Neues, das anknüpft

von Sabine Leucht

München, 19. Mai 2020. Als Avatare sehen Barbara Mundel und Viola Hasselberg ein bisschen ungelenk aus. Schön aber ist, dass die virtuellen Doubles der künftigen Intendantin der Münchner Kammerspiele und ihrer Chefdramaturgin barfuß sind und die vergnügten Original-Stimmen ihre Steifbeinigkeit vergessen lassen. Eine Handvoll Schauspieler*innen aus dem künftigen Ensemble sagen kurz via Zoom "Hallo" und man kann in dem gigantischen Mosaik gerade noch viele alte Bekannte und eine vordergründige Diversität ausmachen, da schaltet der Vimeo-Livestream (nachzuschauen hier) schon in die Kammer 1, von der aus Barbara Mundel und Team die Pressekonferenz ins Virtuelle senden.

Schwindelerregende Vielfalt

Auch Spielplankonferenzen sind in Corona-Zeiten sehr anders als sonst. Man hat als Journalist zuhause am Bildschirm kein dickes Spielzeitbuch zum Nachschlagen in der Hand, und als angehende Theaterleiterin überschreibt man seine Programmpräsentation mit einem Titel wie "Update #1" – weil sich ja jederzeit alles ändern kann. Dafür aber, dass das neue Team vorerst nur von Oktober bis Dezember vorausschaut, sind sowohl das Programm wie auch seine Vielfalt schwindelerregend. Vier Regisseur*innen will Barbara Mundel nach Vorbild des Schauspielhauses Zürich über fünf Jahre hinweg fest ans Haus binden und mit in die Leitungsverantwortung nehmen. Dass Falk Richter dabei ist, war im Vorfeld bereits durchgesickert. Neben dem Autor-Regisseur, der – man staunt – tatsächlich noch nie in München inszeniert hat, kommt Jan-Christoph Gockel aus Mainz mitsamt seinem Leib- und Magen-Puppenbauer Michael Pietsch und auch einigen menschlichen Schauspielern, sowie Pınar Karabulut mit ihrer entspannt feministischen Perspektive – und Nele Jahnke vom Zürcher Theater HORA.

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Ensemble, wenn auch mit Abstand: Team und Spieler*innen von Barbara Mundels Münchner Kammerspielen © Judith Buss

Damit hat man schon eine immense Bandbreite an inhaltlichen Fokussierungen und ästhetischen Ausrichtungen an Bord. Mit Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur als Schauspieler*innen, sondern auch als Autorinnen und in Regieverantwortung, festen Ensemblemitgliedern mit unterschiedlichen Handicaps, Hautfarben und Herkünften, professionell wie national, bringt die erste Frau an der Spitze der Kammerspiele etwas ganz Neues in die Stadt, um ansonsten inhaltlich wie formal an Vieles anzuknüpfen, dem Noch-Intendant Matthias Lilienthal den Boden bereitet hat. Die Verwischung der Grenze zur freien Szene wie hin zum Tanz geht zum Beispiel mit der österreichischen Choreografin und Fetttanz-Spezialistin Doris Uhlich weiter, die für "Habitat München" Mitwirkende aus der Stadt sucht.

Für Konfrontation und Begegnung sorgen

Womit zugleich auch Mundels schon in Freiburg kultivierte Passion – die Vernetzung mit verschiedenen Abteilungen der Stadtgesellschaft nach dem Motto „Bubbles durchstechen, für Konfrontation und Begegnung sorgen“ – Futter bekommt. Mundels Vernetzungswille wirft seine Tentakeln ganz weit aus – die Residenz eines Choreografen aus Burkina Faso ist ebenso angedacht wie "Sisterhoods" genannte feste Kooperationen mit osteuropäischen Häusern, ein Virtual-Artist in Residence ist bereits an Bord, ebenso wie ein Beauftragter für neue musikalische Formate, der schon mal eine Produktion mit den Musikern von The Notwist und der Regisseurin Jette Steckel ankündigt: Wilde Kreuz- und Querverbindungen oder, wie Mundel es nennt, "vielfältige Begegnungen" bilden zumindest eine Art von rotem Faden durch das vielversprechende Programm, zu dem ein offenbar sowohl virtuell als auch konkret die Maximilianstraße aufmischen wollender postmigrantischer Kiosk "für Drag Queens und Nonnen, mit, aber auch ohne Maserati unterm Arsch" (Zitat Hasselberg) gehört, ein bereits erstaunlich konkretes Vorhaben zur Gewinnung und Integration neuer Zuschauerschichten und eine Vielfalt an thematischen Interessen von der Technik-Mensch-Schnittstelle bis zu sozialen Fragen oder Gewalt von rechts, historischen und familiären Tiefenbohrungen.

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Barbara Mundel bei der Pressekonferenz in der Kammer 1 © Judith Buss

Und doch hat man bei diesem inhaltlichen und strukturellen Overkill nicht das Gefühl, dass das Künstlerische zu kurz käme. Allenfalls, dass bei manch einem bereits für den Herbst geplanten Projekt noch eruiert werden muss, wie sich die ästhetische Konzeption mit den Abstandsregeln und Reiseeinschränkungen vereinbaren lässt.

Einige Soli – etwa mit Julia Häusermann als sie selbst oder Edgar Selge als Bernhard'schem Grantler in "Heldenplatz" – sind mit Sicherheit Corona-tauglich, und Falk Richters "Touch" mit seiner Frage nach Nähe in einer isolierten Gesellschaft zumindest thematisch auch. Doch wenn Richter von der Verlängerung seiner Zusammenarbeit mit der Choreografin Anouk van Dijk und Performern unter anderem aus dem Libanon, Ghana und der Türkei spricht, macht man sich doch ein wenig Sorgen, ob das Projekt klappen kann.

"Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen"

Dafür nimmt einem die Entspanntheit, mit der die neue Theaterleitung ihren Fahrplan präsentiert, ohne das Pandemie-Thema mit jedem dritten Satz zu streifen, ein wenig die Befürchtung, dem Theater der kommenden Monate könnte in der Fokussierung darauf die Luft ausgehen. Mit den entsprechenden Kombinationen von Stoffen und Personen kann das Corona-Theater sogar sehr neugierig machen. So wird etwa der kosovarische Filmregisseur Visar Morina in seiner ersten Bühnenarbeit überhaupt Clemens Setz' "Flüstern in stehenden Zügen" inszenieren, worin ein Mann in der Isolation mit Kundenhotlines und Absendern von Spam-Mails telefoniert.

Das Motto "Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen" haben Mundel und ihr Team gleich für die nächsten fünf Spielzeiten ausgegeben. Bei der Mitgestaltung dieser Wirklichkeit sollen – fast ein wenig gegen den Trend – auch neue Stücke mitwirken. Man wolle, so Mundel, an die Tradition der Münchner Kammerspiele als Ort literarischer Uraufführungen anknüpfen. Dazu gehören Wiederentdeckungen marginalisierter Stimmen vor allem von Autorinnen, gerne mit München-Bezug, und eine ganze Armada von Stückaufträgen. Nora Abdel-Maksoud sitzt schon an einem Auftragsstück, andere etwa von Thomas Köck, Enis Maci oder der schon im kommenden Spielplan vertretenen Sivan Ben Yishai sind in Planung. Und auch hier sind langfristige Verabredungen angedacht.

Was davon alles wirklich passiert, ist schwer vorauszusagen. Nimmt man die Pläne für bare Münze, machen sich die neuen Kammerspiele auf, zu einem All-inclusive-Theater zu werden. Sogar an die Wiederaufnahme meine aktuellen Lieblingsinszenierung aus der Münchner freien Szene haben sie gedacht: Lucy Wilkes und Pawel Dudus' "Scores that shaped our friendship". Die Performerin und Sängerin, die mit einer neuromuskulären Erkrankung geboren wurde, gehört außerdem auch fest zum Ensemble.

 

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