Erschöpfter Menschen Selbstentäußerung

von Falk Schreiber

Hamburg, 23. Februar 2020. Das Saallicht flackert. Mit großem Getöse hebt sich der Vorhang im Hamburger Schauspielhaus, es wird gehämmert, gesägt, geklopft, in einer Ecke sprüht eine Flex Funken, Nebel wallen. Viktor Bodo macht, was er besonders gut kann: Mummenschanz, Grand Guignol, Überwältigung. Voilà, Bodos zweite Hamburger Kafka-Inszenierung, nach der "Verwandlung"-Überschreibung Ich, das Ungeziefer vor fünf Jahren: "Das Schloss". Schon 2016 inszenierte Antú Romero Nunes den Stoff am benachbarten Thalia Theater als Besuch eines Reisenden in einem düsteren Dorf, wo ihm geballte Fremdenfeindlichkeit ins Gesicht gespuckt wird: Josef K. in Pegida-Land. Wenn dieselbe Vorlage in derselben Stadt in verhältnismäßig kurzer Zeit zweimal auf die Bühne kommt, dann will das gut begründet sein, dann braucht man einen ganz eigenen Zugriff.

Und Bodo verlegt den Fokus weg von der Dorfgemeinschaft, hin zum titelgebenden Schloss, das über dem Ort thront. Zwar wird der Protagonist ebenfalls nicht besonders freundlich aufgenommen, die Geschichte allerdings bewegt sich mehr oder weniger klar an Kafkas 1922 entstandenem Romanfragment entlang, in dem K. in einen nicht genau definierten Dienst als Landvermesser treten soll und sich schnell in der Bürokratie des Schlosses verstrickt.

Haus mit Zutrittsverbot

Kafka als Bürokratiealptraum zu lesen, das ist nicht der originellste Zugang, allein: Er funktioniert. Einerseits wegen des bis in kleine Nebenrollen perfekt besetzten Ensembles (Yorck Dippe als Lehrer! Jan-Peter Kampwirth als unzuverlässiger Bote!), andererseits wegen der Konsequenz, mit der Bodo seine Lesart durchexerziert: Die Bürokratie zieht sich als komplexe Struktur durch die Inszenierung. Selbst im Programmheft sind die Figuren mit liebevoll gestalteten Karteikarten abgebildet, nebst genauen Beschreibungen der jeweiligen Hierarchiepositionen. Wobei man sich auf diese Beschreibungen tunlichst nicht verlassen sollte.

DasSchloss 2 560 ThomasAurin uChoreographie gegen die Bürokratie? Carlo Ljubek als Landvermesser K. in Viktor Bodos "Das Schloss"-Inszenierung in Hamburg © Thomas Aurin

Carlo Ljubek spielt diesen verhinderten Landvermesser von Anfang an als Wrack, als einen, der erschöpft auf einer riesigen Baustelle (Bühnenbildnerin Zita Schnábel treibt der Story jedes Mittelgebirgsambiente aus, indem sie einen eindrucksvollen Unort schafft) einschläft, von der Tagesschicht unsanft auf das Zustrittsverbot hingewiesen wird und im Fortgang der Handlung immer weiter runterkommt.

Menschen ohne Tageslicht

Boden unter den Füßen gewinnt der nicht mehr, auch wenn er zunächst noch glaubt, die Handlung bestimmen zu können, indem er einzelne Figuren für sich nutzbar zu machen versucht: die Serviererin Frieda (Gala Othero Winter, mit der ihr eigenen Fähigkeit zur Selbstentäußerung), die ihm mittels Sex Zugang zum Schloss verschaffen könnte, die Gehilfen (Matti Krause und Jan Thümer), die womöglich gar nicht helfen, sondern ihm Steine in den Weg legen, der Vorsteher (Michael Weber), der sich durch Akten frisst und mit morphiumgetrübten Blick Hindernisse entdeckt, die jegliches Weiterkommen verhindern.

DasSchloss 1 560 ThomasAurin uCarlo Ljubek und Gala Othero Winter © Thomas Aurin

Ziemlich schnell wird klar: Das hat alles keine Zukunft. "Unsere angeblich so große Liebe, weißt du was – die entwickelt sich einfach nicht weiter", meint K. einmal desillusioniert zu Frieda, aber eigentlich hat er da schon verstanden, dass seine ganze Story sich nicht weiterentwickelt. Und deswegen schaltet die Inszenierung nach einer Weile auf Autopilot, macht knirschende Schlenker zum Schattentheater, zum Slapstick, zu einer virtuosen Musikminiatur an einem Schaltkasten, der zur Drummachine umfunktioniert wird. Was der Handlung zwar rein gar nichts bringt, aber Winter Gelegenheit gibt, zu handgemachten Beats reizend zu zucken. Toller Theaterzeitvertreib ist das, und viel mehr bietet Kafka bei Licht betrachtet auch nicht.

Endlich im Schloss

Tatsächlich endet das Romanfragment "Das Schloss" unvermittelt: Es wird angedeutet, dass K. nach einigen Tagen an seelischer Erschöpfung stirbt, gerade als endlich eine Nachricht vom Schloss eintrifft. Bodo spinnt die Geschichte noch ein paar Drehungen weiter: K. wird schon in fortgesetzt derangiertem Zustand zum Beamten Erlanger (Lina Beckmann als gottähnlicher Buchhalter) vorgelassen. Und Erlanger skizziert mehrere Schlüsse: Theater im Theater, Staatstheaterbürokratie vielleicht? Oder Pulp, eine Sexorgie mit anschließendem Lynchmord? Oder womöglich doch die Erlösung?

Die Inszenierung jedenfalls biegt in einen versöhnlichen Schluss ein: K. darf ins Schloss. Ljubek klettert bis an die Spitze der Gerüstkonstruktion, und dort rollt er sich zusammen wie ein kleines Kind. Endlich schlafen, endlich allein. Und Nebel wallt.

Das Schloss
von Franz Kafka
Regie: Viktor Bodo, Bühne: Zita Schnábel, Kostüme: Fruzsina Nagy, Musik: Klaus von Heydenaber, Licht: Susanne Ressin, Sounddesign: Gábor Keresztes, Dramaturgie: Sibylle Meier, Anna Veress.
Mit: Lina Beckmann, Yorck Dippe, Christoph Jöde, Jan-Peter Kampwirth, Matti Krause, Carlo Ljubek, Sasha Rau, Bettina Stucky, Jan Thümer, Michael Weber, Gala Othero Winter. Piano: Matthäus Winnitzki, Bass: Dirk Ritz, Cello: Niklas Hardt, Schlagzeug: Stefan Rager.
Premiere am 22. Februar 2020
Daher: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.de

 

Kritikenrundschau

Katja Weise schreibt auf ndr.de (online 23.2.2020, 9:32 Uhr), Viktor Bodo habe ein "fabelhaftes Gespür für das Groteske in dem angsteinflößenden Kafka-Universum". Immer, wenn "man fürchtet", es könnte "albern" werden, bekomme er die Kurve. Bodo verweigere sich "klaren Deutungen", verweise auf "Die Verwandlung" und den "Prozess". "Das Schloss" sei "großes Theater und tolles Kino". Da stimme einfach alles. Zudem agiere ein "wunderbares Ensemble" mit "Energie und Spaß an der Verwandlung", Carlo Ljubek zeige, wie "ein Mensch sich verlieren kann". "Unbedingt anschauen".

Bodó wisse die große Bühne des Schauspielhauses "eindeutig uneindeutig zu nutzen", schreibt Maike Schiller im Abendblatt (24.2.2020). "Tiefe, düstere Töne zittern unter den Szenen. (…) Die tatsächliche Bedrohung bleibt unkonkret, der Grusel wirkt umso stärker in der Vorstellung der Zusehenden." "Alle schleichen, klettern, marschieren und parlieren hingebungsvoll aneinander vorbei, es herrscht Hektik, oft Durcheinander, immer allerdings ist das Chaos ausgesprochen präzise orchestriert. Und das glänzend aufgelegte Ensemble beweist bis in die vermeintlichen Nebenrollen (...) und bis zur Erschöpfung seine Lust am Spiel, an der Körperlichkeit, der Verwandlung, am Slapstick."

Viktor Bodo schaffe immer neue Bilder, die mit ihrer skurrilen Phantastik und ihrem packenden Aberwitz die Atmosphäre der Vorlage ins Heute versetzten, schreibt Irene Bazinger in der FAZ (25.2.2020). "Die gewaltige Theatermaschinerie des Schauspielhauses Hamburg ist dabei bestens geölt und zaubert die schaurig-schönsten Geräusch- und Beleuchtungseffekte herbei, so dass der zweistündige Abend zu einer veritablen Geisterbahnfahrt wird." Bazinger schließt: "In seiner gekonnt aufwendigen Inszenierung macht Viktor Bodo „Das Schloss“ zu einer famos breitwandigen Studie über das Tollhaus einer Zivilisation, die vergessen hat, wozu sie da ist. Er bringt uns Franz Kafkas Werk näher, als es uns lieb sein kann."

"Viktor Bodós Inszenierung schaltet in all dem labyrinthischen Geplapper immer mal wieder blitzschnell in den Ulk-Modus. Das ergibt zwar immer Lacher, aber auch einen nicht nur produktiven Effekt. Der Rest des Textes nämlich mäandert im Grunde ziel- und sinnlos vorbei, als warte er nur auf die Witze des Regisseurs. Von so etwas wie einer interpretierenden Haltung ist gar nichts zu entdecken", so Michael Laages im Deutschlandfunk (24.2.2020). "Und merkwürdigerweise erscheinen auch die Darstellerinnen und Darsteller in diesem Wimmelbild bald wie bunt durcheinander wirbelnde Abziehbilder."

 

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