Palast als Panikraum

von Tobias Prüwer

Leipzig, 12. Juni 2020. Die Bestuhlung trägt Trauerflor. Schwarze Tücher decken sie ab, lassen in nur jeder zweiten Reihe jeden dritten Platz frei. Das Schwarz zieht sich bis hinein in den Bühnenraum, wo wieder etwas Leben einzieht – auch wenn es in dieser "Medea" vor allem ums Sterben geht. Der Boden ist eine einzige schwarze Wasserfläche, die das Licht des Herrscherpalast-Kubus mal schluckt, mal diffus reflektiert. Die Drehbühne kreist und optisch gewaltig entfesselt sich der Zauberin Rachedurst als dunkler Sog. Markus Bothe hat seine fast fertige "Medea", deren Premiere im Frühjahr in Quarantäne musste, nun den Hygienestandards angepasst.

Dass das nicht steril ausfällt, ist schon keine kleine Überraschung. Denn ein gefühlt leerer Saal – nur ein Sechstel der üblichen Zuschauermenge ist zugelassen und ein paar Plätze bleiben davon noch unbesetzt – ist für Publikum wie Darstellende eine Herausforderung. Sicher, es ist besser als Stream. Aber alles ist besser als gestreamtes Theater.

medea 06 600 Rol Arnold uDas viele Wasser kann den Rachedurst nicht löschen: Anne Cathrin Buhtz (Medea), Paul Trempnau, Friedrich Steinlein und Philipp Staschull © Rolf Arnold

Der Kritiker fühlt sich leicht verloren, was Medeas soziale Stellung und Position auf der Bühne spiegelt. Denn sie wird in Korinth nicht heimisch. Jason hat sich von ihr und den Kindern losgesagt, um die Königstochter des Stadtstaates zu heiraten und sich beruflich einzurichten. Jener Argonauten-Chef Jason, dem die magiekundige Medea einst dabei half, das legendäre Goldene Vließ zu stehlen. Eine wie Medea aber, stark, zauberkundig und unbeugsam, kann diesen Verrat nicht hinnehmen und sinnt auf blutig-tödliche Rache. Soweit der bekannte Mythos.

Man kann Mythen abklopfen nach ihrem eigentlichen Gehalt, wie es Klaus Theweleit beispielsweise im "Buch der Königstöchter" durchführt. Darin seziert er, wie Mythen kolonialistische Landnahmen als edle Unternehmungen umdeuten. Stets lässt sich der gleiche perfide Clou ausmachen: Die Neuankömmlinge, natürlich bringen sie die Zivilisation, erhalten Hilfe aus der Gruppe der Kolonialisierten. Und es sind meistens Königstöchter, die von fast höchster Stelle den Kolonisierern mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das Motiv geistert in antiken Mythen herum, ist Grundlage der Pocahontas-Erzählung und gehört bis hin zum Science-Fiction-Film "Avatar" zum Standardrepertoire der Popkultur.

Medea ist die erste dieser Figuren: In der Wildnis unterstützt sie Jasons diebischen Coup, flieht mit ihm ins griechische Kulturreich, um dann dort in der Zivilisation zu verkümmern. Bis heute kann man sie auf den Bühnen klischiert als Zauberin, wilde Exotin und fremde Furie interpretiert erleben, die rachsüchtig brutal mordet. Wer sie ist, fragen wenige, oder nehmen sie als fühlendes Wesen Ernst. 

medea 03 600 Rolf Arnold uSocial Distancing: Medea (Anne Cathrin Buhtz mit Christoph Müller, Philipp Staschull, Friedrich Steinlein) muss draußen bleiben © Rolf Arnold
Markus Bothes "Medea" ist weit entfernt vom gewagten Psychogramm, das Anna-Sophie Mahler im März am selben Haus entwarf. Ihm das vorzuwerfen, wäre jedoch unfair, denn man muss beide Inszenierungen zusammen denken. Ihre Premieren waren zeitgleich geplant. Statt also den Mythos zu modernisieren, bringt Bothe ihn nun zum Sprechen. Als eine Art Prolog lässt er zwei Jungen, die mit Stöcken ein Papierschiffchen durch die Wasserfläche des Bühnenraums lenken, die Argonautensage kurz abreißen.

Während später Jason, König Kreon und die Seinen im Palast, der einem Wintergarten ähnelt, hinter Glas im Licht stehen, bleibt Medea draußen. Im nassen Dunkel stakst sie herum: Einfacher kann man Exklusion nicht darstellen. Denn der Palast erscheint wie ein Panikraum, in dem sich alle vor der Rachsüchtigen verschanzen. Das Gebot sozialer und physischer Distanznahme ist auch in Korinth eingezogen.

Gut gebaut ist diese Grundkonstellation aus Bühnenbild (Kathrin Frosch) und markanten Lichtsetzungen (Jörn Langkabel). Viel Spiel (und damit Luftturbulenzen etc.) ist nicht nötig. So empfiehlt sich der Klassiker ohne aktuellen Zugriff allein schon aus der Corona-Krise. Natürlich wirkt der Abend etwas zu distanziert aufgesagt, was hauptsächlich der Situation geschuldet ist. Aber immerhin ist diese "Medea" kein steriles Theatererlebnis, was vor allem Anne Cathrin Buhtz zu verdanken ist. Zwischen zerbrechlich und stark gelingt ihr eine Zauberin, die ganz Frau, nie Furie ist. Sie ist verletzt, will verletzen, zur blindwütigen Barbarin, bösen Fremden wird sie nicht degradiert. Sie ist einsam auf leerer Bühne, taumelt und füllt das Vakuum in den stärksten Moment dennoch völlig aus.

 

Medea
von Euripides
Regie: Markus Bothe, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Sabine Blickenstorfer, Musik: Biber Gullatz, Dramaturgie: Benjamin Große, Licht: Jörn Langkabel
Mit: Anne Cathrin Buhtz, Denis Petković, Lena Drieschner, Christoph Müller, Ellen Hellwig, Michael Pempelforth, Philipp Staschull, Friedrich Steinlein, Paul Trempnau, Nicole Widera, Anton Littger, Lorenzo Vitagliano, Arthur A. Pathak, Theodor Helm
Premiere am 12. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kommentare  
Medea, Leipzig: Danke
Danke für den Mut und die Energie an das Schauspiel Leipzig. Es war so schön, wieder im Theater zu sitzen seit Monaten. Danke
Medea, Leipzig: Öde
Ja, es gab Theater! Das ist toll! Aber die Inszenierung war nicht nur öde, sondern wirklich auch blöd. Medea wird als Zauberin von den Kindern am Anfang beschrieben, aber zaubert nie, sondern darf sich höchst psychologisch in etwas reinsteigern und am Ende die Brust ganz betroffen halten. - Es wird viel rumgestanden, das wäre vor COVID-19 sicherlich nicht anders gewesen. Emotionslos wird Küchenpsychologie gespielt, dann dreht die Bühne mal ein bisschen. Aber zu erzählen hat der Abend nichts.
Medea, Leipzig: weichgespült
Die Tragödienfigur der Medea des Euripides’ ist doch weitaus mehr als diese weinerliche, verletzliche Variante, die uns hier präsentiert wird. Die Vielfältigkeit dieser Zauberin, die eben nicht nur passiv erduldet, sondern sich wehrt (wenn auch zu grausam)kommt in dieser Inszenierung viel zu kurz.
Wo ist die berechnende, die täuschende Medea und die, die es sich eben nicht bieten lässt, dass man so mit ihr umgeht? Wo ist die über Jason Triumphierende und vor allem: Wo ist die Kraftvolle?
Es handelt sich ja um die Medea des Euripides‘ und nicht die Version von Christa Wolf! Wo bleibt die pointierte Kritik an der Rolle der Frau, die Euripides - modern für seine Zeit - durchaus im Text verlauten lässt?
Eine griechische Tragödie mit Leben zu erwecken, ist keine leichte Aufgabe, ist das Stück ja schon von der Anlage sehr statisch. Deshalb ist natürlich der Fokus auf dem Textvortrag. Beeindruckt hat mich da allein Ellen Hellwig, die nuanciert und bedeutungsvoll jeden Vers ihrer Amme( bzw. Teile des Chores) eindringlich vorgetragen hat. Sie konnte mich berühren und auch stimmlich überzeugen. Medea blieb viel zu blass, monoton und farblos. Kein Vergleich mit der Medea (Regie Thalheimer)gespielt von Constanze Becker - die jede Nuance dieser Figur auskostet und kraftvoll darstellen konnte.
Überzeugt haben mich nur das Bühnenbild und der Einsatz des Lichts.
Schade! Ich werde dennoch mit Schüler*innen das Stück hoffentlich in der neuen Spielzeit besuchen und bin gespannt auf deren kritische Meinungen.
Kommentar schreiben