Wenn Mama ein Mythos ist

von Harald Raab

Leipzig, 6. März 2020. Die junge Frau auf der Bühne stopft sich aus einer großen Tüte zwanghaft Popcorn in den Mund. Sie ist verstört, in sich zusammengekauert, einsam in Gemeinschaft. Medienbildern ihrer selbst und ihrer Lebensgeschichte umstellen sie, Videoerinnerungen und -botschaften flimmern auf, eingehüllt in Musik ihrer Emotionen. In all dem spiegelt sich ihr Gemütszustand. Der ist ja heute Hauptbestandteil einer modernen komplexen Persönlichkeit. Hilflosigkeit, Naivität, Einsamkeit, wabernde Ängste, aber auch ein Stück Selbstverliebtheit und viel Selbsthass wie bei Narziss, dem Säulenheiligen unserer Zeit. Wer bin ich? Das ist ihre und auch unsere große Frage an die Existenz.

Megastory von der Meuchlerin

So das Setting der Produktion "Eriopis", Uraufführung des Stücks der finnischen Autorin und Dramaturgin E.L. Karhu im Schauspiel Leipzig. Der Untertitel, "Medeas überlebende Tochter erzählt alles", evoziert in uns Bildungsbürgern und Bildungsbürgerinnen sofort das, was wir über diesen hochdramatischen Mythos zu wissen glauben.

Eriopis3 560 Rolf Arnold uIm Treibhaus: Julia Berke © Rolf Arnold

Medea ist die klassische Wiedergängerin des Welttheaters: die emanzipierte Frau, verliebt bis zum Verbrechen für ihren Lover, Zauberin, Mörderin, Racheengel. Schuld daran ist natürlich ein Mann – der griechische Dichter Euripides. Er hat den Mythos so zurechtgebogen, dass das sensationslüsterne Publikum so richtig schön schockiert ist – eine Mutter, die ihre Kinder meuchelt, um ihrem Ex die Untreue zu heimzuzahlen. Das ist der Stoff, aus dem man eine Megastory auf den Markt bringen kann – damals und auch heute noch.

Medienrummel allenthalben

Viele haben ihre eigene Haltung, Empörungsmoden und Ängste Medea aufgeladen, von Heiner Müller bis Christa Wolf. Warum also nicht einmal mit Kinderaugen auf die tödlichen Spiele der Erwachsenen blicken? Was richten Eltern an in den Seelen der lieben Kleinen? Und warum nicht die Geschichte ins Hier und Heute holen, mit scheidungstraumatisierten Kindern und einer Mutter auf der Flucht, weil sie Eriopis' Brüderchen erwürgt haben soll? Medienrummel inklusive. Reporterhatz auf die verstörte Tochter, und ein Vater, der aus alldem Mitleidskapital schlägt.

Diese Medea-Geschichte spielt in Lappland und in Helsinki. Mutter Medea betreibt ein Hundeschlitten-Unternehmen für Touristen. Sie erwürgt ihre Zwillinge und fährt mit den kleinen Leichen davon. Eriopis kommt zum Papa in die Stadt und erlebt dort den Horror der Normalität. Sie fühlt sich schuldig, mitverantwortlich am Familiendrama.

Eriopis5 560 Rolf Arnold uYuku Yanagihara, Julia Berke und Michael Wilhelmi in der Bühne und den Kostümen von Katrin Connan © Rolf Arnold

Ja, man kann Euripides verändern, allerdings nur wenn man ihm auf Augenhöhe beikommen kann. Und genau das gelingt der Autorin E.L Karhu und der Regisseurin Anna-Sophie Mahler in dieser singulären Medea-Version. Einmal nicht das Drama der Verirrungen durch überschießende Leidenschaft, sondern derjenigen Aufmerksamkeit schenken, die darunter zu leiden hat – ein Leben lang. Die Geschichte einer malträtierten, verletzten Seele. Eine schmerzhafte Psychoanalyse, in der all das Unfassbare, Unerträgliche für ein Kind noch einmal durchlebt werden muss.

Die nicht leicht zu realisierende Aufgabe war: Handlung hauptsächlich durch Sprache zu imaginieren. Doch Autorin und Regisseurin verfügen auch über diesen Zauber – mit intensiven Sprachbildern und einem kongenialen Einsatz von Videoprojektionen sowie Lichtatmosphären in Rosa und Lindgrün. Auf drei Flächen der kubisch konzipierten Bühne sind diese Bild gewordenen Zumutungen synchron zu sehen. Julia Berke begleitet als eine Art Erzählerin, Analytikerin und Überich Yuka Yanagihara, die als Eriopis noch einmal ihre Albträume durchmachen muss.

Groß gedacht, groß agiert

Für kurze Passagen tauschen die beiden auch ihre Rollen. Am Flügel im weißen Anzug Michael Wilhelmi. Er verkörpert die Figur des Jason und liefert gleichzeitig die musikalische Dimension des vielschichtigen Gesamtkunstwerks – mit dramatischen Eigenkompositionen, Ton- und Geräuschsphären, aber auch mit Richard Wagners "Im Treibhaus" aus den Wesendonck-Liedern und dem Schlussgesang aus der "Salome" von Richard Strauss. Surreale, dramatische, poetische, aber auch ironische Momente wechseln sich ab. Eriopis schneidet sich die Zunge ab, spaziert durch den Wald der erfrorenen Touristen. Sie übt Schönschrift mit den Sätzen: "Ich liebe die Mörderin. Aber die Mörderin liebt mich nicht." Ihr Fazit: "I am alone in remembering and alone in forgetting. I am alone. I do not know anyone. I am alone."

Wenn das Theater ein Übungsort für soziale Fantasie sein soll, dann muss hier so groß und kreativ gedacht und agiert werden, wie es in dieser einmaligen Produktion realisiert ist.

Eriopis – Medeas überlebende Tochter erzählt alles
von E.L. Karhu
Uraufführung
Regie: Anna-Sophie Mahler, Bühne und Kostüme: Katrin Connan, Musik: Michael Wilhelmi, Dramaturgie: Georg Mellert, Licht: Thomas Kalz.
Mit: Julia Berke, Yuka Yanagihara, Michael Wilhelmi.
Premiere am 6. März 2020
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

"Ein wilder Assoziationsreigen aus Text, Musik und Gesang um Gewalt und Zuschreibungen von Weiblichkeit, öffentliches Zur-Schau-Stellen in der Mediengesellschaft, Pubertät und Sexualität. Ließe man sich darauf ein, überwältigte es", schreibt Tobias Prüwer im kreuzer (9.3.2020). "Die Überlagerungen der Bedeutungsschichten lassen sich nicht klar trennen. Es geht um Einfühlung, was Mahler in eine lose, aber emotional angehende Bildersammlung übersetzt."

Anna-Sophie Mahler knacke den "ziemlich kryptischen, kaum zugänglichen Text" musikalisch, berichtet Michael Laages im Deutschlandfunk Kultur Fazit (7.3.2020) und vermutet: "In Leipzig ist 'Eriopis' wohl vor allem eine Gegenstimme zur 'Medea'-Inszenierung, die Ende März folgt."

Das Stück versuche eine Spiegelung des Mythos als Emanzipation vom Mythos und dessen Aufbereitung etwa durch Euripides. "'Überschreibung' nennt man das heute gern, meist ein Euphemismus für 'Verflachung'. Im konkreten Fall die einer großen Tragödie zur weiblichen Coming-of-Age-Geschichte unter erschwerten Umständen und feministischen Vorzeichen", schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (9.3.2020). "Verstörend ist das nicht."

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