die Schmerzen vergessen. Doch Maria glaubt nicht an diese naiven Erzählungen. Sie fürchtet sich.

NAC Kolumne Seyda Kurt V1Wie ihre biblische Namensvetterin ist Maria auf der Suche nach menschlicher Wärme, nach Geborgenheit bei der Geburt ihres Kindes, einem Menschen, der ihren Schmerz teilt. Ihre Mutter ist zwei Jahre zuvor verstorben, ihr Bruder Christian seitdem wortlos verschwunden. Die Großmutter will nicht bei der Geburt dabei sein. Das Gespräch mit dem Vater, den Maria auf seiner Arbeit aufsucht, scheitert. Marias Mutter war einsam, als sie starb und als mit ihr eine Welt begraben wurde. Maria ist einsam beim Gebären, bei der Geburt einer neuen Welt. Dennoch sagt sie: "Ich bin glücklich."

Simon Stephens gibt der Theaterfigur Maria eine irritierende, erhabene Zugewandheit zur Welt mit. Sie stellt ihren Mitmenschen Fragen und verschließt sich nicht vor ihren Wahrheiten. Sie besteht darauf, ihre Großmutter, ihren Vater und ihren Bruder trotz der Entfremdung zu lieben. Dabei ist sie nicht ausschließlich behutsam gezeichnet. Maria ist oft wütend. Und entschlossen. Ein Hafenarbeiter bietet ihr an, für sie und ihr Kind zu sorgen. "Nein", sagt sie. Das wolle sie alleine schaffen.

Lösten Likes und Follows die wahre Zärtlichkeit ab?

Später sehen wir Maria in ihrem pastellgrünen Zimmer. In dem Raum bewegen sich Menschen. Sie klettern durch das Fenster hinein, dringen in ihr Bett ein. Maria scheint das nicht zu bemerken. Gleichzeitig spricht sie jedoch mit ihnen. Eine zerzauste Person, die auf Marias Sofa kauert, stellt sich als eine schlaflose Frau aus Australien vor, die in einer unglücklichen Ehe lebt. 

Nur allmählich wird mir als Zuschauerin klar, dass die Körper im Raum die physischen Erscheinungen der Menschen sind, mit denen Maria sich über eine Webcam unterhält. Maria arbeitet. Sie bietet auf einer Webseite Unterhaltungen an, für die sie bezahlt wird. Denn die Zugewandheit zur Welt macht sie nicht satt. Ihre Zärtlichkeit alleine kann den prekären Verhältnissen nichts entgegensetzen, in denen sie und ihr inzwischen geborenes Kind leben.

Maria wählt also einen konsequenten Weg: Sie monetarisiert ihre Zärtlichkeit. Auch das ficht die ausbeuterische (Theater)Realität nicht an. Doch es lässt Maria auch nicht passiv zurück. Gegen Bezahlung erschafft Maria einen virtuellen Raum, der anderen tatsächlich Trost spendet. Denn die Erfahrung der Zärtlichkeit, die ihr Gegenüber erfährt, ist real. "Vielleicht wollte ich einfach, dass mich jemand eine Weile anschaut", sagte eine einsame Kundin auf der anderen Seite des unsichtbaren Bildschirms einmal.

Später wird Maria trotzdem sagen, Likes und Follows in der digitalen Welt hätten die wahre Zärtlichkeit abgelöst.

Unsere Vorstellungskraft ermöglicht die Liebe

Ein Wiedersehen gibt es gegen das Ende des Stücks auch: Plötzlich taucht Christian auf, Marias Bruder, nach dem sie verzweifelt gesucht hat. Ihr anfänglich zurückhaltendes Gespräch verschärft sich zu einem Streit. Während Maria wie eine Prophetin die Stimme erhebt, tanzt Christian schemenhaft durch den Raum, wie schon die vielen anderen einsamen Gestalten zuvor.

Maria aber verkündet:

"Wir können an Dinge glauben, die es nur in Geschichten gibt. Das ist nicht bloß Vorstellungskraft. Sondern eine ganz bestimmte Vorstellungskraft. Eine Katze stellt sich vielleicht die Maus vor, die sie jagt, aber nicht sieht. Aber wir können uns vorstellen, eine Katze zu sein, die eine Maus jagt. Wir können uns vorstellen, dass die Maus so groß wird wie ein Bus. Wir können uns vorstellen, wie es ist, jemand anders zu sein."

Unsere Vorstellungskraft macht es uns möglich, Menschen zu lieben. Menschen zu lieben, die noch nicht geboren sind. Und Menschen, die starben. Unsere Liebe macht es möglich, sie in uns festzuschreiben.

Das bedeutet, wir können uns auch die Welt und die Art und Weise, wie wir einander lieben, anders vorstellen. Und sie festschreiben, wahr werden lassen.

Das bedeutet, dass auch Gefühle in der virtuellen Welt real sind. Und Zärtlichkeiten, die wir in diesen Räumen austauschen. Das bedeutet, dass alle Räume, die Zärtlichkeit zulassen, utopisch sind – und alle Formen der Beziehung zueinander. Sei es auch nur ein zärtliches Gespräch auf Chat Roulette. Oder eine zärtliche Theater-Erfahrung.

Diese Einsicht ist vielleicht noch kein utopischer Wurf. Doch sie ist ein Anfang.

 

Şeyda Kurt ist Autorin und Moderatorin. Sie studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. In ihrer Kolumne ❤️topia begibt sie sich auf die Suche nach Utopien der Liebe auf der Bühne: Was erzählt uns das Theater über Zärtlichkeit? Und wo bleiben neue Visionen von Romantik, Freund*innenschaft und Solidarität?

 

Zuletzt zeigte sich Şeyda Kurts Herz angesichts eines kruden Hit-Stücks verkatert.

 

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Kommentare  
Kolumne Kurt: toll
Bitte mehr davon. Ich mag diese Kolumne. Die Art und Weise wie sie geschrieben ist, ist toll. Eine wirklich starke Autorin.
Kolumne Kurt: virtuell
Selbstverständlich sind auch Gefühle in der virtuellen Kommunikation real - wir sollten uns nur dagegen wehren, wenn daraus der Geschäftsgedanke entsteht und aggressiv als Wahrheit verbreitet wird, dass nur noch Gefühle real sind, die virtuell kommuniziert werden. Denn in der Folge würde nur noch virtuell kommuniziert werden - was wegen einer aufgezwungenen Alternativlosigkeit für den Einzelnen überaus aggressiv macht und einem gewalttätigen innergesellschaftlichen Umgang Boden bereitet - Schöne Kolumne.
Kolumne Kurt: Rausch der Sehnsucht
liebe Şeyda Kurt,
das ist sehr schön und zärtlich beschrieben.

Mir geht es so, wenn ich als Zuschauer von einer Tanz/Theater/Performance ganz unerwartet so bezaubert wurde, dass ich danach das ganze Ensemble und die Welt umarmen möchte,
obwohl das ganz unmöglich sein wird.

Da bauscht sich ein innerlicher Rausch auf, der vielleicht
mit Sehnsucht nach dem Unerreichbaren zu beschreiben ist,
und einen - wie mich - für lange Momente und sogar die nächsten Tage noch ganz beschwingt vom zauberhaften Un/Möglichen träumen läßt.

Meine Erfahrung zeigt mir, dass man/frau sich zumindest ein wenig in eine/n der DarstellerInnen verliebt haben muss.

Kommt leider sehr selten vor - aber es kommt vor.
Kolumne Kurt: Nachempfindung
Das kann ich sehr gut nachempfinden, was die Autorin hier schreibt, mir ging es ja mit der Thalia-Inszenierung von vor gut 13 Monaten
nicht unähnlich: Ria (be-) rührt (e). Wie wird es in Kiel wohl sein
(Premiere ist am 8. Mai 2020) ??
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