Die Schicksale der anderen

von Willibald Spatz

München, 3. Oktober 2008. Zuerst geht es ums Lachen, das einem im besten Fall im Hals stecken bleibt. Felicia Zeller hat für ihr Stück "Kaspar Häuser Meer" den Leuten gut aufs Maul geschaut. Die Leute, das sind in diesem Fall die vom Jugendamt, die am Schreibtisch sitzend die Schicksale der anderen lenken und dabei Kaffee schlürfen. "Kaspar Häuser Meer" ist eine ziemlich lustige Satire, die manchmal darunter leidet, dass keine richtige Geschichte erzählt wird, sondern nur der Büroalltag vor sich hinplätschern darf.

Damit doch noch so etwas wie großes Drama daraus wird, hat sich Lars-Ole Walburg, der Regisseur der Münchner Version des Stücks im Werkraum der Kammerspiele, einiges einfallen lassen: Ein monströses Bambi steht auf Kathrin Krumbeins Bühne. Es wird mit Musik gearbeitet – Reggae zwischen den Szenen -, manche Stimme wird verstärkt und verzerrt und soll dann unheimlich klingen. Puppen fliegen aus einer Betonmischmaschine an die Wand, wo sie kleben bleiben. Und der größte Trick Walburgs ist es, die drei Sozialarbeiterinnen, von denen das Stück handelt, von drei Männern spielen zu lassen.

Vergiftetes Klima an der Kaffeemaschine

Die haben einen Riesenspaß in ihren Kleidern, und der trägt die Aufführung über die meiste Zeit. Sie treffen sich zu Beginn an der Kaffeemaschine. Man erfährt, dass Kollege Björn ausfalle; man wisse nicht, wie lange. Die jährliche Statistik stehe an – alle sind überarbeitet. Lasse Myhr, Steven Scharf und Sebastian Weber spielen ihre Frauenrollen so gut, dass man schnell vergisst, dass sie Männer sind, und bald darauf auch, dass sie Frauen spielen, wodurch wiederum der Verblüffungseffekt verpufft, indem man kapiert, dass es eigentlich egal ist, ob nun Frauen oder Männer im Amt sitzen.

Ihre Kaffeetassen stellen sie auf Krankenliegen, die hier als Schreibtische dienen und mit denen sie, zusammen mit den Bürostühlen, schöne Tanzchoreographien aufführen können. Ihre Hauptsorgen sind der Schimmel im Kaffee und das Computerspiel, mit dem sie Ordnung in ihren Kopf bringen wollen. Sie haben ihr eigenes Familienleben kaum im Griff. Die eine holt ihre Tochter permanent zu spät vom Kindergarten ab und gerät selbst in Verdacht, eine Vernachlässigerin zu sein. Die andere hat keine Kinder und klebt zwanghaft alles mit gelben Notizzetteln voll. Die dritte, eine Mutter, die fünf Kinder großgezogen hat, wirft der zweiten ihren Alkoholismus vor – sie solle sich ihr ruhig anvertrauen. Damit ist das Klima vergiftet.

Erbrochenes löffeln

Von Anfang an sprechen alle drei nur in halbfertigen Sätzen: "Der Zuschauer, was will er sehen? Familien, die noch kaputter....", sagt Steven Scharf als Barbara, die sich über eine zu betreuende Familie beschwert, die mit ihrem Fall ins Fernsehen will. Und der Zuschauer in den Kammerspielen? Was kriegt der zu sehen? Er muss sich hier den Vorwurf gefallen lassen, dass er sich wie ein Voyeur die Zustände im Wohnzimmer der sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft vorspielen lässt. Von diesen Zuständen bekommt er freilich einiges geschildert, wenn die drei zum Beispiel in einer Litanei von Kindern berichten, die so lange stehen müssen, bis sie ihr eben Erbrochenes aufgegessen haben.

Damit dieser Moment nicht zu sehr unter die Haut fährt, mault gleich nach dem letzten Satz Sebastian Weber darüber, dass nun bald das ganze Amt rauchfrei sei und man zum Rauchen ins Freie müsse. Man bekommt hier also nicht die unterste Schicht vorgeführt. Man sieht vielmehr die, die sich um sie zu kümmern haben und dabei hart und bescheuert werden, weil sie überfordert sind. Man hört in den Medien nur von ihnen im Fall von "Vernachlässigung der Vernachlässigung". Und das ist natürlich irgendwie schon ungerecht.

Streben nach Relevanz

"Kaspar Häuser Meer" tut so, als biete das Stück einen Einblick in Leben und Alltag von Jugendamtsmitarbeitern und wolle durch Lachen entlarven. Die Autorin behauptet zwar, sie habe viel zugespitzt. Und dennoch ist die Wirklichkeit wahrscheinlich von dem Gezeigten nicht weit entfernt. Weil aber im Theater immer alles zugespitzt ist, will man, wenn man die Spitzen wegdenkt, das glauben, was man sieht. Was man dagegen nicht sehen will, ist, dass hier schon wieder eine Gruppe Menschen vom Theater entdeckt wird, die herumgezeigt werden kann, um dem Publikum den Zustand, in dem sich unsere Gesellschaft befindet, klar zu machen.

Das wirkt nicht komisch, sondern überheblich und besserwisserisch, trotz aller ironischen Brechungen. Auch wenn hier niemand behauptet, Lösungen zu haben, führt dieses ständige Streben nach Authentizität und Relevanz doch zu einem Überdruss am Thema, das durchaus diskutiert werden könnte, nur eben nicht in dieser komischen Form. Und wenn man sich dann immer noch darüber amüsieren will, geht man halt ins Kabarett.

 

Kaspar Häuser Meer
von Felicitas Zeller
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne und Kostüme: Kathrin Krumbein, Musik: Tomek Kolczynski.
Mit: Lasse Myhr, Steven Scharf und Sebastian Weber.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr lesen über Felicia Zeller, die für ihr Stück "Kaspar Häuser Meer" den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage 2008 gewann, können Sie im ausführlichen Dossier zu Stück und Dramatikerin auf nachtkritik-stuecke08.de. Oder lesen Sie dort Hartmut Krugs Laudatio auf die 1970 geborene Autorin. Hier spricht Felicia Zeller höchstpersönlich.

Weiteres über Regiearbeiten von Lars-Ole Walburg können Sie in den Nachtkritiken lesen: zu seiner Uraufführung der Theaterfassung von Arno Geigers Familienroman Es geht uns gut bei den Wiener Festwochen im Mai 2008, Walburgs Theateradaption von Orhan Pamuks Roman Schnee in den Münchner Kammerspielen im März 2008 und Orestie im Schauspielhaus Düsseldorf im Dezember 2007.

 

Kritikenrundschau

Satire? "Quatsch!" Wenn all das redundant sprudelnde Bürogeschwätz, diese vielen nicht zu Ende gesprochenen Sätze nicht nur wahnsinnig komisch sind, sondern dahinter Hetze, Ohnmacht und tödliches Elend ohne Pathos und Ermahnung derart deutlich werden, ist es nicht Satire, sondern große Kunst", schreibt Joseph von Westphalen in der FAZ Sonntagszeitung (5.10.2008). Die Perspektive der Autorin sei genial, "ein tiefer Einblick in den Verwaltungsalltag eines Jugendamts: Zeitnot, Sticheleien, Frotzeleien, Besserwissereien, vergebliche Urlaubsträume, immer wieder Anträge und Eingaben auf Leitungsebene". Zum "Rüberkommen des Stücks" trage der Einfall des Regisseurs Lars-Ole Walburg bei, "die drei Sozialarbeiterinnen von Männern in Röcken spielen zu lassen".

In der Süddeutschen Zeitung (6.10.2008) schreibt Christine Dössel über Felicia Zellers "Kaspar Häuser Meer": " … kein realistisches Sozialdrama, sondern eine Komödie, eine schreiende Groteske", eine "rasende, atemlose Sprechpartitur für drei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs". Doku-Theater sei damit nicht zu machen, aber doch mehr als bloß eine "Trash- und Transen-Inszenierung", die Walburg mit "Comic-Blick" auf das Stück vorgelegt habe. Walburg gehe das Stück "sozialamtskritisch" an, finde in den Damen vom Amt die "Schuldigen" und mache ansonsten eine "harmlose Bürosatire" daraus. Die Besetzung der drei Frauenrollen mit Männern gebe ihnen "etwas Lächerliches", oder strenger geurteilt: denunziere die Figuren. Diese drei "abgewrackten ... Mütter der Klamotte" bezögen "einen Großteil ihrer Komik aus der Verkleidung".

 

Kommentare  
Kasper Häuser Meer in München: dem Stück nicht gerecht
Mein Gott, wie schlapp muss das sein, dieses Burn-Out-Oratorium von Zeller in Kabarett-Szenen zu gießen! Männer spielen Frauen und „Die haben einen Riesenspaß in ihren Kleidern“. Das sagt alles. Man kann nur hoffen, dass die Freiburger Uraufführung auf Tour geht (nachdem die Theatertreffen-Jury sie im letzten Jahr überging – oder fällt sie doch noch in diesen Turnus?). Marcus Lobbes Verwandlung des Amtsschimmels in ein Feuerroß, das sich in einer nervenzerreißende Rap-Battle aufreibt, dürfte dann allen klar machen, dass diese Wahrnehmung dem Stück nicht gerecht wird: „’Kaspar Häuser Meer’" tut so, als biete das Stück einen Einblick in Leben und Alltag von Jugendamtsmitarbeitern und wolle durch Lachen entlarven.“
Kaspar Häuser Meer: Überdruss-Rezension
lieber herr spatz, sie beklagen die "Relevanz" des abends und schreiben noch dazu: "Was man dagegen nicht sehen will, ist, dass hier schon wieder eine Gruppe Menschen vom Theater entdeckt wird, die herumgezeigt werden kann, um dem Publikum den Zustand, in dem sich unsere Gesellschaft befindet, klar zu machen." - das finde ich eine bemerkenswerte haltung, zumal für einen theaterkritiker. ich dachte immer: genau darum ist es dem theater immer gegangen? schade, wieder nur eine überdruss-rezension. woher kommt bloß dieses offensive gelangweiltsein? schönen gruß - fk
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