Lang lebe die Verweiltoleranz

von Wolfgang Behrens

26. Mai 2020. Meine Frau sagt – wenn ich hier einmal die Anfangsworte der Kolumne des unvergessenen Michael Althen verwenden darf –, meine Frau sagt eigentlich nach jedem Stück avancierter Neuer Musik, das wir in einem Konzert hören: "Es war wirklich toll (wahlweise auch: spannend, interessant), aber eine CD auflegen würde ich mir davon nicht." Ich weiß nicht, ob das mehr über zeitgenössische E-Musik aussagt oder mehr über Musik, die sich meine Frau als CD auflegt. Ganz sicher aber sagt es etwas aus über die grundsätzliche Qualität eines Konzerterlebnisses, über die Live-Situation: Das Arrangement Konzert nämlich (und für das Arrangement Theater gilt natürlich dasselbe) zwingt gleichsam zur Aufmerksamkeit; die freiwillige Gemeinschaft, die sich hier bildet, hält eine*n gewissermaßen für die Dauer der Veranstaltung gefangen und ermöglicht so eine ästhetische Erfahrung, der man sich unter anderen Umständen möglicherweise verschlossen hätte. Und manchmal hält man auf diese Weise auch etwas aus, dem man sich vielleicht sogar ganz gerne verschlossen hätte.

Wertschätzende Verbalinjurien

Es sei denn, man geht früher. Wenn man eine CD hört oder einem Stream folgt, dann ist es sehr leicht, früher zu gehen: Man schaltet einfach ab. Dass dies gängige Praxis ist, lässt sich in der zeitgenössischen Musik zum Beispiel an Zugriffszahlen von mehrteiligen Videos auf YouTube ablesen. Nehmen wir etwa Beat Furrers "Aria" (das ist jetzt nicht nett, aber einen Komponisten musste es halt treffen), ein gar nicht so langes Stück, das seit zehn Jahren in einer Performance des Wet Ink Ensembles als dreiteiliges Video auf YouTube verfügbar ist. Der erste Teil hat – Stand heute – 6329 Aufrufe, der zweite 2640, der dritte schließlich hat nur noch beklagenswerte 1466 Aufrufe zu verzeichnen. Beim Theater steht's nicht besser: Einar Schleefs "Faust"-Inszenierung von 1990 ist bei YouTube in 20 Teile aufgeteilt. Teil 1 kann sich mit 18.083 Aufrufen schmücken, Teil 18 dagegen dümpelt bei 862 Aufrufen herum. Offenbar ist die Verweiltoleranz bei diesen Angeboten nicht sonderlich hoch.

kolumne 2p behrensIm Theater oder Konzert stellt es sich schon wesentlich unangenehmer dar, die Flucht zu ergreifen (wenn man nicht feige auf die Pause wartet). Zuerst muss mit einer etwaigen Begleitung Einigkeit über einen Aufbruch erzielt werden, eine peinliche Tuschelei entsteht. Dann muss man sich, gebetsmühlenartig eine Entschuldigung vor sich hin murmelnd, an seiner Sitzreihe vorbeiquetschen und dabei unschuldige Zuschauer*innen zum kurzzeitigen Aufstehen nötigen. Und zuletzt sieht man sich noch mit der Aufgabe konfrontiert, eine zumeist brutal schwere Saaltür möglichst lautlos zu öffnen und wieder zu schließen – falls man sich nicht für die aufsehenerregende Variante entschieden hat, das Auditorium mit einem Knall zu verlassen. Im schlimmsten Fall fängt man sich sogar noch eine Bemerkung von der Bühne ein: Als ich noch ein Kritiker, nein: als ich noch ein Zuschauer war, ging etwa Herbert Fritsch bei Frank Castorfs "Nibelungen – Born Bad" (1995) einige abschiedswillige Zuschauer*innen verbal hart an ("Komm zurück, du Arsch!") und setzte ihnen mitunter sogar nach. Immerhin, da wurde der einzelne Zuschauer noch wertgeschätzt!

Knallen statt Klicken

Übrigens scheint das geräuschvolle Verlassen eines Zuschauerraums ja auch etwas ganz und gar Großartiges zu sein. Einar Schleef hat einmal gesagt, er vermisse Theateraufführungen, welche ihre Zuschauer*innen auch einmal zum Rausgehen brächten. Ein Ehepaar, das türenschlagend eine Vorstellung verlasse, habe doch immerhin gemeinsam etwas Positives erlebt, und das verbinde mehr als ein Abend vor dem Fernseher. Zugegeben, mit einem gezielten Impuls eine Tür ins Schloss zu werfen – vielleicht sogar noch mit einem Zwischenruf à la "Das ist doch ein anständiges Stück" (Klaus von Dohnanyi 2000 bei Michael Thalheimers "Liliom") – ist ein ungleich emotionsgeladeneres und somit auch wesentlich befriedigenderes Geschehen, als bei einer gestreamten Aufführung mit einem Klick auf ein Kreuzchen einen Tab zu schließen.

In der letzten Woche hat sich an dieser Stelle mein geschätzter Kolumnisten-Kollege Michael Wolf über "die ewiggleiche Beschwörung des Theaters als Live-Kunst" mokiert. Ich gehöre zu diesen Beschwörern. Weil ich es, von wenigen historischen Ausnahmen abgesehen, nicht schaffe, einen Stream länger als 20 Minuten anzuschauen. Weil ich so manche Theateraufführung zu Ende gesehen habe, obwohl ich sie nach 20 Minuten gerne verlassen hätte, und weil mich das um einige unschätzbare Erfahrungen reicher gemacht hat. Und deswegen gröle ich mit den Rockopas der Band Opus nach wie vor mein "Live Is Life", und ich sage nach fast jeder Aufführung zu meiner Frau: "Es war wirklich toll, aber einen Stream anschauen würde ich mir davon nicht.“ 

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

Zuletzt erinnerte sich Wolfgang Behrens an seinen Mitschüler Volker und das Minutenspiel, mit dem dieser die Zeit besiegte.

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