Ich pinkel' auf euren ehernen Kanon

von Reinhard Kriechbaum

Wien, 28. Februar 2020. "Allerhalter, Allumfasser" heißt es in Goethes "Faust" nicht unpathetisch, und es wäre nicht Elfriede Jelinek, hätte sie die Wort- und Gedankenkette nicht fortgesponnen bis "Vorenthalter". Über ihr 2012 uraufgeführtes Stück "FaustIn and out" schrieb sie, sie sehe sich als "kläffender Hund, der die ehernen Blöcke männlichen Schaffens umkreist und ab und zu sein Bein hebt".

Widerspruchsgeister wecken

Diesen "ehernen Block" hat die junge Wiener Regisseurin Bérénice Hebenstreit nicht auf die Kellerbühne des Volx/Margareten gestellt, sondern in Gestalt des Goethe’schen (Ur)Faust seitwärts auf einem der Balkone an ein Lesepult gesetzt. Von dort herab wird Doktor Heinrich Faust fortan dozieren, fragen und fordern und so die Jelinek'schen Geister, die ja gleich Mephisto stets verneinen, zur Widerrede herausfordern. Gleich vier Mal setzt Faust eingangs zu seinem Monolog "Habe nun, ach, Philosophie..." an. Günter Franzmeier gibt ihm jedes Mal völlig andere Gewichtungen, und die Gedankenkurve schrammt immer irgendwo anders hin. Was aber immer gleich bleibt in dieser bizarr perpetuierten Eingangssequenz: Die erwachenden Geister schwanken und schlurfen als erstes zu einem Blecheimer und putzen sich die Zähne. Vor dem Erwachen des Selbstbewusstseins steht wohl das eingeübte Ritual, das erst überwunden sein will.

UrfaustFaustIn 1 560 c Christine Miess Volkstheater uDrei Widerspruchsgeister: Nadine Quittner, Steffi Krautz, Sebastian Pass © Christine Miess / Volkstheater

Elfriede Jelineks variabel zu besetzende Textfläche hat Bérénice Hebenstreit auf drei weitere Personen verteilt. GeistIn (Steffi Krautz), Zweiter Geist (Sebastian Pass) und FaustIn (Nadine Quittner) – letztere ist der Kleidung nach (Hemd mit Puffärmeln) auch der Gruppe der Widerspruchsgeister zuzuordnen, wenn sie auch argumentativ erst spät in die Gänge, dafür zu einem umso stärkeren Finale kommt.

Kellertragödien und männerbestimmte Machtverhältnisse

"FaustIn and out" hat Elfriede Jelinek unter dem Eindruck der beiden österreichischen "Keller-Kriminalfälle" geschrieben. Natascha Kampusch wurde jahrelang gefangen gehalten, Elisabeth Fritzl von ihrem Vater missbraucht und mehrmals geschwängert. Mit der Distanz von acht Jahren sind diese Tagesaktualitäten weniger wichtig als die grundsätzlichen Fragen nach männerbestimmten Machtverhältnissen. Da erst beweist Jelineks Text seine weit über den Anlassfall reichenden Qualitäten. "Warum all die Mädels in den Kellern?", heißt es einmal. "Sie könnten ja auch in einem Turm gehalten werden, aber einen Turm hat nicht jeder." Das "Loch" ist allemal der sicherere Ort für die fremdbestimmte Versenkung des weiblichen Ego.

UrfaustFaustIn 2 560 c Christine Miess Volkstheater uSpuk und Gewalt in Kellerlöchern: Nadine Quittner, Sebastian Pass, Steffi Krautz © Christine Miess / Volkstheater

Den Kellertragödien zum Trotz hat Elfriede Jelinek nicht wenig absurde Komik eingebracht, und darauf setzt die Regisseurin mit Nachdruck. Steffi Krautz als resolut-wortgewandte GeistIn hat oft die Lacher auf ihrer Seite, egal, ob sie sisyphusgleich mit viel zu wenigen Wäschekluppen viel zu viele Socken an die Leine zu hängen versucht oder darüber sinniert, dass es für eine Frau besser sei, zum Arzt zu gehen als zum Philosophen. Zum Arzt, auch wenn dieser, so wie Faust, angesichts der Frau so klug da stehe als wie zuvor... "Das Mädel braucht kein Geist zu sein und keinen zu haben", lässt die Jelinek ätzen.

In bester Form, wenn auch in weiblicher

In kurze, einprägsame, lehrstückhafte Szenen gliedert Bérénice Hebenstreit den Text, eng interpolierend aus dem von oben herabgeschleuderten Zitatwerk aus dem "Urfaust", das sich umso grenzwertiger ausnimmt, je mehr die "Geister" an Selbstbewusstsein und Aufsässigkeit zulegen. Die GegenspielerInnen des Vorlese-Faust wachsen rasch über Sofa, Kaffeeküche und Bügelbrett hinaus, womit die Ausstatterin Karoline Bierner ihr erzwungenes Lebensumfeld definiert hat. Bald sagt die GeistIn: "Wir sind in bester Form, wenn auch in weiblicher!"

UrfaustFaustIn 3 560 c Christine Miess Volkstheater uFaustIn lässt sich nicht faltenfrei plattbügeln: Sebastian Pass, Steffi Krautz, Nadine Quittner © Christine Miess / Volkstheater

Und wenn auch nicht nur Socken in Form gebracht worden sind, sondern in einer Szene sogar Gretchen/FaustIn als ganzer Mensch auf dem Bügelbrett geplättet wurde: Vor Heinrich und seinem Rettungsangebot graut ihr trotzdem gerade noch rechtzeitig, was Bérénice Hebenstreit in ein kraftvolles Musik-Finale ummünzt. Wenn die FaustIn dem "lieben Menschheitsdrama" selbstbewusst eine Abfuhr erteilt, kommt Nadine Quittner zur Musik von Oliver Cortez und Kathrin Kolleritsch rappend so recht in Fahrt. Man nimmt ihr jederzeit ab, dass sie nicht mehr hineinpasst ins Korsett der "immer gleichen Bilder" und in die Fragen des von Elfriede Jelinek mit so viel Argwohn (und herzlich wenig Respekt vor dem Dichterfürsten) beäugten "Menschheitsdramas". Die Autorin war ja nach eigener Aussage "mit der Schaufel und dem Besen" hinter Goethe her und beseitigt den "Menschenmüll, den der Klassiker hinterlassen hat". Dieser wehrhafte "Menschenmüll" lässt sich in Bérénice Hebenstreits eng verzahnter Stück-Kombination nicht lumpen und pariert nicht mundfaul und mit Mutterwitz die Faust-Einwürfe aus dem Oberstock. Der "Urfaust" ist letztlich auf eine Zitatsammlung eingekocht, der die Jelinek'schen Querdenkereien aus Frauenperspektive mehr als gut tun.

 

Urfaust/FaustIn and out

von Johann Wolfgang Goethe/Elfriede Jelinek

Regie: Bérénice Hebenstreit; Bühne und Kostüme: Karoline Bierner, Raumkonzept: Ivan Bazak; Musik: Oliver Cortez, Kathrin Kolleritsch; Licht: Markus Hirscher; Dramaturgie: Michael Isenberg.

Mit: Günter Franzmeier, Steffi Krautz, Sebastian Pass, Nadine Quittner.

Premiere am 28. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Jelineks Grundthema seit 'Die Liebhaberinnen' (1972) kehrt wieder und wieder, der Mann ist Subjekt und Täter, die Frau ist Objekt und Opfer", schreibt Thomas Kramar leicht genervt in der Presse (1.3.2020). Der Dramenverschnitt sei am besten, wenn er zwischen Tragikomik und Absurdität irrlichtere. "Wenn er lehrstückhaft wird, wird er länglich, um nicht unzulänglich zu sagen." Das Nachspiel, ein "treuherziger Rap", biete nur platte Botschaften in knatternden Versen.

"In Nonsenshandlungen ausufernde Verrichtungen, die sich um Socken (des Hausherrn?) drehen, konterkarieren die Härte des Textes. Fast mehr als mit seiner guten Absicht punktet der Abend mit der Absurdität in Wort und Bild", schreibt Michael Wurmitzer vom Standard (5.3.2020).

 

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