Wider die Aktualisierungspetersilie

von Janis El-Bira

22. März 2020. Der schlichteste und kürzeste Witz auf Kosten des von Opernfans gern geschmähten "Regietheaters" geht so: "Hat dieser Siegfried nicht ein wunderbares Organ?", fragt da die eine den anderen. – "Ja", antwortet dieser, "und singen kann er auch!" So viel ist klar: Die Schockwerte von einst, die dem Bildungsbürgertum im Opernparkett den Schleier des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs vom Gesicht reißen wollten – sie sind selbstverständlicher Mainstream geworden.

Eher erwartet als bloß geduldet, gehören Tote, Nackte und Nazis auch auf der Opernbühne zum Standardprogramm einer wohlfeilen Gesellschaftskritik, die deren Zielpublikum längst absorbiert hat. Ihr eigentliches Anliegen hat sich dabei freilich ins Gegenteil verkehrt. Was einmal verstörend sein wollte, erfüllt heute eine Stabilisierungsfunktion als Distinktions-Marker für eine sich selbst als sensibel, kritikempfänglich und reflektiert wahrnehmende Zuschauerschaft. In der ideologischen Antike des Regietheaters lässt es sich so für Opernhäuser und -publikum unverändert bestens aushalten.

Wotan mit der Aktentasche

Das gelingt auch deshalb, so die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Hartung in ihrer nun erschienenen Studie "Postdramatisches Musiktheater", weil das Regietheater seinen dienenden Charakter nie verloren habe. Denn bei allem Toben und Trotzen, kleinen und größeren Sauereien, kennzeichne dessen Selbstverständnis ein letztlich untertäniger Akt. "Das Vorgehen von Regietheater-Regie", schreibt Hartung, "ist ein grundlegend hermeneutisches: Es befragt das Drama des vorliegenden musikdramatischen Texts und seine Figuren hinsichtlich ihrer psychologischen Motivationen und Handlungsabsichten". Die Regie fragt, das Werk antwortet. Das ist das klassische Dominanzverhältnis, dessen ästhetisches Resultat Hartung mit dem schönen Wort von der "Aktualisierungspetersilie" geißelt: Wagners Wotan bekommt anstelle seines Speers eine Aktentasche in die Hand gedrückt, fertig ist der Gegenwartsbezug.

Cover 280 HartungDem gegenüber stellt Hartung nun eine eher abseits der großen Opernhäuser anzutreffende musiktheatrale Ästhetik, deren Parameter sich eng an Hans-Thies Lehmanns Begriff vom "postdramatischen Theater" anlehnen. Dessen Kraftzentrum besteht für Lehmann bekanntlich "nicht mehr in der Forderung nach Veränderung der Welt", sondern in der Herstellung von "Ereignissen, Ausnahmen, Augenblicken der Abweichung". Fragmentierung statt Werkeinheit, Transparenz statt Illusionismus, Prozessualität statt zielgerichteter Hermeneutik: Mit Susan Sontag geht es bei Hartung "against interpretation", mit Roland Barthes um den "Tod des Autors", mit Lev Manovich und Johanna Dombois um die Übernahme digitaler Strukturen in der postdramatischen Musiktheater-Ästhetik. Im Ergebnis entsteht ein "Theater des Blicks", durch dessen hypermediale Bildwelten die Zuschauerin "navigiert" wie entlang der parallel arrangierten Fenster des Betriebssystems auf ihrem Desktop: Erst in der individuellen Sichtweise der Betrachterin erzählt sich das Kunstwerk zu Ende.

Erhellender, ja faszinierend sind verglichen mit diesem ersten Teil, der notwendigerweise viele theaterwissenschaftliche Standards der vergangenen Jahrzehnte abruft, die zahlreichen Fallbeispiele, anhand derer Hartung in der zweiten Hälfte des Buchs das Theoretische ausmalt. In überaus detaillierten Beobachtungen werden da die Doppelbelichtungseffekte der Videoprojektionen aus Christoph Schlingensiefs ikonischem Bayreuth-"Parsifal" neben Katie Mitchells Echtzeitfilme gelegt, die in ihrer Inszenierung von Luigi Nonos "Al gran sole" wiederum ein "Musikerforschungstheater" intensivierter Wirklichkeitserfahrung ergäben.

Der Betrieb bleibt meist postdramatikfrei

Radikaler noch im Sinne einer Enthierarchisierung von Material und Mitteln erscheinen da die unter dem Kapitel "Oper in Ver-Arbeitung" verglichenen Ansätze etwa Christoph Marthalers, David Martons oder Alexander Charims, die auch vor der vermeintlichen Unantastbarkeit der Partitur nicht Halt machen und mithin auf eine "Zerschlagung" der Oper selbst zielen. Das Drama in Text und Musik wird hier am deutlichsten zur reinen Folie, vor der sich ein ereignishaftes Theater mit neuer Signatur entwickelt. Dass diese Zugriffe dann oft – wie etwa beim Künstler-Komponisten Georg Nussbaumer – eher im Graubereich zwischen darstellender und bildender Kunst gleichsam als Exportware des Musiktheaters ihre institutionelle Heimat finden, ist da nur folgerichtig.

Davon noch immer großenteils unbeleckt zeigt sich indes der Betrieb. Schlingensiefs weitschweifender "Parsifal" ist in Bayreuth ein Solitär geblieben und auch Frank Castorfs zart postdramatische Verdi-Versenkung dürfte jüngst als Abschreibung ins ästhetische Bilanzbuch der Deutschen Oper in Berlin eingegangen sein. Doch mit Institutionskritik gibt sich Hartung maßvoll, schließlich ist das hier Wissenschaft und nicht Feuilleton. So lange aber von ihrer in vielem bereichernden Basisarbeit kein zündelnder Funke in die Realität der großen Häuser schlägt, wird von Siegfrieds "Organ" wohl weiterhin nur müde Notiz genommen werden.

 

Postdramatisches Musiktheater
von Ulrike Hartung
Verlag Königshausen & Neumann
272 Seiten, 39,80 Euro

 

Mehr zur Autorin:

Ulrike Hartung promovierte mit der Studie "Postdramatisches Musiktheater" an der Universität Bayreuth. Sie ist Mitarbeiterin am am Forschungsinstitut für Musiktheater Thurnau (fimt) an der Universität Bayreuth.

Mehr zum Thema:

Der Konferenzbericht von Simone Kaempf 2019:  Postdramatisches Theater weltweit – Ein Berliner Symposium resümiert die Wahrnehmung von Hans-Thies Lehmanns Buch in Europa und weltweit

Der Essay von Regine Müller 2018:  Die Oper entdeckt die Dekonstruktion – Beispiele aus Salzburg, Wuppertal und Wien

Besprechungen der Opernarbeiten von Frank Castorf, unter anderem seiner Bayreuther "Ring"-Inszenierung, finden Sie in seinem Lexikoneintrag.

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