Das letzte Abendmahl der Parondi

von Andreas Wilink

Bochum, 27. September 2008. Wie ein drohendes Gewicht, das im Fall alles unter sich begraben würde, hängt manchmal ein Sandsack in die Mitte des Boxringes herab. Er bildet das Zentrum für ein Drama, in dem der Kampfsport eine Chance zum sozialen Aufstieg bietet, hier aber trotzdem nur Niederlagen bereitet. Luchino Viscontis Meisterwerk von 1960 trifft den Zuschauer wie eine Faust: Es ist einer der gewaltigsten Klagegesänge und Passionswege des Kinos, von archaischer Wucht, zugleich episches Theater, Grand Opéra, Studie über Klassenverhältnisse und eine realistische Tragödie. Zeigt sie doch, wie ein materialistisches System den Kodex von Ehre, Würde und familiärer Ordnung vertilgt.

Aus der Fremde kommt die Familie Parondi im winterlichen Mailand an. Mit Sack und Pack haben sie sich vom Süden her aufgemacht in den industrialisierten Norden. Am Rand der Bochumer Jahrhunderthalle, in der nun im Rahmen der Ruhrtriennale die Amsterdamer Toneelgroep unter Ivo van Hove ihre "Rocco"-Adaption uraufführt, lagern Koffer, Kisten, Bündel mit dem Hab und Gut der Mutter und ihrer Söhne.

Nachfahren von Kain und Abel

Darunter eine kitschig gipsene Pièta-Figur, symbolisch das Ende vorwegnehmend. Die Skulptur wird die Parondis begleiten, von einer Wohnung in die nächste und noch bessere, die ihren Aufstieg dokumentieren. Die vier, das Karré flankierenden Bühnentürme (Jan Versweyveld) beherbergen auf ihren Etagen und Plattformen die Wohnzimmer und sonstigen Spielräume, Sportstudio oder Bar, wie auch, on the top, das Pult für den Musiker und Soundman mit ihren aggressiven Klangattacken.

Fünf Brüder sind es. Jeder von ihnen repräsentiert eine bestimmte Position. Rocco, bei Visconti von Alain Delon wie aus Milch und Blut gegossen und in Bochum mit Fedja van Huêt besetzt, ist der komplexeste von ihnen. Rocco, das Unschuldslamm, der verwundete Engel, opfert in seiner Verzichtstugend sich, sein Glück mit der geläuterten Prostituierten Nadia und diese selbst seinem großen Bruder Simone, der zunächst als Boxer siegreich ist, gefördert und umworben wird. Ein Triebmensch, stolz und talentiert, aber unfähig, sich zu bezähmen. Ein King Kong, der das Zarte bewundert, es aber nicht halten kann. Was er anfasst, geht ihm kaputt. Simone und Rocco: Nachfahren von Kain und Abel, und zwischen ihnen eine ewige Eva.

Proletarisches aus grobem Filz

Strophe um Strophe singt sich hier das katholische Lied von Schuld und Sühne, Eifersucht, Hass und Begehren. Bei dem linken Aristokraten Visconti scheint selbst noch das Proletarische wie mit Seide gefüttert, während sich der Stoff bei Ivo van Hove sehr nach grobem Filz anfühlt. Doch obzwar manieristisch, ist der Film-"Rocco" viel konkreter und unmittelbarer als der geerdete Stil van Hoves. Die pausenlose dreistündige Inszenierung geht auf Abstand und belässt es lange Zeit bei einer ambulanten dramatischen Zustandsbeschreibung, indem sie beschäftigt ist, simultane Abläufe und Aktionen zu organisieren.

Während also Mama Rosalia (die Celia Nufaar mit deutlich mehr Selbstsucht und negativer Energie ausstaffiert als das Anna-Magnani-hafte, herrlich theatrale Muttertier der Katina Paxinou bei Visconti) am Herd die Minestrone gart und Ciro (Alwin Pulinckx) die Waschmaschine repariert, steht Simone (der wuchtige Hans Kesting) unter der Dusche, wird dort in all seiner Männlichkeit von dem Boxmanager begehrlich begutachtet und hat unterm Wasserstrahl ersten Sex mit Nadia (in nervöser Direktheit: Halina Reijn). Das Verhängnis einer verzweifelten Leidenschaft nimmt seinen Lauf und wird entsprechend musikalisch annonciert mit dem Siebziger-Jahre-Chanson "Paroles, paroles", gesungen von Dalida im Duett mit Delon.

Ohne Zukunft

Beständig werden die Dinge in Bewegung gebracht, obgleich die Handlung gelegentlich auf der Stelle zu treten und das Ensemble etwas von sich unter Verschluss zu halten scheint. Einige Male allerdings bewirkt die Methode der Parallelmontage starke Sinnsetzung: Wenn in der Sterbeszene Nadias die Regie den eigentlich nicht anwesenden Rocco am Rande belässt und so das fatale Dreieck komplett macht, noch bevor Simone den Mord begeht. Zum Schluss betont Ivo van Hove einen anderen Akzent und lässt alle Hoffnung fahren. Deutlich formuliert sich bei ihm ein "weder noch". Weder ist Rückkehr in den alten Süden möglich, noch birgt das neue Leben eine Perspektive.

Rocco, seinem Wesen nach konservativ, fast reaktionär und dem Land der Olivenbäume verhaftet, schaut nur stur heimwärts. Ciro, der Arbeiter bei Alfa Romeo, der sich fleißig das Regelwerk der Moderne aneignet, hat sich vom Erbe und von der Erde der Väter gelöst. Die Sirene, die ihn in die Automobilfabrik zurückruft, verkündet aber nicht das Signal der Zukunft. Im Theater nun sitzt Luca, der Jüngste, am Tisch, gabelt seine Spaghetti und räumt dann das Geschirr ab. Das ist, was bleibt vom letzten Abendmahl der Parondi. Ein abgegessener Tisch.

 

Rocco und seine Brüder
nach Luchino Visconti
Textfassung aus dem Niederländischen von Eva Pieper und Alexandra Schmiedebach
Regie: Ivo van Hove, Bühne/Licht: Jan Versweyveld, Kostüme: Ann d’Huys, Dramaturgie: Peter van Kraaij, Komposition/Musikalische Leitung: Harry de Wit.
Mit: Stef Aerts, Fred Goessens, Fedja van Huêt, Hans Kesting, Hugo Koolschijn, Celia Nufaar, Alwin Pulinckx, Halina Reijn, Elise Schaap, Eelco Smits, René van Zinnicq Bergmann.

www.ruhrtriennale.de

 

Mehr zu Visconti auf deutschsprachigen Bühnen lesen zu hier: wie Karin Henkel mit ihrer Fassung des Films "Die Verdammten" Der Fall der Götter blutig die Spielzeit 2008/2009 im Düsseldorfer Schauspielhaus eröffnete. Und über Ivo van Hoves furiosen Shakespeareabend Römische Tragödien, der im Juni 2008 auf den Wiener Festwochen begeisterte, lesen Sie hier.

 

Kritikenrundschau

Auf der Website von Deutschlandradio (27.9.2008) schreibt Ulrike Gondorf: Das Migrationsthema von "Rocco und seine Brüder" passe genau in das Generalthema "Fremde" der Ruhrtriennale. "Was vor 50 Jahren noch eine Wanderbewegung von ein paar hundert Kilometern innerhalb eines Landes war", habe inzwischen "globale Dimensionen angenommen", das "Konfliktmuster" bleibe gültig und die Geschichte wirke "nach wie vor stark". Den "Film mit Theatermitteln zu erzählen", gelinge Ivo van Hove auf dem Bühnenpodest, das wie eine Sportarena wirke, "anfänglich sehr gut". Ausgerechnet der "spektakuläre Höhepunkt" – die brutale Prügelei zwischen den Brüdern und die Vergewaltigung der Geliebten – gerate aber "kleinmütig und kunstgewerblich": zuerst spielt alles "in völliger Dunkelheit", dann folgten "statuarische Bilder in Stroboskop-Licht". Danach fehle das richtige Timing bis zu einem letzten starken Bild für den Mord an der Geliebten. Der Text sei "trocken, steif und schriftsprachlich" und weit entfernt von einem realistischen Dialog. Die Schauspieler seien stark.

Christine Dössel findet in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2008) den Aufführungsort für "Rocco und seine Brüder" ideal: Die Jahrhunderthalle in Bochum "symbolisiert mit ihrer architektonischen, von menschlicher Arbeits- und Schaffenskraft zeugenden Wucht auch die Hoffnung aller Migranten auf ein besseres Leben in den Industrienationen des alten Europas". Gesehen hat die Kritikerin eine "nach Lebensechtheit trachtende Simultaninszenierung". Filmstoffe seien bei "Theaterregisseuren vor allem deshalb so beliebt", führt Dössel aus, "weil sie ihnen größtmögliche erzählerische Freiheit gewähren." Diese Freiheit aber werde für "Ivo van Hoves kraftmeierische" Inszenierung "beschwerend". Die "szenische Organisation" des "Großen und Ganzen" halte den Regisseur in Atem, für die einzelnen Charaktere interessiere sich die Aufführung nicht sonderlich. Dazu sei die Dialogfassung "sprachlich arg dürftig". Das Geschehen bleibe "trotz des rasanten Tempos merkwürdig bleiern am Boden haften". Einzelne Szenen würden "einem wie Faustschläge vor den Latz geknallt". Diese "Hau-drauf-Technik" erschlage den Abend schließlich mehr als dass sie ihn trage.

Auf Ruhr-Nachrichten.de (28.9.2008) schreibt Karsten Mark: Wenn man sich die Geschichte von "Rocco und seine Brüder" von Italienern auf Türken übertragen denke, seien Parallelen kaum zu übersehen. Die Umsetzung vom Film auf die Bühne sei geschickt und einfallsreich, im Kern aber "sehr vorlagennah". Die Toneelgroep spiele "durchweg hervorragend", das Regiekonzept sei äußerst reizvoll, aber drei Stunden ohne Pause überfordere die Zuschauer, weshalb "ein ganzer Schwung" nach zwei Stunden gegangen sei. Bei der "guten, spannenden" Aufführung handele es sich nicht um "leichte Kost", sondern um "ein hartes Unterschichtendrama".

In der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, hier: im Internet-Portal Der Westen (29.9.2008), schreibt Wolfgang Platzeck: Die Idee, "das Thema Migration nicht am allzu naheliegenden Beispiel etwa türkischer Zuwanderer zu behandeln, sondern im "christlichen Europa zu halten", überzeuge genauso wie das Bühnenbild. Van Hoves Konzept allerdings, "die zentralen Stellen – die Boxkämpfe als Metapher für den Überlebenskampf – als stilisierte Solo-Pantomimen zu lauten, schneidend scharfen Elektronik-Klängen zu inszenieren", werde "überstrapaziert". Selbst dem "fantastischen Ensemble" falle es schwer, "den Spannungsbogen" drei Stunden lang "aufrecht zu erhalten".

Diese Inszenierung sei ein "etwas kurioses Unterfangen", findet Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.9.2008). Nicht nur werde Film in Theater verwandelt, sondern der Regisseur müsste auch die "Züge der Italianità weitgehend abstreifen": "Alle Schauspieler sprechen, die meisten bewundernswert deutlich, mit niederländischem Akzent und schaffen eine doppelte Verfremdung. Als würde der Weg von Lukanien in die Lombardei über Limburg führen." Auf diesem Wege aber, so Rossmann, könne die Inszenierung den Film auch deswegen nicht einholen, weil auf der Bühne "nicht die emotionalen", sondern "nur die physischen Konflikte" gesteigert würden. Dabei würde kein "Erzählbogen" entwickelt und "kein poetischer Überschuss" erzielt, "der über die italienische Binnenwanderung hinaus auf heutige Migrationsbewegungen weist."

 

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