Dein Schmerz in meine nackte Haut geritzt

von Elisabeth Maier

Tübingen, 6. Juni 2020. 15 Zuschauer warten im Tübinger Zimmertheater auf Einlass. Alles ist anders als sonst. Im Foyer wird Maske getragen. Poster mit den strengen Corona-Regeln sind nicht zu übersehen. Vor der Premiere von "WTF 1770 – Hölderlin//Beethoven" der Komponisten und Performer Justus Wilcken und Konstantin Dupelius (alias OMG Schubert) schweift der Blick zum Hölderlinturm. Dort starb der psychisch schwer kranke Dichter 1843.

Hier neben den Fahrrädern der jungen Theatermacher steht das Trojanische Pferd – eine Skulptur aus abgelegten Alltagsgegenständen wie Tischtennisschlägern und alten Telefonen. Sie symbolisiert den Einsatz für die Umwelt, den das Haus vorantreibt. Das Zimmertheater ist Zentrum der Klimaaktivisten von Fridays for Future in der Universitätsstadt.

Mit ausgeklügeltem Hygiene-Konzept

Sechs Wochen lang lebten, komponierten und probten der Pianist Konstantin Dupelius und der Opernsänger Justus Wilcken in der Altstadt-Bühne. Konzert-Performances zu Schuberts Kunstlied machten sie bekannt. Das Institut für Theatrale Zukunftsforschung, wie die Intendanten Dieter und Peer Ripberger ihr Haus nennen, realisiert nicht nur Eigenproduktionen. Kollektive und Gastkünstler*innen leben und arbeiten während der Proben in Gästezimmern über der Neckarfront. Lange stand auf der Kippe, ob das Projekt wegen der Corona-Regeln gespielt werden darf. Mit einem ausgeklügelten Hygiene-Konzept, modernen Luftfiltern und reichlich Abstand haben es die Theaterchefs möglich gemacht.

WTF1770 1 560 Alexander Gonschior uDer Klangkunst von Beethoven und Hölderlin auf der Spur: Konstantin Dupelius (Piano) und Justus Wilcken (Vocals) © Alexander Gonschior

Blütenblätter in Alkohollösung sind auf den fesselnden Videos von Wilhelm Rinke zu sehen – auf zwei Leinwänden. Sie biegen sich, wenn Flüssigkeit darauf tropft. Rosaroten Lilien wird Farbe entzogen. Dann werden sie dunkelrot koloriert. Im botanischen Forschungslabor tasten sich der Pianist Dupelius und der Opernsänger Wilcken zu beiden titelgebenden, komplexen Persönlichkeiten vor, die vor 250 Jahren geboren wurden. Wie lesen wir die Klassiker heute? Sie fragen: Was wäre gewesen, hätten sich Beethoven und Hölderlin gekannt? In fiktiven Briefen bringen sie den manischen Komponisten und den wahnsinnigen Dichter einander nah.

Im Schatten der Erde

"Ich sah die besten Köpfe meiner Generation vom Wahn zerstört, hungernd hysterisch nackt, die sich im Morgengrauen durch die Gassen schleppten, auf der Suche nach einem wütenden Schuss", weht Allen Ginsbergs Beat-Gedicht "Howl" herein. In Beethovens Brief an Hölderlin, den es nie gegeben hat, lässt Justus Wilcken Entsetzen über die Folgen der Französischen Revolution anklingen. Wenn er mit seiner immensen Stimmgewalt Versatzstücke von Hölderlins Gedichten jongliert, tritt die selbstzerstörerische Macht des Dichters grandios zu Tage. Der Sänger wirft sich zu Boden, ritzt sich Buchstaben in die nackte Haut. Kraftvoll zerfetzt er mit seiner Performance die Poesie des großen Dichters: "Weh mir, wo nehm' ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde?" Hölderlins Schmerz über das eigene Scheitern in einer erfrierenden Welt, der ihre Sprache entgleitet, zeigt Wilcken schmerzlich schön.

WTF1770 2 560 Alexander Gonschior uDer kleine Saal des Zimmertheaters bietet aktuell 15 Zuschauer*innen Platz (statt wie sonst 80). © Alexander Gonschior

Beethovens gewaltige Sinfonien interpretiert der brillante Pianist Konstantin Dupelius respektvoll. Mit seufzenden Synthesizern und Jazz-Elementen verpflanzt der junge Musiker die monumentale Musik mit betörender Leichtigkeit in die Gegenwart. Mit viel Feingefühl klopft Dupelius die Musik des Komponisten auf ihr innovatives Potenzial ab. Seine unbändige Lust am Spiel und an der Komposition holt den Schöpfer der Europahymne ganz nah an uns heran.

Vom ersten Augenblick an fesselt die Konzert-Performance das Publikum in den ausgedünnten Reihen (wo sonst 80 statt der nunmehr 15 Zuschauer*innen Platz haben). Justus Wilcken und Konstantin Dupelius hinterfragen Beethovens Musik und Hölderlins Poesie nicht nur auf dem Hintergrund heutiger Zeiterfahrung. Jenseits ästhetischer Diskurse zeichnen sie das Bild zweier Menschen, deren Kunst starke Gefühle spiegelt. Etwa den Schmerz über das Scheitern einer Revolution der Vernunft und der Humanität. Dieser ehrliche Blick verstört. Und er öffnet Horizonte.

 

WTF 1770 | Hölderlin // Beethoven
von OMG Schubert
Performance, Musik und Komposition: Konstantin Dupelius, Justus Wilcken, Video-Performance: Wilhelm Rinke, Dramaturgie: Dieter Ripberger, Ton und Videotechnik: Thomas Mulot, Stefan Pfeffer und Nils Syré.
Premiere am 6. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.zimmertheater-tuebingen.de

Kommentare  
WTF 1770, Tübingen: Nachfrage
Welche Sinfonien lässt Dupelius denn erklingen...? Ich war im Konzert und bin der recht festen Überzeugung: Keine einzige. Aber vielleicht habe ich mich verhört?
WTF 1770, Tübingen: Der Weg des Dichters
Maske-Tragender, sein Blick schweift zum Hölderlin-Turm:

Nur noch einen, einen Sommer gönnt mir, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange, und Saite-Klage mir,
dass williger mein krankes Herz (voll heiligem Schmerz),
vom süßen Spiele gesättiget, dann mir sterbe!

Die kranke Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
nicht ward, sie ruht auch trunken im Orkus nicht;
doch ist mir einst das Heil`ge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen:

Willkommen dann, o Stille der tiefsten Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
mich nicht hinabgeleitet, Einmal
lebt`ich, mit einer Göttin, und mehr bedarf`s nicht.

(Frei nach Hölderlin "An die Parzen")
WTF 1770, Tübingen: Alpen
Atmend hinter der Maske, raunt es mir zu unter der Schädeldecke:
Vor den Alpen, die in der Entfernung von einigen Stunden hieherum sind, stehe ich immer noch betroffen, ich habe wirklich einen solchen Eindruck nie erfahren, sie sind wie eine wunderbare Sage aus der Heldenjugend
unserer Mutter Erde und mahnen an das alte bildende Chaos, indes sie niedersehen in ihrer Ruhe, und über ihrem Schnee in hellerem Blau die
Sonne und die Sterne bei Tag und Nacht erglänzen."
(Hölderlin an Christian Landauer, Februar 18O1)
Barbara K. sagte zu mir:
Ja, die alles überschattende Pandemie und noch lange keine Normalität in Sicht...ich frage mich, wann wir uns wieder ohne Maske begegnen und
die Hände schütteln können . . .
Ich: Ja, wann?! - das ist die Frage . . .
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