Es gab keine Agenda

Maria Nübling im Interview mit Christian Rakow

Berlin, 5. März 2020.Der traditionsreiche Stückemarkt des Berliner Theatertreffens, einst eine Bastion der deutschsprachigen Dramatiker-Förderung, präsentiert seit 2014 neben Stücktexten auch Performances. Mit Amtsantritt der neuen Stückemarktleiterin Maria Nübling 2019 öffnete sich der Wettbewerb für weltweite Einsendungen. In beiden Stückemarkt-Auswahlen seither fehlen deutschsprachige Beiträge nahezu komplett. Ein Misstrauensvotum für die hiesige Literaturlandschaft? Christian Rakow hat bei Maria Nübling telefonisch nachgefragt.

Frau Nübling, laut Pressemitteilung erreichten den Theatertreffen-Stückemarkt in diesem Jahrgang 361 Einsendungen aus 63 Ländern. Wie verteilen sich die Einsendung auf die verschiedenen Sprachräume?

Man kann bei uns Arbeiten auf Deutsch und auf Englisch einsenden, das heißt Beiträge aus anderen Sprachräumen werden in Übersetzungen eingereicht. Einsendungen aus dem deutschsprachigen Raum machten in diesem Jahr in etwa ein Drittel der Bewerbungen aus. Arbeiten aus originär anglophonen Sprachräumen stellen die zweitgrößte Einsendegruppe dar.

Wie viele Mitarbeiter*innen arbeiten an der Erstellung der Shortlist?

Wir arbeiten mit etwa 20 bis 30 unabhängigen Lektor*innen zusammen, die anhand bestimmter Kriterien (darunter klassische Fragen, zum Beispiel nach dem Zusammenspiel von Form und Inhalt, dem originären Einsatz performativer Mittel, aber auch beispielsweise dem Bezug zum Stückemarkt-Thema) Leseempfehlungen erstellen, sodass wir schlussendlich dann für die Jury-Diskussion eine Shortlist haben, die im Hinblick auf das Stückemarkt-Thema und im Hinblick auf die Förderkriterien des Stückemarkts das Gros der Einsendungen repräsentiert. Das heißt hier sollen nicht Geschmäcker abgebildet werden, sondern Verhältnismäßigkeiten: Wenn wir 1/3 deutschsprachige Einsendungen haben, sind auch entsprechend 1/3 dieser Arbeiten auf der Shortlist, oder wenn sich viele Arbeiten mit History und Identity befassen, dann ist das natürlich auch auf der Shortlist repräsentiert.

Die eingeladenen Künstler*innen

Laurence Dauphinais

Dauphinais Laurence 280 Anne Marie Baribeau uLaurence Dauphinais (Kanada) © Anne Marie Baribeau

Laurence Dauphinais ist Schauspielerin, Autorin,  Regisseurin und Musikerin in Montréal/Kanada. In ihrem Projekt "Aalaapi"  erzählt sie gemeinsam mit zwei Performerinnen anhand von dokumentarischem Material die Geschichte von indigenen Künstler*innen, die zwischen verschiedenen Lebensrealitäten pendeln: von der kanadischen Großstadt bis hinter den Polarkreis.


Nach welchen Gesichtspunkten ist die Auswahljury zusammengestellt?

Wir versuchen möglichst international und divers auch im Hinblick auf die Arbeitsfelder aufgestellt zu sein. Sprich: Es sollen zum Beispiel nicht fünf Autor*innen berufen werden, sondern eben auch Schauspieler*innen, Performancekünstler*innen oder Choreograph*innen.

Ist es ein Zufall, dass in diesem Jahr alle Jurymitglieder Frauen sind, oder verdankt sich das der Gendergerechtigkeits-Agenda des Theatertreffens?

Nein, das sind einfach spannende Künstlerinnen. Es gab keine Agenda.

Haben originär anglophone Stücke im internationalen Stückemarkt einen Wettbewerbsvorteil, weil Englisch nun mal die lingua franca ist?

Würde ich so nicht sagen. Alle Jurymitglieder sind erfahrende Theatermacher*innen und können in der Diskussion mitberücksichtigen, dass bestimmte Aspekte auch "lost in translation" gehen.

Welche Gesichtspunkte überwiegen in der Jury-Diskussion: dramaturgische, also Fragen der Figur und des Handlungsgerüsts, oder poetische, das heißt Aspekte der formalen Gestaltung?

Wir haben in jeder Hinsicht viel diskutiert, aber ich werde natürlich keine Interna der Jurysitzung ausplaudern. Jeder bringt Herzensprojekte/-texte mit, aus denen in einem demokratischen Verfahren die fünf Einladungen ausgewählt werden.

Wenn man einrechnet, dass es den "lost in translation"-Faktor gibt, sind dann nicht Arbeiten im Vorteil, die stärker auf Handlungsgerüst und Plot setzen gegenüber denen, die über sprachliche Eigenheiten punkten?

Nein. Das sind einfach unterschiedliche Faktoren, die diskutiert werden.

Im Zusammenhang der letztjährigen Auswahl haben Sie etwas augenzwinkernd gesagt: Viele der Einreichungen würden den Bechdel-Test (also den Test, wie emanzipiert Frauenfiguren im Kunstwerken dargestellt werden) nicht bestehen. Sind das Gesichtspunkte, die Sie als Jurymitglied in die Diskussion einbringen?

Den Bechdel-Test? Nein! Das ist kein Ausschluss- oder Einschlusskriterium. Aber natürlich diskutiert man Fragen nach Repräsentation von unterschiedlichen Geschlechterbildern.

Nanjing 560 Caleb Wissun Bhide u"Nanjing" von Jude Christian © Caleb Wissun Bhide

In der diesjährigen Auswahl fällt der starke Akzent auf Identitätsthemen und Geschichten marginalisierter Bevölkerungsgruppen auf. Sind Großbritannien und Nordamerika für diese Themen Avantgarde?

Avantgarde? Das würde ich so nicht sagen. Aber gerade in den USA sind Repräsentationsfragen marginalisierter Gruppen schon anders im Theaterbetrieb angekommen, wenn Sie sich Diskussionen wie die um "Slave Play" von Jeremy O. Harris angucken, oder um "An Octoroon" von Branden Jacob-Jenkins, der letztes Jahr in der Jury war. Dieser Schwerpunkt auf Repräsentationsfragen ist tatsächlich ein Trend, den wir beim Stückemarkt insgesamt beobachtet haben.

Hat die deutschsprachige Dramatik Nachholbedarf in diesen Fragen der Repräsentationspolitiken?

Nachholbedarf? Ich glaube, dass das ein Thema ist, das wir langfristig stärker in den Spielplänen verankern müssen und mit dem wir uns vor und hinter der Bühne auseinanderzusetzen haben.

Wie bewerten Sie den Wegfall deutschsprachiger Dramatik in der Stückemarkt-Auswahl dieses Jahres und – mit Ausnahme einer Position – auch schon in der letztjährigen Auswahl?

Ich glaube, dass das ein Abbild eines Jahrgangs oder meinetwegen auch von zwei Jahrgängen ist. Aus der Auswahl von fünf Positionen kann man ganz sicher keine Aussage über den Zustand deutschsprachiger Dramatik ableiten.

Und was entgegnen Sie auf eine Kritik, wie sie der Autor und Regisseur Falk Richter jetzt auf Facebook zur Auswahl artikuliert: "2 mal USA, 2 mal England, 1 mal Canada. Ok, Theatertreffen!"

Ich finde unabhängig von der Nationalität der eingeladenen Künstler*innen sind das alles spannende Arbeiten mit wichtigen Impulsen, die wichtige Diskursräume eröffnen.

Inwieweit bilden sich in der Ausrichtung des Stückemarktes auch kulturpolitische Interessen der fördernden Institutionen ab? Geld kommt von der Kulturstiftung des Bundes als Finanzier des gesamten Theatertreffens. Der Werkauftrag wird von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert.

Die Förderung ist von inhaltlichen Setzungen des Stückemarkts unabhängig.

In der Themensetzung – dieses Jahr lautet das Motto "Wider die Vereinzelung" und setzt den Akzent auf Solidarität – werden ja gezielt politische Fragen an die Dramatik gerichtet.

Das sind Fragen, die wir als virulent empfinden und die wir gern künstlerisch behandelt sehen. Und ganz unabhängig von den unterschiedlichsten fördernden Institutionen sehen wir die weltweite Öffnung des Stückemarkts seit 2019 als eine wichtige Ergänzung zur deutschsprachigen 10er Auswahl, die das Festival um Perspektiven, Geschichten und Fragestellungen, die über den europäischen Raum hinausblicken, erweitert.

 

Nuebling Maria TT Stueckemarkt Christoph Blaas uMaria Nübling, geboren 1989 in Hildesheim, ist seit 2017 Dramaturgin des Theatertreffens und seit der Spielzeit 2018/2019 Leiterin des Stückemarkts. Sie studierte Theaterwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Gemeinsam mit Christina Gassen initiierte und organisierte sie 2015 das Symposium "Theater.Frauen" an der Freien Universität Berlin, das sich mit Geschlechterungleichheit am Theater auseinandersetzte, und ko-leitet die gleichnamige Initiative. Von 2015 bis 2017 war sie in der Dramaturgie des Schauspiels Stuttgart beschäfigt. (Foto: Christoph Blaas)