Großmutter, Enkelin und die Babyboomer

von Esther Slevogt

Berlin, 17. Mai 2007. Es ist zuerst der zärtliche Ton, der irritiert. Denn die Stimmen der beiden Frauen klingen, als lägen dicke Watteschichten über ihren Worten. "Du hättest nicht kommen müssen!", sagt die Großmutter leise.

Die Enkelin ist aber gekommen. Denn sie kommt jedes Jahr, wenigstens zu Weihnachten, und zwar aus Helsinki in ein Dorf an der russischen Grenze. Sie arbeitet in der Medienbranche – soviel zumindest kann man den kargen Hinweisen entnehmen, mit denen die finnische Dramatikerin Maria Kilpi ihre Figur konturiert.

Förderpreis für "Wie Ärgerlich!" von Maria Kilpi
Vielleicht sind ihre Eltern tot und diese Großmutter ihre letzte lebende Angehörige. Es scheint, irgendein Unglück versteckt sich hinter der ländlichen Geborgenheit, dem Gerstenbrot der Großmutter und den Spaziergängen in der Natur. Doch die 1979 in Helsinki geborene Kilpi lässt in ihrem Stück "Wie Ärgerlich!" fast alles im Ungewissen. Am Ende weiss man nur eins: ein Dialog zwischen den Generationen findet nicht statt.

Gestern Abend hat sie nun den Förderpreis für neue Dramatik gewonnen, der nicht nur mit 5.000 Euro dotiert ist, sondern dem im Dezember eine Uraufführung des Stücks im Berliner Maxim Gorki Theater folgen wird. Das Stück sei eine genaue Studie über die extrem sich verändernden Beziehungen zwischen den Generationen, sagte Jurorin Andrea Koschwitz in ihrer Laudatio. Verhandelt werde auch die Erzählbarkeit von Erinnerung – im vorliegenden Fall allerdings eher die Unmöglichkeit.

Denn diesmal ist die junge Frau mit der Videokamera zur Großmutter gekommen und möchte sie zum Reden über die Familiengeschichte bringen. Die Vorfahren nämlich lebten einst auf der anderen Seite des Flusses, wo heute Russland ist. Doch 1945 wurde die finnische Bevölkerung von dort vertrieben – als Strafe dafür, dass Finnland 1941 als Alliierter Nazideutschlands in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war. Nach Kriegsende musste Finnland große Gebiete an die Sowjetunion abtreten und entging nur knapp seiner Eingemeindung in den kommunistischen Ostblock.

Doch der zaghafte Versuch der Enkeltochter, die Großmutter zum Reden zu bringen, misslingt, wird verschluckt von einer seltsam repressiven Fürsorglichkeit der alten Dame, einem sturen Beharren auf dem Reden über das Wetter. Am Ende kehrt die junge Frau unverrichteter Dinge nach Helsinki zurück. Der Krieg und seine Folgen haben sich weit hinter die Linien des Sagbaren zurückgezogen. Und doch fällt sein Schatten immer noch bis in die Gegenwart.

"Die Mountainbiker" von Volker Schmidt
In Volker Schmidts Stück "Die Mountainbiker" liegen die Dinge ähnlich und trotzdem völlig anders. Hier geht es um die in die Jahre gekommene Generation der Babyboomer des Wirtschaftswunders. Aufgewachsen in einem Klima, das den Sinnverlust nach dem Ende des Nationalsozialismus mit Wohlstand kompensierte, holt sie an der Schwelle zum Alter nun dieser Sinnverlust ein, und es kehrt Leere ein in die Designerwohnungen und gepflegten Gärten in den Speckgürteln der großen Städte. Langsam ersticken die Gutsituierten unter der Watteschicht des Wohlstands.

Dagegen helfen auch nicht pseudojugendliche Aktivitäten wie das Mountainbike-Fahren. Der 1976 geborene Österreicher, Sieger beim diesjährigen Heidelberger Stückemarkt, schickt drei Paare ins Rennen: Anna und Manfred, ein Ehepaar Ende Vierzig, Manfreds besten Freund Albert und dessen neue Freundin Franziska. Dann gibt es noch Franziskas Sohn, den fünfzehnjährigen Thomas, der dauernd Tote zeichnet, und Lina, die pubertierende Tochter von Anna und Manfred.

Und während sich die Misere der Alten zunächst nur in den Verschrobenheiten der Kinder niederschlägt, verdunkelt sich das Bild von Szene zu Szene. Immer grotesker verwebt Volker Schmidt die Paare und ihre Geschichten miteinander. Schliesslich praktiziert Linas Mutter Anna mit dem jungen Thomas makabre Sexspiele, und am Ende gibt es einen Toten.

Dabei wickelt Schmidt die hereinbrechenden Katastrophen in eine Folie aus schwarzem Humor, die gelegentlich eine Spur kaltschnäuzig wirkt. Zu leichten Herzens liefert er seine Figuren ans Messer des Gelächters. Handwerklich perfekt gebaut, vermisst man an diesem Enkel von Arthur Schnitzlers "Der Reigen" (und Sam Mendes' Vorstadt-Alptraum "American Beauty") ein wenig Mitgefühl für die Figuren und das wachsende Elend, welches ihnen die groteske Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz bereitet. Schmidt bereitet das Elend locker und mit einiger zynischen Virtuosität auf und vor uns aus. Man lacht und wünscht doch im selben Moment, das Lachen bliebe einem wenigstens ab und zu im Halse stecken.

 

Stückemarkt IV & V

Wie Ärgerlich
von Maria Kilpi

Mountainbiker
von Volker Schmidt

www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen

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