Ein Käfer, gefangen in der Blase

von Verena Großkreutz

29. Juni 2020. Ein merkwürdiges Monster amöbt sich da im Schneckentempo einmal quer über den Kunstrasen. Seine Außenhaut besteht aus unzähligen Stofftieren aller Größen – doch nicht aus niedlichen Plüsch-Käfern, wie man es – wenn schon, denn schon – im Fall von Kafkas "Verwandlung" erwarten würde, sondern aus Teddybären. Solche, die man sich auf der Kirmes schießen kann. Manchmal reckt sich eine menschliche Hand heraus aus dem unförmig wabernden Kuschelmeer, hangelt ein bisschen am Hinweisschild "Bitte bis hier vorfahren!", saugt sich an den Betonsäulen des Parkhauses fest. Ein hübsches, freundlich wirkendes Monster ist das, aber was sollen die Teddybären? Verweis auf die ödipale Phase, die Gregor Samsa nie überwinden konnte? Es bleibt stumm, das Schmuse-Monster. Denn es dient nur als bildlicher Kontrapunkt zum Text, den das Ensemble Lokstoff dramatisch befeuert und farbig durchleuchtet artikuliert und in Szene setzt.

Zeitlos aktuelles Thema: soziale Isolation

Lokstoff ist ein Stuttgarter Theaterkollektiv, das keine feste Spielstätte braucht, weil es in der Regel öffentliche Räume nutzt, um – wie es sagt – Kunst und Realität ganz direkt aufeinandertreffen zu lassen. Und das tut es stets gesellschaftskritisch. Für diese Corona-Zeiten hat es sich Kafkas Meistererzählung vorgenommen. Es geht hier wie dort schließlich um soziale Isolation, außerdem um Ereignisse, die alles mit einem Schlag verändern. Und die anderen Themen – Abwesenheit von Empathie und das Prinzip Ausbeutung – sind ohnehin zeitlos. Gregor Samsa, verwandelt in einen Riesen-Käfer, hat seine Funktion als Familienernährer verwirkt.

VorherNachher1 560 FrederikLaux uIsolationsexperiment auf dem Parkdeck: "Vorher/Nachher" © Frederik Laux 

Lokstoff widmet sich diesem Stoff schon zum zweiten Mal. 2007 wurde das Publikum im Bus zu allerlei Orten in Stuttgart transportiert: zum Hoppenlau-Friedhof, zu einer Bus-Waschanlage, zum Mercedes-Benz-Museum und so weiter. Jetzt spielt „Die Verwandlung“ im Parkhaus. Es gibt Auto-Theater auf dem Parkdeck des Breuninger-Kaufhauses, mitten in der Stadt. Ein altes, kleines offenes Parkhaus, durch das der Wind röhrt und das den Großstadtlärm einsaugt. Zwischen den Betonsäulen ist nun also Kunstrasen ausgerollt, umrahmt von roten Kunsttulpen. Drumherum hockt man in Autos oder auf Klapphockern.

Es ist vielleicht nicht der Ort, an dem Kafka am besten wirken kann. Aber dank Autoradios und Kopfhörern und Prägnanz der SchauspielerInnenzungen wird das gesprochene Wort so deutlich übertragen, dass nur wenig von Kafkas sorgfältig aufgebauten, fein rhythmisierten Satzgefügen verlorengeht. Und Lokstoff hält sich sehr genau ans Wort. Überführt es in Bewegung und oft sinnhafte Bildlichkeit, ohne den Zwang, szenisch alles eins zu eins umsetzen zu müssen. Die Prosa teilt sich das Ensemble auf, bei sonstiger klarer Rollenzuweisung.

Corona-beatmete Superbubbles

Und weil man derzeit alles künstlerisch in ein Format bringen muss, das den Corona-Hygiene-Vorschriften entspricht, hat sich Lokstoff etwas Witziges einfallen lassen. Auf dem Kunstrasen treten die ProtagonistInnen im Innern transparenter Wasserlaufbälle auf, umschlossen also von riesigen Bubbles, die sich zueinander oder parallel bewegen, dann voneinander wegdriften, mal hektisch angetrieben werden, mal phlegmatisch auf der Stelle brüten.

VorherNachher2 560 FrederikLaux uSie konnten beisammen nicht kommen, obwohl die Sehnsucht sie rief... © Frederik Laux

Jeder in seiner Blase, schön voneinander getrennt: die Samsa-Mutter mit Schirmchen, der Samsa-Papa mit Rollator, später nur noch mit Stock und dann ganz ohne Gehhilfe – klar: je mehr Gregor verkümmert, desto stärker werden Vater, Mutter und Schwester. Die Schwester im Tutu tänzelt ballettös auf Spitze, und der Prokurist bewegt seinen Ball im Stechschritt und untermalt die Szenen per Mini-Keyboard mit sphärischen Klängen und zackigem ¾-Takt.

Dystopische Atmosphäre verbreitet das Bühnenpersonal in weißen Schutzanzügen, das mit Laubbläsern immer wieder Frischluft hineinpumpt in die Plastikblasen. Corona-Beatmung? Irgendwann nutzt sich die Idee mit den Superbubbles freilich ab, es wird etwas eintönig. Und erwartbar ist, dass nach Gregors Ende die Familie befreit aussteigt aus ihren Kugelzellen. Aber dennoch: Der geniale und lebendig gesprochene Text trägt den Abend, wie auch einige choreographische Details berücken: Gregor, der mit seinem Körper die Grenzen der Riesenblase auslotet, sich ihrer Wölbung dehnend anpasst. Gregor, der auf seinem Cello sehnsüchtige Melodien spielt, um dann in akrobatischer Verknäulung mit dem Cello zur Skulptur zu verschmelzen. Schön!

 

Vorher/Nachher – die Verwandlung der Welt
Ein Auto-Theater im Parkhaus frei nach Franz Kafka
Regie: Wilhelm Schneck, Ausstattung: Maria Martinez Pena, Choreographie: Bernardo San Rafael, Dramaturgie: Werner Kolk, Alexa Steinbrenner, Musik: Thorsten Puttenat.
Mit: Frank Deesz, Hannah Jasna Hess, Kathrin Hildebrand, Natanael Lienhard, Bernardo San Rafael, Sebastian Schäfer.
Premiere: 29. Juni 2020
Dauer: 75 Minuten, keine Pause

www.lokstoff.com

 

Kritikenrundschau

"Zugegeben, Kafkas Erzählung mit Corona in Verbindung zu bringen, ist gewagt", findet Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (30.6.2020). Der Abend habe zunächst Anlaufschwierigkeiten. Allmählich aber werde das Bild einer Kleinfamilie mit Schrullen und Marotten greifbar. "So schnell wird man aussortiert, wenn man nicht mehr nützlich ist, lässt sich dieser Abend deuten, bei dem die Menschen nicht zusammenkommen, weil jeder eingesperrt ist in seinen Ballon – und sich damit selbst am nächsten. Aber auch das Publikum kann den Figuren nicht wirklich nahe kommen." Die Geschichte entwickle sich in erster Linie über die Sprache, die durchs Autoradio dringt.

Der Abend sei mehr ein Spiel mit Assoziationen denn ein ausgreiftes Bühnenstück, beschreibt es Silke Arning auf SWR2 (30.6.2020). Die Inszenierung auf dem Stuttgarter Parkdeck erinnere zwischenzeitlich an einen Hochsicherheitstrakt. "Immer dann, wenn Mitarbeiter*innen in weißen Schutzanzügen mit einer Art Staubsauger bewaffnet, die Luft in den Blasen ablassen oder neu befüllen."  Dabei entstünden irritierend schöne Bilder. Allerdings: "Die Wirklichkeit ist viel grotesker."

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