Das Kind beim rechten Namen nennen

von Steffen Becker

Baden-Baden, 25. Juni 2020. Aus den Boxen dringt ein Billy Joel-Klassiker: "I haven't been there for the longest time". Die Darsteller tanzen dazu ausgelassen (aber mit Abstand) über die Bühne des Theaters Baden-Baden. Lange waren sie nicht mehr da und sie haben es offenkundig vermisst. Aber der Eingangssong hat auch etwas zum Stück "Der Vorname" von Alexandre de La Patellière und Matthieu Delaporte zu sagen. "And the greatest miracle of all / Is how I need you / And how you needed me too / That hasn't happened for the longest time". Die Protagonisten verbringen gemeinsam einen Abend, den sie so noch nicht erlebt haben. Sie erfahren, dass sie noch auf ganz andere Arten miteinander verbunden sind, wenn auch nicht so, wie es Billy Joels Fröhlichkeit nahelegt.

Die Bombe platzt

Treffpunkt der Figuren ist die Pariser Wohnung eines Paares: Pierre und Elisabeth. Elisabeths Bruder Vincent verkündet ihnen und Claude, dem besten Freund Elisabeths, den geplanten Vornamen seines noch ungeborenen Sohnes. Adolphe soll er heißen, nach einem Romanheld. Und wie Hitler – was einem zuerst in den Sinn kommt. Es folgt ein Schlagabtausch mit vertauschten Rollen. Der Immobilienmakler Vincent argumentiert sprachwissenschaftlich, aber zugleich mit der Chuzpe des erfolgreichen Self-Made-Man. Sebastian Mirow verkörpert diesen Mir-kann-keiner-Charakter mit furioser Arroganz und Eitelkeit. Man würde ihm keine Wohnung abkaufen, aber liebend gerne zusehen, wie er jemanden über den Tisch zieht. Holger Storz gibt den eigentlichen Sprachwissenschaftler und Professor Pierre, der seine Fassungslosigkeit zelebriert ob der Vornamen-Provokation. Storz erinnert ein wenig an Stromberg (Christoph Maria Herbst spielte in der deutschen Verfilmung die Rolle), der ebenfalls an der Dummheit seines Umfelds verzweifelt und doch selbst nicht durchblickt.

Der Vorname 3 560 c Theater Baden Baden uIn bester Gesellschaft © Theater Baden Baden

Denn der Vorname war nur ein fieser Scherz. Als das mit dem Erscheinen von Vincents Lebensgefährtin Anna herauskommt, ist die Runde aber bereits Yasmina-Reza-mäßig eskaliert und hat sich ihren tieferen Konflikten zugewandt. Diese auf die Bühne zu bringen, dafür war Corona durchaus ein Gewinn. Durch die Abstandsregelungen erreicht "Der Vorname" das Format einer Familienaufstellung. Regisseurin Katrin Hentschel lässt die mensplainenden Gockel Pierre und Vincent sich buchstäblich den Raum greifen und die anderen mit ihrer 1,5 Meter-Bugwelle verdrängen – wenn sie sich nicht gerade auf dem Sofa oder in den Vintage-Sesseln fläzen.

Der sensible beste Freund Claude (Patrick Schadenberg), ein Musiker, hält sich meist im Hintergrund. Er krallt sich an den abschüssigen Esstisch oder verschmilzt mit dem Wandbild einer Paris-Karte und hält alle anderen mit seinem Instrumentenkoffer auf Distanz. Zumindest bis zu einem überraschenden Outing, aber auch das spielt Schadenberg angenehm zurückhaltend. So wie ohnehin nicht alles auf flotte Komödie ausgelegt ist an diesem Abend.

Leben im Kokon

Größere Abstände dehnen auch das Tempo der Inszenierung. Regisseurin Hentschel macht daraus eine Tugend. Die Ausweichmanöver der Schauspieler legen offen, dass die Figuren nur eine behauptete Nähe zueinander haben. Alle leben sie in einem Kokon und wissen von ihren Partnern und Freunden das Entscheidende nicht. Die Aufstellungssituation ermöglicht es der Regisseurin Hentschel zudem, die weibliche Komponente des Stücks stärker zu akzentuieren. Der Schlagabtausch der Männer sorgt für die Gags, doch der Text erzählt unter der Oberfläche vom Leiden der Frauen. Die Corona-Inszenierung holt das hervor.

Der Vorname 1 560 c Theater Baden Baden uUnter den Tisch gekehrt © Theater Baden-Baden

Catharina Kottmeier als Gastgeberin Elisabeth lässt den Männern über weite Strecken den Vortritt beziehungsweise stellt ihre Bewegungen rücksichtsvoll auf die der anderen ab. Bis sie sich zuletzt die 1,5 Meter im Zentrum nimmt und ihre Anklage an das Leben und die Beteiligten vorträgt. Kottmeier gelingt dabei die glaubwürdige Wandlung vom Anhängsel, das sich manchmal eine Süffisanz leistet, zur wütenden wie melancholischen Frau, die ihre verpassten Chancen beklagt. Lilli Lorenz als Vincents Freundin Anna hat es da schwerer. Ihre Figur ist als einzige nicht mit allen anderen verbunden und dient dem Stück lediglich als Katalysator für deren Konflikte. Gegen dieses Manko des Textes kann Lorenz wenig ausrichten. Sie tigert verloren über die Bühne – immerhin stimmig, weil auch Anna sich fragt, in welches Geflecht sie da hineingeraten ist.

Nennt ihn Corona!

Kleinere Schwächen leistet sich die Inszenierung. So raffiniert Regisseurin Hentschel die Corona-Umstände auf der Meta-Ebene adaptiert hat, so platt kommt dann manche direkte Anspielung rüber. Mit dem Wort Abstand wird gespielt, Corona – übersetzt: die Krone – schafft es auf die Liste der Alternativvorschläge für den Vornamen, Desinfektionsmittel kommt plakativ zum Einsatz. Da klebt das Virus am Holzhammer. Das Publikum verzeiht dies jedoch und hält es nach drei Monaten ohne Theater ebenfalls mit Billy Joel: "I'm so inspired by you / That hasn't happened for the longest time".

 

Der Vorname
von Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière
Regie: Katrin Hentschel, Bühne/Kostüme: Joséf Halldórsson, Dramaturgie: Kekke Schmidt.
Mit: Catharina Kottmeier, Holger Stolz, Patrick Schadenberg, Sebastian Mirow, Lilli Lorenz.
Premiere am 26. Juni 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-baden-baden.de/

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