Hallo, Welt!

von Jan Fischer

Braunschweig, 5. Juli 2020. Mit brachialer Gewalt ballt sich ein Sturm zusammen, knallen Wellen gegeneinander, brechen, es knackt und rattert und rauscht und der Himmel wird immer dunkler: Eine Naturgewalt, gegen die sich ein Mensch nicht durchsetzen kann, sondern einfach nur zuschauen und machtlos das Beste hoffen. Voldemārs Johansons Arbeit "Thirst" kommt einem fast vor wie eine Allegorie auf dieses verflixte Jahr 2020. Dabei ist sie denkbar einfach: Auf eine Leinwand im großen Haus des Staatstheater Braunschweig wird ein Loop eines Sturmes mitten im Atlantik projiziert, dazu kommt sein wuchtiger Sound so laut aus Lautsprechern, dass es rumort im Bühnengebälk. Aber dennoch: Die Gewalt des Sturmes und der rauen See sind durchaus hypnotisch, es ist schwer, sich von dieser Installation loszureißen.

Vor allem: kein Theater

Das Festival Theaterformen feiert in diesem stürmischen Jahr seine 30. Ausgabe – es ist gleichzeitig die letzte Ausgabe unter der Leitung von Martine Dennewald, die das Festival seit 2014 kuratiert. Und selbstverständlich ist in diesem Jahr alles anders. Aber: "Es ist, wie es ist", heißt es, irgendwo zwischen hoffnungsvoll und fatalistisch, in der Eröffnungsrede. "Wir versuchen, das Beste draus zu machen."

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Leere laute Landschaft: Voldemārs Johansons "Thirst" © M. Kolly

Als Anfang des Jahres klar wurde, dass ein Festival Theaterformen unter den gegebenen Umständen nicht wie geplant durchführbar sein würde, wurde eilig ein neues Konzept zusammengebastelt. "A Sea Of Islands" heißt das diesjährige Festivalmotto. Die Festivalleitung legt Wert darauf, dass die Theaterformen sich nicht damit begnügen, online abgefilmtes Theater zu zeigen: "Das Beste heißt auch, den Verlust, der sich nicht vermeiden lässt, nicht zu übertünchen", heißt es in der Eröffnungsrede. So sind für "A Sea Of Islands" von den eingeladenen Künstlern und Künstlerinnen ganz eigene, pandemietaugliche Arbeiten entstanden, die alles mögliche sein wollen – Installation, Performance, Dokumentarfilm – aber eben und vor allem: Kein Theater.

Flucht-Geschichten, nah gebracht

Ogutu Muraya, der mit "Fractured Memories" schon 2018 zum Festival eingeladen war, erzählt in seiner Videoarbeit "The Ocean Will Always Try To Pull You In" zwischen Märchen und Fluchtgeschichte vom Erreichen der magischen Insel Mayotte. Die ist magisch, weil sie zu Frankreich und damit zur EU gehört – die Nachbarinsel Ndzuwani, nördlich von Madagaskar, allerdings nicht, viele Menschen starben bei dem Versuch, Mayotte zu erreichen.

In "Granma. Posaunen aus Havanna" hat die Gruppe Rimini Protokoll Kubaner und Kubanerinnen der zweiten Generation nach der kommunistischen Revolution zu deren Auswirkungen befragt. Die Inszenierung kommt in Form von Interviews, Fotos und Briefen per Post daher, ebenso wie "My Dear Prison Officer", das ein Gedicht der iranischen Autorin Negar Rezvani enthält, die aufgrund der australischen Immigrationspolitik sechs Jahre in einem Flüchtlingslager auf der dem Kontinent vorgelagerten Insel Nauru verbringen musste.

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Blechbläser-Briefe: "Granma. Posaunen aus Havanna" von Rimini Protokoll © Ute Langkafel

Marlene Monteiro Freitas hat in "Cattivo" eine Installation aus hunderten von Notenständern gebaut, eine Art Wunderwelt aus Wäldern, Lichtkugeln, Babys, Spiegeln und unerwarteten Sounds und Liedern, durch die Festivalbesucherinnen und Besucher mit Plastiküberziehern an den Schuhen flanieren können. Laila Soliman inszeniert mit den aus dem Sudan geflüchteten, in Soltau lebenden Freundinnen Yodit Akbalat und Abir Omer "Wanaset Yodit", eine performative Installation, in der je ein Besucher oder eine Besucherin mit den beiden per Videoanruf Kaffee trinken kann – und in diesem intimen Rahmen mit den beiden über Yodit Akbalats dramatische Fluchtgeschichte sprechen.

Flaschenpost mit frankiertem Rückumschlag

Eine der interessantesten Arbeiten ist "A Thousand Ways" der Gruppe 600 Highwaymen aus den USA. Hier begegnen sich zwei Fremde – zwei Menschen, die zufällig zur selben Zeit die Aufführung gebucht haben – und lernen sich gute anderthalb Stunden lang kennen, allein an einem Tisch getrennt durch Plexiglas, anhand von Konversationskarten, die in zehn Akte unterteilt sind. In den Aufgaben geht es darum, gemeinsam Formen zu erschaffen, eine Karte der Stadt zusammenzusetzen und sich gegenseitig besondere Orte darauf zu zeigen, sich in den oder die andere einzufühlen, sich Geschichten zu erzählen. Nach den zehn Akten und unzähligen Karten und Aufgaben stellt sich tatsächlich so etwas wie Intimität ein und ein, wenn auch verzerrtes, Bild des oder der anderen.

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Berührung mit Abstand: "A Thousand Ways" der 600 Highwaymen © Andreas Greiner Napp

Das Motiv, das sich durch die meisten der Beiträge dieser Jubiläumsausgabe der Theaterformen zieht, ist dem Motto "A Sea Of Islands" entsprechend: Inseln, die einsam, aber doch vom Meer umfangen in den Ozeanen liegen. Viele der Inszenierungen legen es auf Kommunikation an, es geht darum, in irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen, irgendwie ein verzweifeltes "Hallo, Welt!" von der eigenen Insel über die Einsamkeit der fast unendlichen Wasserflächen zu rufen.

In "Wanaset Yodit" ist es das gemütliche Ritual des gemeinsamen Kaffeetrinkens, wenn auch getrennt durch einen Bildschirm, das die Einsamkeit durchbrechen soll. In "A Thousand Ways" geht es um nichts anderes, als sich ein Bild des oder der anderen zu machen – und im Gegenzug auch etwas von sich selbst preiszugeben. Die Briefsendungen von "My Dear Prisoner" und "Granma" haben etwas von Depeschen von weit entfernten Inseln – ein wenig wie eine Flaschenpost, die da zu einem in den Briefkasten getrieben kommt. Mit dem Unterschied, dass ihnen ein frankierter Rückumschlag und ein Stift beiliegt – wer will, kann auf die Briefe antworten, die dann wiederum den Künstlern und Künstlerinnen weitergeleitet werden.

Einfach Tiefe herstellen

Damit ist das Festival Theaterformen stark gestartet – so gut es zur Zeit eben geht. Aber vor allem nicht in die Falle getappt, einfach Theateraufführungen abzufilmen. "Wir tun nicht so, als gäbe es hier Theater", heißt es auch konsequent in der Eröffnungsrede des Festivals. Stattdessen gibt es eigene Formen, die es oft schaffen, Kommunikation oder Intimität herzustellen, oder die es auf jeden Fall versuchen. Oft sind das Formen, die, vielleicht auch dem schnellen Umbau des Festivalkonzeptes geschuldet, konzeptuell simpel sind wie beispielsweise "Thirst" – was aber nicht heißt, dass sie es nicht schaffen würden, Tiefe herzustellen.

Ganz sicherlich sind es aber besondere Formen, die diese Jubiläumsausgabe des Festivals bietet – ein Abschied von Martine Dennewald, der den Besuchern und Besucherinnen in Erinnerung bleiben wird. Denn schließlich ist es nicht einfach, aus der aus Not gebotenen Vereinzelung eine Tugend zu machen. Aber gerade das ist den Theaterformen gelungen: Schließlich wäre das Gespräch mit Yodit Akbalat und Abir Omer in einer großen Kaffeerunde nur halb so intim, wäre das Gedicht von Negar Rezvani vielleicht nie im heimischen Bücherregal gelandet, hätte man vielleicht nie gewusst, aus welchem kleinen Örtchen diese eine, eben noch fremde Theaterbesucherin kommt und woher die Narbe an ihrer Unterlippe stammt. Ja, jeder Mensch ist eine Insel, zur Zeit vielleicht mehr als jemals zuvor. Aber auch wenn er stürmisch sein mag: Wir teilen uns alle einen Ozean.

 

Thirst
Regie, Produktion: Voldemārs Johansons , New Theatre Institute of Latvia
Installation, Dauer: frei

The Ocean Will Always Try To Pull You In
Konzept, Regie, Text: Ogutu Muraya, Sounddesign: Luigi MK, Illustration: Lucia Marneanu, Videoschnitt: Radu Bogdan, Dramaturgie: Leila Anderson, Regieassistenz: Esther Kamba, Produktionsleitung: Caroline Froelich: Übersetzung Bettina Ihde
Videoarbeit, Dauer: ca. 20 Minuten

Granma. Posaunen aus Havanna
Konzept, Regie: Rimini Protokoll, Stefan Kaegi
Briefsendung mit Texten von Milagro Álvarez Leliebre, Daniel Cruces-Pérez, Christian Paneque Moreda und Diana Sainz Mena

My Dear Prison Officer
Konzept: Silke Huysmans, Hannes Dereere
Briefsendung mit einem Gedicht von Gedicht Negar Rezvani, Übersetzung Saba Vasefi

Cattivo
Künstlerische und Technische Leitung: André Calado, Andreas Merk, Marlene Monteiro Freitas, Miguel Figueira, Tiago Cerqueira, Yannick Fouassier
Produktion: P.OR.K . BoCA – Biennial of Contemporary Arts, Produktionsleitung: Lukas Pergande Distribution: Key Performance Koproduktion: Teatro Nacional São João, São Luiz Teatro Municipal
Installation, Dauer: frei

Wanaset Yodit
Konzept, Regie: Laila Soliman
Konzept, Bühne: Moïra Gilliéron Konzept, Sound Design: Nancy Mounir, Video editing: Ahmed Al Saaty, Camera: Nancy Mounir, Swantje Möller Übersetzung: Khalda Yagoob, Katherine Halls, Panthea, Produktionsleitung: Swantje Möller, Franziska Schmidt, Produktion: produktionsDOCK Koproduktion: Festival Theaterformen, Kaserne Basel , Theater Bremen
Von und mit Yodit Akbalat und Abir Omer,
Installation, Dauer: ca. 30 Minuten, keine Pause

A Thousand Ways
Konzept, Regie: Abigail Browde, Michael Silverstone, Übersetzung: Anna Johannsen Produktionsleitung: Lena Lappat, Management: Thomas O. Kriegsmann, Ursprünglich konzipiert für: Temple Contemporary at Temple University Unterstützt von The Pew Center for Arts & Heritage, Philadelphia
Dauer: ca. 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause 

 

Mehr dazu: in der taz schreibt Jens Fischer über das Festival.

 

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