Unser Ensemble wird spielen

16. Mai 2020. "Das Wichtigste ist, dass sich das Ensemble vorstellt. Erst danach bin ich an der Reihe", sagt Dortmunds neue Schauspielintendantin Julia Wissert anlässlich ihrer ersten Spielplanpräsentation.

Von Sascha Westphal

16. Mai 2020. Manche Schlagworte erklingen überall in der deutschsprachigen Theaterwelt, vor allem wenn ein neues Team ein Haus übernimmt und seine Pläne vorstellt. Auf eine Handvoll Formulierungen könnte man dann fast schon Wetten abschließen. Denn welche Intendantin, welcher leitende Dramaturg würde nicht verkünden, dass man "Theater für die Stadt machen will". Und schon sind Begriffe wie "Labor" und "Agora" auch nicht mehr fern.

Überaus beliebt ist zudem noch die (Selbst-)Vergewisserung, dass das Theater der ideale, wenn nicht gar der einzige Ort sei, an dem unsere Gesellschaft Perspektiven für Gegenwart und Zukunft entwickeln kann. Gegen all das ließe sich kaum etwas sagen, wenn die Arbeit an dem Haus in der Folge sichtbar von diesen Gedanken und Ideen geprägt wäre. Nur offenbart sich oft recht schnell eine auffallende Kluft zwischen vorherigem Anspruch und tatsächlicher Wirklichkeit.

Auf die Bedingungen im Herbst zeitnah reagieren

Auch im gerade veröffentlichten Heft zur ersten Spielzeit am Schauspiel Dortmund unter der Leitung von Julia Wissert finden sich einige dieser Schlagworte. Und natürlich ist es momentan nicht möglich, zu sagen, ob sie und ihre stellvertretende Intendantin Sabine Reich, die in ihren Bekenntnissen zu einem anderen, neuen Stadttheater anklingenden Versprechen einlösen werden. In Zeiten der Corona-Pandemie und weitreichender Auflagen, mit denen die Theater sowohl vor als auch auf und hinter der Bühne zu ringen haben, verschärft sich diese Ungewissheit noch einmal deutlich. Schließlich muss sich gerade jede Theaterleitung fragen, wie es überhaupt weiter- beziehungsweise erst wieder losgehen kann. Da geraten große Pläne und Versprechungen leicht ins Hintertreffen.

JuliaWissert 1 560 Birgit Hupfeld uJulia Wissert, Regisseurin und Dortmunds Intendantin ab der Spielzeit 2020/21 © Birgit Hupfeld

Im persönlichen Telefoninterview, das Covid-19-bedingt an die Stelle der öffentlichen Spielplanpräsentation getreten ist, betont Julia Wissert allerdings, dass sie und ihr Team vorerst noch an ihrer ursprünglichen und nun veröffentlichten Planung festhalten wollen. Dabei ist eins für sie ganz sicher: "Wir haben ein Ensemble hier, und das wird spielen." Auf die Bedingungen, mit denen sich das Ensemble im Herbst arrangieren muss, wollen sie und ihre künstlerischen Mitstreiter*innen zeitnah reagieren. Die nun öffentlichen Pläne nähren auf jeden Fall die Hoffnung, dass Wissert und Reich tatsächlich eine etwas andere Richtung einschlagen werden als andere Leitungsteams. So wird die Spielzeit am 2. Oktober diesen Jahres nicht mit einer klassischen Inszenierung eröffnet, sondern mit dem Abend "17 X 1", an dem sich das 16-köpfige Ensemble und der Sprechchor mit kleinen persönlichen Vignetten vorstellen kann.

Wege, die tatsächlich in eine andere Zukunft führen könnten

Julia Wissert sagt zu diesem Auftakt: "Das Wichtigste ist, dass sich das Ensemble vorstellt. Erst danach bin ich an der Reihe." Also folgt ihre erste Dortmunder Arbeit "2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?" am 3. Oktober. Ein Stücktitel im Futur II, auch das ist durchaus typisch und ganz sicher programmatisch für ihre Arbeit und ihr Denken über das Theater. Eine mögliche utopische Zukunft zu imaginieren und dann aus der auf unsere Gegenwart zurückzublicken, das ist eine Methode, die schon ihre vor ziemlich genau einem Jahr am Schauspielhaus Bochum entstandene Inszenierung 2069 – Das Ende der anderen geprägt hat. Es geht um Handlungsspielräume, um Freiheiten und um Wege, die tatsächlich in eine andere Zukunft führen könnten. Wer in der Betrachtung des augenblicklichen Zustands der Welt gefangen ist, wird sich die Zukunft wahrscheinlich nur als eine um ein paar technische Gadgets reichere Gegenwart vorstellen.

Es braucht andere Wahrnehmungen und Perspektiven. Und die kommen von fünf meist noch recht jungen Autor*innen, die einen eigenen Blick auf Dortmund werfen. Julia Wissert hat Luna Ali, Sivan Ben Yishai, Ivana Sajko, Akin Şipal und Karosh Taha eingeladen, die Stadt auf ihre Weise zu erkunden. Die Begegnungen und Gespräche, die sich dabei ergeben haben, fließen in die Texte ein, die sie zu "2170" beisteuern. Insofern wird diese Eröffnungsinszenierung, die sowohl auf der Bühne des Schauspielhauses als auch an verschiedenen Orten in der Stadt stattfinden soll, mehr als nur eine Annäherung an das Leben in Dortmund sein. Sie ist, wie Julia Wissert voller Stolz erklärt, "auch schon partizipativ". Die Gesellschaft der Stadt ist zugleich Thema und Protagonist der Aufführung. Ihre vielfältigen Stimmen sollen nicht nur diese Inszenierung, sondern die gesamte Arbeit des neuen Teams prägen.

Partizipation der Stadtgesellschaft am Programm des Theaters

Mit Mitteln aus dem Fonds "Neue Wege" des NRW Kultursekretariats und des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen werden Wissert und Reich eine "Stadt-Intendanz" einrichten. Die Stelle der für dieses überaus ambitionierte Projekt, das das Schauspielhaus auf eine neue und bisher auch einzigartige Weise in die Stadt hinein öffnen soll, verantwortlichen "Stadtdramaturg*in" ist bisher noch nicht besetzt. Aber die Idee einer groß angelegten und breitgefächerten Partizipation der Stadtgesellschaft am Programm des Theaters, die über klassische Bürgerbühnen-Modelle hinausgeht, zeichnet sich auch so schon im Programm der ersten Spielzeit ab.

SabineReich 560 Birgit Hupfeld uSabine Reich, Dramaturgin und stellvertretende Intendantin © Birgit Hupfeld

Im April werden die Schwestern Sandra und Simonida Selimović im Rahmen ihrer Produktion "Land ohne Land" nationalistischen Abschottungstendenzen entgegentreten und ein virtuelles Land gründen. Dafür arbeiten sie mit Rom*nja aus Dortmund zusammen, um eine andere Form des Lebens in den Blick zu rücken und damit auch das Verständnis zu erweitern, das wir von Gesellschaft und Staat haben. Diese Inszenierung steht dabei, wie France-Elena Damians als "Gesellschaftsspiel" angekündigte Produktion "Neue Arbeit" und Mizgin Bilmens Recherche-Projekt "Heidi – Auf der Suche nach der verlorenen Schönheit", für ein Theater, das Menschen und Gruppen beteiligen will, die sich ansonsten auf der Bühne nur eher selten repräsentiert fühlen.

Die Differenz zwischen den Idealen und den realen Verhältnissen verringern

"Neue Arbeit" ist nicht nur der Titel einer der zwölf Inszenierungen, die in Julia Wisserts erster Spielzeit auf der großen Bühne und im Studio Premiere haben werden. Die Fragen danach, wie wir im Moment arbeiten und wie Arbeit in Zukunft aussehen könnte, bestimmen die gesamte Saison – und das auch hinter der Bühne. Auch diese Entscheidung ist lange vor dem Ausbruch der Pandemie gefallen. Wenn das Dortmunder Schauspiel in der kommenden Spielzeit über die Arbeit am Theater nachdenkt, geht es dabei mehr um tiefer reichende Probleme als um Abstandsreglungen. "Wir wollen uns begleiten lassen von ganz unterschiedlichen Experten, die sich mit dem gesamten Team über neue Formen von Kommunikation, über Themen wie Gleichberechtigung und Diskriminierung und über die zukünftige Entwicklung von Arbeit unterhalten werden", erzählt Julia Wissert und umreißt damit einen Grundpfeiler ihres Konzepts. Wenn das Theater ein Labor ist, dann gilt das auch für die Arbeit im Theater und nicht nur für die künstlerischen Produktionen auf der Bühne. So versucht das Schauspiel Dortmund, die Differenz zwischen den hehren Idealen, die Abend für Abend überall auf den Bühnen verkündet werden, und den realen Verhältnissen im System Stadttheater zu thematisieren und zu verringern.

Diese Selbstbefragung des Hauses und des Teams bietet tatsächlich eine Chance für ein etwas anders gelagertes Stadttheater, das eine Art von gesellschaftlicher Vorbildfunktion übernehmen könnte. Dafür gehen Julia Wissert und ihr gesamtes Ensemble aber auch ein gewisses Risiko ein. Dieses größere Bild von Theater, das über die einzelnen Produktionen hinausgeht, wird sich nur vermitteln, wenn das Publikum das Rahmenprogramm rund um die Inszenierungen als ebenso zentral wahrnimmt wie die Inszenierungen selbst. Sie selbst beschreibt dieses Konzept mit einem poetischen Bild: "Die Produktionen sind die Blüten eines großen Rosenstrauchs, und das, woran diese Blüten wachsen, sind die Rahmenprogramme." Sollte es ihr und ihren Mitstreiter*innen gelingen, die Dortmunder und nicht nur sie für den Strauch an sich, also auch für die Dornen, Stängel und Wurzeln der Kunst, zu interessieren, könnten sie damit wirklich den Boden der Zukunft bereiten.

Von Marktmechanismen freies Theater erdenken

Vielleicht spielen die Corona-Entwicklungen Julia Wissert dabei sogar ein wenig in die Hände. Es gibt zwar noch keinen Pandemie-bewährten Plan B für diese erste Spielzeit in Dortmund. Aber sollte es so weit kommen, dass sich ihre Vorstellungen und die der am Haus arbeitenden Künstler*innen aufgrund von Auflagen nicht realisieren lassen, "wird es keine halbgaren Kompromisse geben". Für diesen Fall kündigt Wissert an, "radikal umzudenken und lieber noch einmal neu zu planen oder zu verschieben". Sollte es so kommen, wäre es natürlich bedauerlich, aber zugleich könnte man sich auch freuen, dass der Rosenstrauch des Theaters dann ganz besondere und absolut einmalige Blüten treiben wird. Denn in Wisserts Augen liegt für die Theater in der Corona-Krise auch die bemerkenswerte "Chance, etwas ausprobieren zu können, was man sich sonst nie hätte erlauben können".

Die Auflagen, mit denen die Bühnen arbeiten müssen, schließen Rentabilitätsgedanken von vornherein aus. Wenn überhaupt nur noch 20 Prozent der Plätze im Saal besetzt werden können, verlieren Auslastungszahlen ihre Bedeutung. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, nicht mehr nur darüber nachzudenken, "was für ein Theater wir machen würden, wenn wir keinen Marktmechanismen unterworfen wären, wenn Geld erst einmal keine Rolle spielen würde?". Wie die Antworten auf diese Fragen aussehen, kann Julia Wissert zur Zeit noch nicht definitiv sagen. Aber dass Theatermacher*innen sie sich nun ernsthaft stellen können, erweitert ihren Spielraum enorm. Deswegen sieht Julia Wissert dem Herbst und dem Beginn ihrer Spielzeit in Dortmund trotz der unklaren Corona-Verhältnisse hoffnungsvoll entgegen. Was kann schon passieren, außer dass vielleicht ein*e Spieler*in auf eine*n Zuschauer*in trifft und "wir am Ende für unser Publikum das intimste und persönlichste Theatererlebnis der Welt schaffen"?

 

westphal kleinSascha Westphal, geboren 1971, studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Germanistik und Geschichte in Bochum. Arbeitet seit 1994 als freier Theater- und Filmkritiker für verschiedene Tageszeitungen, Zeitschriften und Internetportale.


 

Mehr zu Julia Wisserts Intendanzstart: Interview zu ihren Plänen am Schauspiel Dortmund aus dem Mai 2019.

 

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