Ein Ort am Wasser

von Falk Schreiber

7. Juni 2020. "Hat man Granada verlassen und nähert sich Fuente Vaqueros, wird die Landschaft lieblicher", beschreibt Roberto Ciulli eine Reise zum Geburtsort Federico Garcia Lorcas. "Hohe Bäume und eine dichte Vegetation verraten die Nähe von Wasser. Eine ungewöhnliche Landschaft für Granada! Wasser ist in dieser Gegend nicht nur ein Teil der Landschaft – sein Vorhandensein bestimmt die Bräuche, Charaktere, die Arbeitsweise, das tägliche Leben, die Geschichte eines Ortes."

Reiche Annäherung

Entstanden ist der kurze Reisebericht für das Programmheft zu Ciullis Inszenierung von "Bernarda Albas Haus", 1968 in Göttingen. Der Abend ist eigentlich längst vergessen, an der kurzen Programmheftpassage erkennt man aber den genauen Blick, den der Regisseur auf geographische Gegebenheiten pflegt. Vor allem aber erkennt man das von Ciulli seit 1980 geleitete Theater an der Ruhr wieder: ein ehemaliges Heilbad im Mülheimer Raffelbergpark, weitab vom Stadtzentrum direkt an der Grenze zu Duisburg, ein arkadischer anmutender Ort, ein Ort am Wasser.

Cuilli DerFremdeBlick CoverMan versteht Ciullis Theater ein bisschen besser, wenn man sich auf das Ambiente des Raffelbergparks einlässt, so wie Ciulli vor 52 Jahren versuchte, Lorca zu verstehen, indem er sich in das andalusische Provinznest begab.

Der Lorca-Reisebericht ist Teil der umfangreichen Monographie "Der fremde Blick – Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr", mit dem Alexander Wewerka und Jonas Tinius versuchen, diesen eigenwilligen Theatermacher zu fassen auf knapp 1300 Seiten, über zwei Bände verteilt.

Die Autoren entscheiden sich über weite Strecken für eine (hervorragend edierte) Materialsammlung: Programmzettel finden sich hier ebenso wie unzählige Kritiken, Fotomaterialien oder eine Konzeptionsskizze, mit der Ciulli sich einst bei der Stadt Mülheim um die Nutzung des Raffelbergparks bewarb – und so seine gerade angelaufene überregionale Starregisseurskarriere bewusst beendete.

Singulärer Theatermacher

Tatsächlich beschreibt diese überbordende Sammlung anschaulich, wie Ciullis Leben bislang verlief, ein Leben, dessen einzige Konstante vielleicht darin besteht, Entwicklungslinien abzubrechen, Strukturen auf Null zu stellen, von vorn anzufangen: geboren 1934 in Mailand in eine großbürgerliche, wenn auch Thomas-Mann-haft zerfallende Familie, Promotion in Philosophie, erste Erfolge mit dem Zelttheater Il Globo, dann die Übersiedlung in die Bundesrepublik, LKW-Fahrer, Hilfsarbeiter, schließlich Bühnenarbeiter am Deutschen Theater Göttingen und von dort aus die Rückkehr zur Regie, mit Leitungsfunktionen in Köln und Düsseldorf. Ein Theaterleben so reich, dass schon das ein ganzes Buch hergeben würde, und dabei steht man erst ganz am Anfang.

Theater als Alternativstruktur

Der wichtigste Punkt, nämlich die Gründung des Theaters an der Ruhr in Mülheim als Alternativstruktur zum Stadttheatersystem zwischen freier Szene und Landestheater mit Abstecherverpflichtung, ist gleichzeitig End- und Kulminationspunkt dieser biographischen Entwicklung. Ab hier wird "Der fremde Blick" jedoch auch unschärfer, wird Theater in langen Gesprächen zwischen Ciulli, Tinius und dem ehemaligen Theater-an-der-Ruhr Hospitanten Navid Kermani als Teildisziplin der Anthropologie verstanden. Und damit kristallisiert sich eine Leerstelle des Bandes heraus: Die Herausgeber nähern sich einem Theaterkünstler über dessen Verständnis, wie man Theater machen kann, aber über seine eigene Ästhetik erfährt man nur in Seitensträngen etwas. Schon ganz früh, schon bei Göttinger Inszenierungen etwa wird Ciulli immer wieder als Vertreter der Werktreue missverstanden, eine Einordnung, gegen die er sich bis heute wehrt. Aber wie sich dieses Missverständnis halten konnte, bleibt im Dunkeln.

Einer der wenigen Punkte, an denen "Der fremde Blick" tatsächlich ästhetisch argumentiert, ist, wenn der Band ein zentrales Motiv des in Mülheim gepflegten Theaters thematisiert: das Clownstheater. Erklärt wird das mit Ciullis langjährigem Interesse an der Commedia dell'arte, was sicher nicht falsch ist, gleichzeitig aber auch unterschlägt, dass man es hier mit einer starken ästhetischen Setzung zu tun hat, zwischen Groteske, Übertreibung und Perversion, die wohl mit dafür verantwortlich ist, dass Ciulli mancherorts heute als von gestern gilt. Und die seine seltenen Inszenierungen an großen Häusern eigenartig spröde erscheinen lassen, 2006 einen desillusionierten "Kirschgarten" am Hamburger Schauspielhaus etwa.

Modellcharakter

Aber vielleicht ist eine ästhetische Kategorisierung auch der verkehrte Zugriff? Vielleicht ist ein struktureller Blick in diesem Fall der interessantere, vielleicht sollte man das besondere Modell des Theaters an der Ruhr stärker in den Blick nehmen, eines Theaters, das gerade mal zwei Premieren pro Spielzeit inszeniert und sich ansonsten Zeit nimmt für Reisen und für Recherchen, ein Theater des "fremden Blicks"?

Eigentlich hätte der Band schon voriges Jahr erscheinen sollen, zum 85. Geburtstag des Theatermachers. Aber während der Recherche wurde klar, dass es hier inhaltlich um viel mehr geht, nicht zuletzt darum: sich nicht in Deadlines einsperren zu lassen, Themen bis zum Ende zu recherchieren. "Der fremde Blick" kommt rund zwölf Monate später; im Gesamtkontext des Theaters an der Ruhr als ein Theater, das sich Zeit für umfangreiche Arbeiten nimmt und sich den Produktionszwängen immer wieder entzieht, erscheint dieser umfassende, überbordende, verschwenderische Doppelband aber genau im richtigen Moment.

 

Der fremde Blick – Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr
von Alexander Wewerka und Jonas Tinius (Hg.)
Alexander Verlag
1280 Seiten, 35 Euro

 

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