Corpus Delicti - Sandra Strunz' Versuch, ein Lehrstück Juli Zehs mit Albernheit zu retten
Im Auge des Großen Bruders
von Jürgen Reuß
Freiburg, 25. September 2008. Was macht ein Theater, wenn es in die aktuellen politischen Diskussionen eingreifen will? Es kann z.B. ein Stück inszenieren, das sich explizit als Reaktion auf die aktuelle politische Situation begreift. So wie am Theater Freiburg, an dem Hausregisseurin Sandra Strunz am Donnerstag Juli Zehs Stück "Corpus Delicti" auf die Bühne brachte.
"Corpus Delicti" ist ein Stück, das etwas will. Es entstand 2007 als Auftragsarbeit für die Ruhrtriennale und will zeigen, wie unser Land in 50 Jahren aussieht, wenn die Politik so weitermacht wie bisher und wenn die Bürgerinnen und Bürger sie so weitermachen lassen. Oder konkreter: wenn die Menschen nichts gegen biometrische Pässe, Verfügbarmachung ihrer persönlichen Daten und den ständig von den Medien geschürten Alarmismus unternehmen.
Gesundheit ist die erste Bürgerpflicht
Diese Welt wird dann 2057 ganz fürchterlich sein, ein Potpourri, eine Art Worst of aller Utopien der Neuzeit. Religiöse oder ideologische Konzepte haben ihre Deutungsmacht verloren. Es herrscht ein "verabsolutierter Pragmatismus", wie Zeh es im Programmheft nennt. Wie in Samuel Butlers "Erewhon" wird Gesundheit zur ersten Bürgerpflicht, Krankheit zum Verbrechen. Die Kontrolle des Gesundheitsgebots garantieren technologisch aufgerüstete Orwell'sche große Brüder und kleinbürgerliche Blockwartspießer. Vorangetrieben von dem, was in barocken Utopien die Fama war und heute als medial personifizierter und implementierter gesunder Menschenverstand firmiert – eine Art omnipräsenter, totalitärer Johannes B. Kerner.
In diese Mühle gerät dann ein Individuum und wird vernichtet. Oder, wie Juli Zeh es ausdrückt, in einer negativen Utopie wird "unverklausuliert der Konflikt einer Einzelperson mit dem System untersucht". Das klingt trocken juristisch, und tatsächlich wird der Konflikt auch als Fall vor Gericht untersucht. Die Bühne ist ein Blick in die Wohnung von Mia Holl (Rebecca Klingenberg), deren Bruder Moritz wegen Verschwörung gegen die Methode, was soviel heißt wie: als Terrorist verurteilt wurde und sich im Gefängnis mit einer Angelschnur erhängt hat. Mia Holl ist als Naturwissenschaftlerin durchaus Anhängerin der Methode, vernachlässigt in ihrer Erschütterung über den Tod des Bruders aber ihr Fitnessprogramm und die Übermittlung ihrer Biodaten.
Staatliche Pflichtgymnastik
Dass dem Staat so etwas nicht entgeht, verdeutlicht das Bühnenbild (Viva Schudt). Die Rückwand von Mias Wohnung dominiert ein riesiges, ovales Bullauge, das weniger Fenster als Auge bzw. Verkündungsorgan des Großen Bruders ist. Mia selbst taucht zuerst als Gerichtsakte auf. Richterin Sofie (Uta Krause), Anwalt Rosentreter (André Benndorff) und Staatsanwältin Bell (Isabella Bartdorff) verhandeln ihren Fall auf durchsichtigen Sitzbällen und absolvieren zwischendrin immer wieder die staatliche Pflichtgymnastik. Das ist albern, aber Albernheit ist nicht die schlechteste Inszenierungsidee von Sandra Strunz, um sich aus dem reißbrettartigen und altbackenen Textkorsett Zehs zu lösen.
Aber Albernheit hat auch ihre Tücken. Wenn Mias Fall von den Blockwartinnen ihres Hauses verhandelt wird, spielt Uta Krause zwar virtuos drei Plappermäuler in einem, bleibt aber letztlich wirkungslose Girlande. Auch wie aalglatt Ben Daniel Jöhnk den Medienmenschen Heinrich Kramer spielt, der letztlich Gerichtsverhandlung und den "gesunden Menschenverstand" nach Belieben vor sich hertreibt, ist sehenswert, aber er muss eben auch der mittelalterliche Inquisitor sein und muss vor Gericht die wirkungsvolle Kerner-Maske fallen lassen, weil der Anwalt einen Fehler des totalitären Systems nachweisen kann.
Ein negatives Glaubensbekenntnis
Den Anwalt wiederum belebt André Benndorff mit spielerischer Finesse, aber an der platten Voraussehbarkeit seines Endes als Jämmerling, der seine Mandantin Mia im Stich lässt, ändert das leider auch nichts. Auch nicht, dass Rebecca Klingenberg Mias negatives Glaubensbekenntnis "Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Optimalkörper darstellen soll" überzeugend aufsagt. Doch die ganze Rolle der Naturwissenschaftlerin, die durch persönliche Erschütterung ihr Herz und die Berge hinter dem großen Bullauge entdeckt, ist einfach zu plakativ und platt.
Als Fazit des Abends bleibt, dass das Ensemble zwar versucht hat, das beste aus Juli Zehs Stück rauszuholen, das Stück aber eigentlich nur für Schüler interessant ist, die anhand der Einführung des biometrischen Passes mal totalitäre Utopien diskutieren wollen. Intelligente politische Auseinandersetzung kann und konnte das Theater Freiburg besser, zum Beispiel mit Theaterexperimenten wie "Walden" nach Thoreau.
Corpus Delicti
von Juli Zeh
Regie: Sandra Strunz, Bühne: Viva Schudt, Kostüme: Daniela Selig, Musik: Tom Schneider. Mit: Isabella Bartdorff, Andre Benndorff, Ben Daniel Jöhnk, Rebecca Klingenberg, Uta Krause, Maik Solbach.
www.theaterfreiburg.de
Mehr über Juli Zeh erfahren Sie in der Kritik zur Uraufführung von Corpus Delicti in Essen im September 2007.
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