I love you, but I’ve chosen Ausgangssperre

von Michael Wolf

7. April 2020. Auf Twitter entdeckte ich den Fußballkommentator Robby Hunke, der – in Ermangelung seines Sports – nun Ereignisse des Alltags kommentiert. Wir sollten uns an ihm ein Beispiel nehmen. Wahrscheinlich ist die Saison gelaufen, aber es kommt ganz sicher eine neue. Künstler, Kritiker und Zuschauer sind nun angehalten, sich fit zu halten. Dafür ist kein Theater vonnöten, wissen wir doch: Die ganze Welt ist eine Bühne. Das Skript können wir den Ausgangsbeschränkungen entnehmen, so etwa der Verordnung zur Änderung der Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Berlin.

Heidi Hoh im Nachtasyl

Der sperrige Titel nimmt Anleihen bei René Pollesch, und gerade die Einschränkungen des Gewerbebetriebs könnte einer Neufassung von "Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“ oder "Service / No service" entstammen. Jedoch, ein solcher Chor irrte gewaltig, der sich zu einer Wiederaufnahme zusammenfände, sind Versammlungen doch untersagt. Generell ist ein Abstand von 1,5 Metern zu halten, ausgenommen sind hiervon lediglich "Ehe- oder Lebenspartnerinnen oder -partner". Diese Maßnahme stellt die ein oder andere Figur vor die Wahl. Gerade beim Personal eines Gorki, Tschechow oder Schnitzler werden einige Lebenspartner wohl von verschiedentlicher Seite reklamiert werden. Wen wähle ich mir als Sommergast? Wem biete ich ständiges Nachtasyl? Wen halte ich mir in tragischen Zeiten postdramatisch vom Leib: I love you, but I've chosen Ausgangssperre.

kolumne wolfKlar ist, dass nur eine starke Regie die Einhaltung der eineinhalb Meter Abstand garantieren kann. Einer Anekdote nach entstand dieser Berufsstand aus folgender Situation: Zwei Schauspieler auf einer Bühne, sagt der eine zum anderen: "Geh mal runter und sag mir, ob ich in der Mitte stehe." Das neue Regietheater läuft nun aber unter anderen Vorzeichen: Kein Speichel, kein Blut, kein Erbrochenes darf hier fließen. Nach der performativen folgt nun die hygienische Wende. "Corona" kann nur als reines Kammerspiel herauskommen, klassische Dramaturgien sind gefragt, Konflikte sind programmiert, was nur zu gut weiß, wer viel Zeit mit jemandem auf engem Raum verbringt. Eingerissene Vierte Wände müssen nun wieder zugemauert werden, die Baumärkte wurden dankenswerterweise zu diesem Zweck in vielen Regionen bereits wieder geöffnet.

Die Vierte Wand dank OBI

Auf dem Weg zu OBI und BAUHAUS erweisen sich alte Schauspieler- und Menschenfragen wie "Wo komme ich her und wo gehe ich hin?" als entscheidend nun auch im juristischen Sinne: "Das Vorliegen von Gründen, die das Verlassen der Wohnung oder gewöhnlichen Unterkunft nach den Bestimmungen dieser Verordnung erlauben, ist gegenüber der Polizei und den zuständigen Ordnungsbehörden glaubhaft zu machen." Die Kunst erlangt Freiheit nur durch Wahrhaftigkeit. Die pure Behauptung einer Rolle, etwa im Sinne eines trotzig ins Licht einer Taschenlampe genuschelten "Ich war Hamlet ... Blabla" wird im Zweifel scheitern. Das Mitführen eines Totenkopfes könnte zwar der Identifikation dienlich sein, dürfte allerdings im konkreten Fall einer polizeilichen Überprüfung nur zu weiteren Erklärungsnöten führen. Vorsicht ist hier geboten! Erlaubt ist das Ausführen eines Hundes, was immerhin einem Faust gewisse Spielräume eröffnet.

Auf der sicheren Seite verbleibt in jedem Falle, wer sich sportlich kleidet, ist Bewegung an der frischen Luft doch gestattet, einschließlich "Erholungspausen auf fest installierten Sitzgelegenheiten". Das öffentliche Leben gerät so in letzter Instanz zum Sportstück, Muskelkater ist der neue Weltschmerz. Auf Parkbänken werden wir besserer Zeiten harren, das Trikot gespannt über dem Bauch, die Shorts schlotternd über weißen Schenkeln. Und horcht! Wie ein ferner Gruß dringt Abend für Abend Applaus an unsere Ohren. So werden wir warten auf den letzten Akt dieses Trauerspiels.

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein. 


In seiner letzten Kolumne ließ sich Michael Wolf von einer Bemerkung von Sasha Marianna Salzmann über Beethoven irritieren.

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Kommentare  
Kolumne Wolf: unsichtbares Theater
Ich finde, in diesem Zusammenhang muss unbedingt das „unsichtbare Theater“ des Augusto Boal erinnert werden. Begegnen sich zwei Schauspieler und merken es gar nicht. Erst als die wenigen Passanten ihnen stumm zujubeln, in einer Art konspirativen Zuneigung, die aber als Gang in den Supermarkt getarnt wurde.
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