Presseschau vom 28. April 2020 – Regisseur Frank Castorf kritisiert im Spiegel die Corona-Maßnahmen
"Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung"
"Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung"
28. April 2020. Regisseur Frank Castorf übt in einem Interview mit dem Spiegel (€) heftige Kritik an den Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus. "Wenn das Robert Koch-Institut klar sagen könnte, dass wir ohne drakonische Maßnahmen in wenigen Wochen 600.000 bis 1,5 Millionen Tote hätten, würde ich sofort einsehen, dass wir einen Ausnahmezustand haben. Aber angesichts der jetzigen Sterblichkeitsrate und der Zahl von bisher weniger als 6000 Corona-Toten sage ich: Es ist immer traurig, wenn ein Mensch stirbt, auch ein alter Mensch. Aber es ist der Lauf der Dinge, den wir akzeptieren müssen."
So wie zu Zeiten der DDR von der Politik die sozialistische Menschengemeinschaft propagiert worden sei, werde heute "die gesellschaftliche Pflicht zur Rettung vor dem Tod propagiert". Castorf fühle sich in seinen Bürgerrechten verletzt. "Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung." Der 68-Jährige wünscht sich einen "republikanischen Widerstand". "Als die BRD-Regierung Ende der Sechzigerjahre versuchte, eine Notstandsgesetzgebung durchzupeitschen, gab es einen wahnsinnigen Bürgeraufstand gegen diese Gesetze. Wo bleibt der heute?"
Castorf hält den schwedische Weg durch die Corona-Krise für verfolgenswerter, weil man die Bürger dort wie mündige Menschen behandle. "Wir Deutschen dagegen haben vor allem Angst. Wir unterwerfen uns gläubig den Dekreten von Virologie-Professoren und Politikern. Für mich entsteht Erkenntnis aber nicht aus dem Dekret, sondern aus dem Disput, aus der Auseinandersetzung von These und Antithese."
(Spiegel Online / miwo)
Update vom 29. April 2020: Die Aussagen Frank Castorfs im SPIEGEL-Interview werden im Medienecho überwiegend scharf kritisiert. Jens Balzer kommentiert für Radio Eins: "Über weite Strecken redet Castorf nicht viel anders als, sagen wir einmal, Björn Höcke."
Die "Mischung aus Opferpose und Großsprecherei" habe man bei ihm allerdings "schon immer gefunden". Castorfs "trotziger Ton", so Daniel Kretschmar in der taz, sei "kein Versehen", sondern "ein kindlicher, fast anrührender Versuch der Provokation, bei dem der erfahrene Regisseur jedoch nicht zu bemerken scheint, welch überhöhte Rolle er der Kanzlerin zuweist." Darin entdeckt der Autor sogar "was Spannendes, Ödipales bestimmt", es "könnte sich ja mal ein Theatermacher der Sache annehmen – aber nein, der quatscht lieber davon, wie schwer es für ihn war, ein Fläschchen Desinfektionsmittel zu kaufen."
Markus Decker findet in seinem Artikel für das Redaktionsnetzwerk Deutschland, Castorf zeige "sich als ein Vertreter jenes neuen Typs von Intellektuellen, die die Welt nicht etwa geistig durchdringen, sondern sich im Gegenteil etwas darauf einbilden, dass sie die Welt weithin nicht zur Kenntnis nehmen".
Ulrich Seidler hingegen entdeckt in Castorfs Aussagen in der Berliner Zeitung durchaus Bedenkenswertes: "Es ist nicht nur Knopfdruck-Pöbelei, als die das Interview nun belächelt wird. Es ist der Ruf eines Künstlers, der sich seiner Ohnmacht bewusst und deshalb frei ist. Und auch wenn es lästig ist, so ist es doch richtig, wenn Castorf uns in unserem Stolz auf die neue bürgerliche Solidarität daran erinnert, wo diese schnell endet: an den nationalen Grenzen und an denen zwischen den sozialen Schichten."
(jeb)
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Oder ist es eine viogtländische Redensart, die man kennen muss, wenn man nachtkritik_nerd mimen möchte? Bitte aufklären.
Castorf hat recht. Man kann das dialektisch ausdrücken so wie er. Oder auch anders, wie z. B. der Infektiologe Prof. Dr. Sucharit Bakdi, der sinngemäß dafür plädiert, dass die Argumente fachkundig abgewogen gehören:
(Link zum YouTube-Kanal von KenFM entfernt: Redaktion / jeb)
Wir stecken nicht in der Falle, wir sollten uns unseres Verstandes bedienen.
Hättest Du geschwiegen,...
Um kritische oder zweifelnde Stimmen auszuschalten, wird sofort die große Moralkeule geschwungen. Wobei wohlweislich verschwiegen wird, wie viele Tote - Millionen Flüchtlinge sind nur ein Bespiel - wir ständig billigend in Kauf nehmen, um uns das Elend dieser Welt vom Hals zu halten.
Also maskieren wir uns lieber, denunzieren diejenigen, die mehr oder minder unsinnige Ge- oder Verbote nicht vorbehaltlos folgen oder dagegen aufbegehren, und halten uns für gute und ach so solidarische Menschen.
Die hätten sich bestimmt viel zu erzählen.
Über Frauenfussball und so...
nzz.ch/feuilleton/philosoph-markus-gabriel-zu-covid-wir-haben-eine-politische-monokultur-ld.1553074
Nein (sage ich jetzt), wir Österreicher haben "nicht vor allem Angst". Natürlich sind da, wie überall, alte und vielleicht kranke, geschwächte Menschen, denen man in den Straßen begegnen kann, die vor einem auffallend zurückweichen, selbst wenn der Abstand geschätzte 2 Meter beträgt, aber man sieht ihnen an, dass sie nicht in ihrer vollen Kraft gehen, ängstlich sind, und nicht mehr die Jüngsten sind. Man hat Ver-
ständnis dafür, ihre Schwäche ist nicht zu übersehen. Man bedauert das. Was soll man machen? Aber sonst ist von Angst kaum etwas zu spüren. Nur manchmal wacht man morgens auf nach unruhigen Träumen, und einen Hauch kollektiver Angst (Krankheit, Sterben) fühlt man im eigenen Inneren (das Unbewusste). Aber, es ist nicht viel. Bei dem anhaltenden schönen Wetter (die Trockenheit ist weniger schön) ist man beinahe täglich draußen, man geht längere Strecken und man fühlt sich dadurch so gesund wie nie zuvor.
Castorf: die gesellschaftliche Pflicht werde heute zur Rettung vor dem
Tod propagiert. Und er fühle sich in seinen Bürgerrechten verletzt. Als ein Castorf würde man das vielleicht auch sagen. Selbst wenn ich in Deutschland leben würde, würde ich es so nicht sagen, oder doch? Wie ist es wenn man in Deutschland seinen ständigen Wohnsitz hat? Ich weiß nichts darüber. "Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung." - Die "Mutter" des Landes hält ihren rebellischen Sohn dazu an, sich doch bitte die Hände zu waschen wegen der Ansteckungsgefahr, und sie macht vielleicht ein etwas weinerliches Gesicht dazu, wie das bei ängstlich besorgten Müttern oft der Fall ist. Schließlich herrscht Todesgefahr, wenn auch nicht in allen Fällen. Die "bürgerliche Erziehung" ist ein eigenes Kapitel und nicht so leicht aus-zustreichen glaube ich. Ja, es ist traurig wenn ein Mensch stirbt, auch wenn ein alter Mensch sterben muss. Um wie viel mehr traurig ist es wenn ein junger Mensch stirbt. Durch unsere "bürgerliche Erziehung" ist das Sterben eines uns Nahestehenden Anlass zur Traurigkeit. Es ist ein
trauriger Verlust in der allgemeinen Anschauung. Wenn uns Fremde sterben, finden wir das bedauerlich, es geht uns aber nicht sehr nahe. Es ist der Lauf der Dinge, sagt Castorf, den wir akzeptieren müssen. - Wir akzeptieren, wir akzeptieren und fragen uns doch manchmal: wozu das alles, dieses Leben und Sterben, besonders dann, wenn wir depressiv gestimmt, keinen oder zu wenig Sinn in diesem ganzen Treiben finden und entdecken können..............
Die allgegenwärtig gewordene Phrase, dass der Tod tabuisiert würde, lenkt ab davon, dass es für die neoliberale Ausgestaltung des Globalkapitalismus zwingend notwendig ist, das Lebensende nicht biologisch definieren zu müssen. Eine biologische Definition des Todes steht nicht nur der neoliberalen inhumanen Moral, sondern der materiellen Verwertung des Sterbens und des toten Körpers entgegen.
Ansonsten: Wer für Castorf-Interviews (oder Interwievs mit anderen IntendantenRegisseurenPhilosophen) in Printmedien und ihren Online-Ablegern etwas bezahlt, ist selber schuld oder will sein geäußertes Unbehagen daran nur als Selbstdarstellungsbühne nutzen, aber auf keinen Fall was an den bestehenden Verhältnissen ändern.
(Liebe*r Pixels, wir werden mitnichten "gekapert". Kommentare geben – auch wenn sie sich im Rahmen unserer Richtlinien bewegen und somit veröffentlicht werden – allein die Meinung der Kommentierenden wieder. Wenn etwas Überhand nimmt, schreiten wir dennoch ein. Grüße aus der Redaktion: jeb)
Anton Pawlowitsch Tschechow und 2.Erkundigen Sie sich gemeinsam mit Herrn Castorf über die Zustände auf der Intensivstation des Minsker Krankenhauses: Adresse Kizhevatova 58 , Minsk 220002, Belarus.
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Liebe Kommentator*innen,
bitte nehmen Sie doch von persönlichen Angriffen fürderhin Abstand und diskutieren Sie das Thema sachlich.
Viele Grüße aus der Redaktion,
miwo
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"Wenn das Robert Koch-Institut klar sagen könnte, dass wir ohne drakonische Maßnahmen in wenigen Wochen 600.000 bis 1,5 Millionen Tote hätten, würde ich sofort einsehen, dass wir einen Ausnahmezustand haben. Aber angesichts der jetzigen Sterblichkeitsrate und der Zahl von bisher weniger als 6000 Corona-Toten sage ich: Es ist immer traurig, wenn ein Mensch stirbt, auch ein alter Mensch. Aber es ist der Lauf der Dinge, den wir akzeptieren müssen."
Wie jetzt? Castof wehrt sich gegen Dekrete, will aber ein Dekret vom Robert-Koch-Institut? Kriegt er nicht – das sind schliesslich Wissenschaftler. Die disputieren. These und Antithese. Der eine wird die Anzahl der Toten *ohne Verhaltensänderung* bei 100.000 ansetzen, der andere bei einer Million.
Aber die Menschen haben ihr Verhalten geändert, und wir haben daher nur 6000 Tote hierzulande. Ist auch wieder nicht recht, weil wir halt nicht wissen, wieviele gestorben wären, wenn weiterhin alle in Gruppenstärke ihre Brathähnchen aus der Nähe inspiziert hätten etc. Und mit dieser Unsicherheit muss Castorf jetzt klarkommen – was ihm anscheinend schwerfällt. Wer hätte das gedacht?
„Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss ... Als die BRD-Regierung Ende der Sechzigerjahre versuchte, eine Notstandsgesetzgebung durchzupeitschen, gab es einen wahnsinnigen Bürgeraufstand gegen diese Gesetze. Wo bleibt der heute?“
Wenn ichs richtig sehe, schränken sich Menschen in fast allen Ländern der Welt in ihren Kontakten ein. Und im weltweiten Spektrum bewegt sich Deutschland auf eher lässig-bis-nachlässigem Niveau. Wenig Angst, und wenig Gesetze. Was vielleicht gar keinen grossen Unterschied macht: Merkel will Kontaktsperren und bekommt sie. Trump will keine Kontaktsperren, und bekommt sie trotzdem. Vielleicht doch noch mal den Epilog von Krieg und Frieden lesen, wo Tolstoi die Frage behandelt, ob die Napoleonischen Kriege *wegen* oder *trotz* Napoleon stattfanden.