So nah und doch so fern

von Shirin Sojitrawalla

Zürich/Online, 17. April 2020. Erinnerungen an eine andere Welt. Letztes Jahr! Theatertreffen! Dionysos Stadt! Wiebke Mollenhauer und Nils Kahnwald lassen sich vom Publikum auf Händen tragen. Soziale Distanz am Arsch. Der ganze Abend eine Feier des Theaters als sozialer Ort. Typisch für den Regisseur Christopher Rüping. Klar will so einer sich in Corona-Zeiten nicht mit abgefilmten Theater begnügen, sondern für den digitalen Raum inszenieren. Wichtig ist ihm, dass es live und flüchtig ist: Theater eben.

Film goes Theater goes Film

Zum Warmwerden hat er sich einen Stoff gesucht, den er schon 2013 am Schauspiel Frankfurt inszeniert hat. Damals spielte ein Ensemble aus fünf Schauspieler*innen sieben von zehn Folgen der Filmreihe "Dekalog" von Krzysztof Kieślowski, die sich in zehn Episoden an den zehn Geboten abarbeitet. Rüpings Frankfurter Inszenierung war ein okayer Abend, dessen Clou darin bestand, dass die Zuschauer über den Verlauf der Geschichten abstimmen durften. Eine Spielerei, die aber ähnlich wie die Publikums-Abstimmung bei Ferdinand von Schirachs Erfolgsstück "Terror" echte Diskussionen in Gang zu setzen vermochte. Wer wollte, konnte sich den Kopf heiß reden.

Fürs Netz inszeniert Rüping jetzt alle zehn "Dekalog"-Geschichten als Live-Streams hintereinander weg bis zum 3. Mai, immer in Form eines Monologs. Den Anfang macht das erste Gebot "Du sollst keine anderen Götter haben neben mir", gespielt von Mister Wut-Monolog Thomas Wodianka. Kürzlich erst konnte man ihn hier im Stream von Falk Richters "Small Town Boy" erleben. Diesmal steht er mutterseelenallein auf der Bühne. Bevor es richtig los geht, sieht man, wie er hin- und hertigert, schemenhaft ist das zu erkennen.

Starschauspieler in Nahaufnahme

Nach einer Begrüßung durch den Regisseur vergehen die ersten Minuten mit technischen Unstimmigkeiten. Bild und Ton sind nicht synchron, Seite neu laden, Bild hängt und so weiter. Dazu guckt Thomas Wodianka ausdrucksstark in die Kamera und erzählt irgendwas über Sichtbeton. Meist beherrscht nur sein Gesicht den Bildschirm, später erst sieht man ihn in Gänze. Wodianka verkörpert den Vater von Paul. Anfangs wirkt er mit seinen leicht verspäteten Lippenbewegungen im bläulichen Licht und im gespenstischen Close up wie nicht von dieser Welt. Geradezu transhuman. Mehr Susanne Kennedy als Christopher Rüping. Außer Wodianka befindet sich noch ein Kühlschrank auf der Bühne und in der Mitte des Raums liegen ein paar Schlittschuhe wie ein böses Omen.

Bildschirmfoto 2020 04 17 um 21.07.57Thomas Wodianka auf der Digital Stage, darunter im Chart die Emojis des von der schlechten technischen Qualität des Streams verstörten Publikums  © Screenshot

Nach 20 Minuten läuft alles synchron, und auch Wodianka hat sich eingespielt, vielleicht aber auch nur unsereins sich an die neue Sichtweise gewöhnt. Höhepunkt ist sein 1a-Christopher-Walken-Wutanfall "The Ice gonna break". Wodianka rastet aus, und allein für diese Sequenz lohnt sich das Zuschauen schon. Dabei sieht man ihn so nah wie niemals im Theater. So nah, dass Spuckefädchen in seinem Mundwinkel blitzen.

Publikums-Abstimmung statt Applaus

Bei Kieślowski ist der Vater ein Wissenschaftler, ein KI-Freak, der meint ausrechnen zu können, ob das Eis auf dem zugefrorenen See halten wird, wenn sein Sohn darauf Schlittschuh läuft. Achtung Spoiler: Das Eis hält nicht. Die Gewissensfrage ans Publikum lautet, ob der Vater seinem Sohn erlauben soll, aufs Eis zu gehen oder nicht. Im Netz entschied die Mehrheit, es ihm zu erlauben. Genau wie damals bei der Premiere in Frankfurt. Lässt sich daraus was lernen? Was die Sache in Frankfurt besonders apart machte, war, dass man bei der Abstimmung sehen konnte, wer sich wie entschieden hat. Der Sitzplan wurde projiziert und die einzelnen Sitze je nach Abstimmungsverhalten farblich markiert. Ein Gag, mehr nicht, aber einer, der jetzt fehlt. Wie es eigentlich überhaupt die Abstimmung gar nicht bräuchte, denn die einzelnen Geschichten sind extrem stark und Wodianka macht trotz der technischen Widrigkeiten spielend klar, wie man Kieślowski als Soloperformance auf die Bühne und ins Heute bringt. Er spielt einen Allerweltsmann, der in T-Shirt und Turnschuhen seine Sprach-App (Frances Chiaverini) um Rat fragt, wie das Väter eben heute schon mal tun. An diesem Abend führt das zu einer komischen Szene, in der Wodianka einen absurden Dialog mit der Stimme aus dem Smartphone führt.

Dekalog1 560 ScreenshotRealitätscheck: Die Zuschauerreihen sind leer. © Screenshot

Zum Ende hin öffnet sich dann nicht nur die Geschichte, sondern auch der Theaterraum. Wenn der verzweifelte Vater um sich selbst kreist, nachdem er seinen toten Sohn geborgen hat, sieht man die leeren Zuschauerreihen. Zum Ausklang ertönt "Maschine" von Locas in Love, und die Zuschauer dürfen noch abstimmen, ob sie den Song abgeschmackt oder einfach nur schön finden. Das war's.

Fazit: Toller Monolog, viele technische Ruckeleien. Keine vertane Zeit, aber so richtig warm (apropos sozialer Ort) ist's nicht geworden. Das lag auch daran, dass der Chat, in dem die Zuschauer*innen sich während des Streams austauschen konnten, unergiebig blieb. Schade auch, dass Rüping in Zürich zu eingespannt war, um sich selbst daran zu beteiligen. Doch heute ist ein neuer Tag, in Folge 2 tritt Karin Pfammatter vor die Livestream-Kamera. Und: Wir sehen weiter.

Dekalog: Folge 1
nach der Filmreihe von Krzysztof Kieślowski und nach Motiven von Christopher Rüpings Inszenierung am Schauspiel Frankfurt (2013)
Inszenierung: Christopher Rüping, Bühne: Natascha Leonie Simons, Kostüme: Ulf Brauner, Musik (Foyer): Felix Lübkemann, Musik (Dekalog): Matze Pröllochs, Live-Kamera: Jasmin Kruezi, Live-Stream: Noé Toldo, Dramaturgie: Katinka Deecke, Audience Development: Philine Erni, Produktionsassistenz: Sultan Coban.
Mit: Thomas Wodianka und als Special Guest Frances Chiaverini.
Dauer: 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"In Folge eins liefert der wunderbare Thomas Wodianka einen rasenden Monolog. (...) In Folge zwei, zum zweiten Gebot, dünnt Karin Pfamatter unterm Rauschebart Gott aus zu einem Mediziner, einem Gott in Weiss. Und in Folge drei gerinnt der Klamauk schliesslich zur albernen Kochsendung", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (23.4.2020). "Das Ganze dauert jeweils rund eine halbe Stunde. Und man fragt sich allen Ernstes, ob es so schwer sei, eine halbe Stunde Lebenszeit nicht einmal offline zu verbringen. Wohlan, wer etwas zu sagen hat, soll es benennen. Für alle anderen aber, auch für Künstler, wäre Schweigen ein elftes Gebot."

"Das Rohe, Unfertige des Settings, die Einmaligkeit der Live-Ausstrahlung und der Spielwitz der Darstellerinnen und Darsteller besitzen ausser­gewöhnlichen Charme: Dieses Aufführungs­format ohne Rewind-Taste schafft grosse Intensität – und bereitet Vergnügen", schreibt Max Glauner im Rahmen eines Essays über Theater im Netz in der Republik (29.4.2020). "Man hat tatsächlich den Eindruck, einer neuen Aufführungs­praxis beizuwohnen, die dabei ist, sich zu entwickeln. Der Slogan des Abends: 'Sie entscheiden, was richtig und was falsch ist' erschöpft sich momentan allerdings in einer plebiszitären Balken­diagramm-Logik. Es gäbe andere Möglichkeiten der Partizipation im Netz: Die Feedback­schleife zwischen User und Bühne könnte wohl noch nachjustiert werden."

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