Marionette Beethoven

von Frauke Adrians

Mainz, im Juni 2020. Was hätte das für ein Jubeljahr werden können. Nahezu alle Theater und Orchester hatten zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag Großes oder doch Mittelgroßes geplant, von der Aufführung sämtlicher Symphonien – innerhalb einer Spielzeit, gern auch an einem Tag – über weltweit vernetzte "Klima-Konzerte" mit Beethovens Pastorale bis zum letztgültigen "Fidelio" fürs 21. Jahrhundert. Dann kam Corona, halbierte die Spielzeit 2019/20, und was aus 2020/21 wird, vermag noch kein Mensch zu sagen. Während die Bonner Beethoven-Jubiläumsgesellschaft ihr Beethovenjahr einfach um neun Monate verlängert und viele Projekte entsprechend verschiebt, retten die Theater- und Konzerthäuser derzeit, was in der zu Ende gehenden Spielzeit überhaupt noch zu retten ist.

Spiel mit den Geistern

In Mainz retteten Jan-Christoph Gockel und sein Ensemble ein für die Bühne gedachtes spartenübergreifendes Beethoven-Spektakel ins Fernsehen. 3sat spielte mit. Und Corona, natürlich. Denn wer sich im Frühjahr 2020 theatralisch mit der Vereinsamung beschäftigt, die dem schon mit Anfang 30 allmählich taub werdenden Beethoven zur Qual wurde, der kommt an der mehr oder minder folgenschweren Isolation von Millionen während des Corona-Lockdowns nicht vorbei. Schon der Begriff Geisterspiel gehört ja ins Wörterbuch der Corona-Ära. Nach eigenem Bekunden will Gockel zeigen, dass dieses Wort – nicht nur auf der metaphysischen Ebene – geistvoller ist, als seine Verwendung in den Fußballstadien vermuten lässt. Man kann wohl sagen: Der Regisseur spielt mit den Geistern, die er auf die Bühne bringt, und das ziemlich clever. Aber viel mehr als ein amüsantes Spiel ist es nicht.

Beethoven 1 c De Da ProductionsLässt sich doch wegen Corona nicht hängen: Beethoven als Marionette © De-Da Productions

Wie es sich für ein kunstvoll verschachteltes Theaterprojekt gehört, spielen die Schauspieler Schauspieler, die Gestalten aus Beethovens Leben spielen, die wiederum regelmäßig aus ihren Rollen fallen und sich von mundschutztragenden Theatermitarbeitern interviewen lassen. In der Rolle des Regisseurs tritt auf: Anton Felix Schindler (Rüdiger Hauffe), Sekretär und erster Biograf Beethovens, der es mit der Wahrheit wohl nicht so genau nahm. Er führt Beethoven vor wie eine Attraktion in einem Panoptikum; wer Geld in den „Beet-o-Magic“-Automaten wirft, der sieht eine Beethovenpuppe tanzen. Aber auch Bettina von Brentano (Anika Baumann), zärtliche (Brief-)Freundin des Meisters, gibt zu, an der Beethoven-Legende mitgestrickt zu haben. Und der Erfinder und Metronom-Konstrukteur Johann Nepomuk Mälzel (Michael Pietsch) maßt sich an, Beethovens Werk den für immer gültigen Takt eingegeben zu haben.

Beethoven selbst tritt auf als klimperäugige Marionette, als singende Statue mit Patina (Michael Dahmen) und als verzweifelndes Genie aus Fleisch und Blut (Vincent Doddema), das gegen die Wände der Drehbühnen-Zimmerchen anrennt, zu viel trinkt und mit einem Mälzel'schen Hörtrichter verzagend der Stimme Bettinas nachlauscht.

Wunder-Plunder

Zwischen Beethoven-Büsten, -Porträts, -Masken und sonstigem Wunder- und Rumpelkammer-Plunder bastelt sich also jeder Mitspieler den Beethoven, den er gern hätte, während die Darsteller zugleich mit der Corona-Realität hadern. Andere Theater hätten doch schon wieder geöffnet, aber das Beethoven-Stück will wohl keiner sehen? Wie soll man denn überhaupt spielen ohne Publikum? Und was für ein Stück soll das eigentlich sein, dieses Neben- und Durcheinander von Schauspiel, Oper, Puppenspiel und Film?

Beethoven 5 Ruediger Hauffe 600 Torsten Silz uSekretär mit Legendenbildungs-Kompetenz: Rüdiger Hauffe als Anton Felix Schnidler © Torsten Silz

Gute Frage, aber überflüssig. Entscheidend ist, dass das Ergebnis turbulent ist, dem Fernsehzuschauer Spaß macht – und dennoch unbefriedigend bleibt. Das Spiel mit Zeitebenen, Genres und Geistern bringt schöne Bilder, aber keine Erkenntnis über Beethoven. Selbst seine Musik spielt keine Hauptrolle: ein Lied aus dem Zyklus an die ferne Geliebte hier, eine verzerrte Variation von "Für Elise" dort, etwas "Coriolan" und für die tragische Note am Schluss natürlich der Trauermarsch aus dem 2. Satz der Siebten; viel mehr wird es nicht. Nichts macht schmerzlicher deutlich, was Corona für die Künste bedeutet, als Hermann Bäumers Dirigat vor Bildschirmen statt vor körperlich anwesenden Musikern.

Wiederbelebung per Ode an die Freude

Zum Schluss, wenn sich die dicke Frau EU kurzatmig ins Theater schleppt, einen Kollaps erleidet und von Beethoven mit der "Ode an die Freude" wiederbelebt wird, gerät das Spiel zur Posse. Und die Filmschnipsel, die eine bunte Beethoven-Puppe um die halbe Welt begleiten – unter anderem in ein Flüchtlingslager auf Lesbos, in den Kongo, nach Mexiko und in den New Yorker Stadtteil Queens – wirken wie eine allzu beiläufig nachgereichte Fußnote. 80 originelle, aber letztlich überladene TV-Minuten lassen die Sehnsucht nach der analogen Bühne, nach dem Livekonzerterlebnis nur noch größer werden. Und das ist ja auch kein Fehler.

 

Beethoven – ein Geisterspiel (UA)
von Jan-Christoph Gockel
Inszenierung und Fernsehregie: Jan-Christoph Gockel, musikalische Leitung: Hermann Bäumer, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Sophie Du Vinage, Puppenbau und -spiel: Michael Pietsch, Dramaturgie: Ina Karr, René Michaelsen und Jörg Vorhaben, Licht: Ulrich Schneider, Chor: Sebastian Hernandez-Laverny, Klavier: Fiona Macleod, Redaktion ZDF/3sat: Jule Broda und Dietmar Klumm.
Mit: Anika Baumann, Michael Dahmen, Vincent Doddema, Rüdiger Hauffe, Michael Pietsch.
Mitglieder des Opernchors und des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz
Online-Premiere am 13. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause 

www.staatstheater-mainz.com
Bis 12. September zu sehen in der 3sat-Mediathek: https://www.3sat.de/kultur/theater-und-tanz/beethoven-geisterspiel-102.html

 

Kritikenrundschau

Dieser Abend sei "kein abgefilmtes Theater, sondern ein Film, der Theater macht", schreibt Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (15.6.2020): "Gockel denkt das Making-of mit, die Darsteller treten aus den Rollen, man sieht unterschiedliche Theaterräume, Technik: Szenen, wie eine Liebeserklärung ans Theater." Das "mittlerweile gängige Bühnenmedium Live-Kamera" erreiche dabei "eine zusätzliche Ebene":  "Sie hebt das zentrale Thema der Isolation hervor und macht zugleich bewusst, dass dieses Spiel Theater ist. Ein 'Geisterspiel', weil es um Geist und Geister geht."

Von "80 kurzweiligen Minuten" spricht Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (20.6.2020). Auch ist sie der Meinung, dass die Verwandlung des Theaterprojekts (das in der Corona-Krise nicht mehr das Bühnenlicht erblicken konnte) in ein Filmprojekt "unheimlich gut" funktioniert. "Dringt sonst der Film ins Theater ein (...) so verschafft sich nun die Bühne im Film ihren Raum." Allein "die nervösen Akteurinnen und Akteure" wirken mitunter wie bestellt und nicht abgeholt auf diese Kritikerin.

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